Der Gang in die Öffentlichkeit, er fällt ihnen nach wie vor schwer. Heute wird ihr Buch vorgestellt, und schon lange vor Beginn der Pressekonferenz sitzen sie in der ersten Reihe, die Töchter und Söhne, die Ehefrauen der vom NSU Ermordeten. Abdulkerim Simsek zum Beispiel, der Sohn des Blumenhändlers Enver Simsek, das erste Mordopfer. Der 26-jährige Student zupft immer wieder an seinem dunklen Anzug, blickt sich nervös um. Auch Gamze Kubasik ist da, Tochter von Mehmet Kubasik, erschossen am 4. April 2006 in seinem Dortmunder Kiosk.
"Natürlich ist es für uns sehr schwer, denn es war nicht immer so, dass wir als Opfer angesehen wurden. Wir waren immer die Beschuldigten davor. Mein Vater wurde brutal ermordet, das kann ich nie vergessen, und das werde ich nie akzeptieren können und das ist sehr schwer."
Die Namen der mutmaßlichen Täter dürfte jeder in Deutschland kennen – auch durch den laufenden NSU-Prozess - die Namen der Opfer und der Hinterbliebenen sind nach wie vor nur wenigen bekannt. Obwohl sie die einzigen waren, die die richtigen Schlüsse aus der Mordserie zogen – ihre Väter und Ehemänner wurden erschossen, weil sie schwarze Haare und dunkle Augen hatten. Das Motiv: purer Rassismus. Abdulkerim Simsek:
"Mein Vater war ja das erste Opfer. Also am Anfang wussten wir das nicht. Wir dachten, es ist vielleicht eine Mafia, die mit Erpressungsgeldern arbeitet. Aber nach dem dritten, dem vierten Opfer wussten wir: Das geht in die rechte Szene."
Lange Jahre der Ungewissheit verbunden mit Verdächtigungen und Unterstellungen, auch seitens der Sicherheitsbehörden. Dann vor drei Jahren der Schock und die Gewissheit: In Deutschland konnten Rechtsterroristen jahrelang unerkannt morden. Das wirft Fragen nach der eigenen Identität auf: Bin ich in Deutschland eigentlich erwünscht? Gehöre ich dazu?
"Vor einem Jahr habe ich die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Weil, bis dahin fühlte ich mich nicht richtig verwurzelt in Deutschland. Aber seitdem das rausgekommen ist, stehe ich dazu. Dass man stärker ankämpfen muss gegen Rechtsextremismus, und auch deswegen habe ich die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen."
Gamze Kubasik und ihre Mutter nehmen an den Verhandlungstagen teil
"Ab diesem Zeitpunkt denkt man sich auch, gehöre ich dazu. Woran man jahrelang nicht gedacht hat. Weil das ganz normal war für mich. Das ist meine Heimat, ich bin hier aufgewachsen. Dann kommt nach all den Jahren die Frage: Bin ich hier zuhause. Und verzweifle dann auch manchmal. "
Dem NSU-Prozess in München beizuwohnen, die schweigende Angeklagte Beate Zschäpe im Gerichtssaal zu erleben, ist Herausforderung und Zumutung zugleich für die Hinterbliebenen. "Ich war nur einmal da", erzählt Abdulkerim Simsek, "habe es nicht ausgehalten". Zu groß die Wut, er konnte sich kaum zusammenreißen. Anders Gamze Kubasik. Sie und ihre Mutter versuchen so oft wie möglich im Gerichtssaal zu erscheinen.
"Ich tu mir das an. Weil das sehr wichtig ist für mich. Das bin ich meinem Vater schuldig. Ich muss da sein als Tochter. Meine Mutter muss da sein als seine Ehefrau. Wir müssen uns zeigen, wir müssen sagen: Wir sind hier."
Barbara John ist die Ombudsfrau für die Hinterbliebenen, Herausgeberin des heute erschienenen Buches, in dem die Töchter und Söhne, die Ehefrauen und Brüder ihre Geschichte erzählen. Sie kritisiert das umfassende Behördenversagen beim NSU - kein einziger Verantwortlicher in Polizei und Verfassungsschutz sei zur Rechenschaft gezogen worden, sagt John.
"Nicht bei einem ist eine Anzeige wegen eines Anfangsverdachts auf Strafvereitelung eingegangen. Vielleicht kann man das gar nicht. Aber dann muss man sagen: Wir können diese großen Sicherheitsapparate gar nicht mehr kontrollieren. Das ist auch eine Aussage. Unkontrollierbare Sicherheitsapparate, das geht gar nicht."
Eine ungewöhnliche Aussage für ein aktives CDU-Mitglied. Die Beschäftigung mit den NSU-Hinterbliebenen, mit dem Versagen der Sicherheitsbehörden hat die Christdemokratin Barbara John radikalisiert.