Sozialleistungen
Hintergründe zur Debatte über Bürgergeld für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine

Die Debatte über Sozialleistungen für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine ist nicht neu. Nun hat sie wieder Fahrt aufgenommen. Wir bilden relevante politische Stimmen ab und ordnen sie mit Fakten ein.

24.06.2024
    Drei aus der Ukraine stammende Frauen gehen in der Landeserstaufnahmestelle für Flüchtlinge im baden-württembergischen Ellwangen zu ihrem Quartier.
    Kein Bürgergeld mehr für neu ankommenden Geflüchtete aus der Ukraine? Darüber wird seit Tagen diskutiert (Symbolbild). (dpa / Stefan Puchner)

    Die politischen Positionen

    Ausgelöst wurde die jüngste Debatte von Brandenburgs Innenminister Stübgen. "Es passt nicht zusammen, davon zu reden, die Ukraine bestmöglich zu unterstützen und im gleichen Atemzug fahnenflüchtige Ukrainer zu alimentieren", sagte der CDU-Politiker dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Die Beschäftigungsquote von Ukrainern sei verschwindend gering, weil das Bürgergeld zum "Bremsschuh für die Arbeitsaufnahme" geworden sei.
    FDP-Generalsekretär Djir-Sarai sagte daraufhin der "Bild"-Zeitung: "Neu ankommende Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine sollten künftig kein Bürgergeld mehr bekommen, sondern unter das Asylbewerberleistungsgesetz fallen." Die Streichung würde Arbeitsanreize schaffen. Seine Parteikollegin, die Europaparlamentarierin Strack-Zimmermann, sagte im Deutschlandfunk, man müsse nicht nur fördern, sondern auch fordern. Es gebe allerdings für Frauen häufig das Problem, dass sie zwar arbeitswillig seien, es aber an Kinderbetreuung mangele. Deutschland sei aufgefordert, in den Ländern und in den Kommunen Anreize zu schaffen, dass Ukrainer in Arbeit kämen. Dass genug Arbeit da ist, sei gar keine Frage.
    Der arbeitsmarktpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Rosemann, kritisierte dies: "Die Behauptung, das Bürgergeld verhindere die Arbeitsaufnahme von Ukrainern, ist falsch." Erst durch das Bürgergeld und die Arbeit der Jobcenter hätten ukrainische Flüchtlinge Zugang zu arbeitsmarktpolitischer Unterstützung. Auch die Grünen wiesen den Vorschlag zurück. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sagte im Interview der Woche des Deutschlandfunks, sein Ziel sei, "dass diejenigen, die als Geflüchtete im Bürgergeld sind, besser und schneller in Arbeit kommen müssen". Bereits jetzt seien 187.000 ukrainische Geflüchtete in sozialversicherungspflichtiger Arbeit. Es wäre falsch, nun zu kürzen, so der Arbeitsminister. Durch Investitionen in die Arbeitsfähigkeit mache man Menschen beschäftigungsfähig.
    Die AfD in Brandenburg warf der CDU vor, ihre Positionen zu übernehmen. Aus der Linksfraktion in dem Bundesland kam die Forderung nach einem Rücktritt von Innenminister Stübgen. Dieser versuche, aufgrund "von rassistischen Stimmungen", Ukrainer in den Krieg zu schicken.
    Die BSW-Bundesvorsitzende Wagenknecht sagte der "Rheinischen Post", es sei schrecklich, wenn Menschen vor Krieg fliehen müssten. "Aber wer unseren Schutz in Anspruch nimmt, von dem kann man auch erwarten, dass er mit eigener Arbeit dazu beiträgt, die Kosten zu minimieren."

    Warum Bürgergeld für Ukraine-Flüchtlinge?

    In den ersten Monaten nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs hatten Ukraine-Flüchtlinge lediglich Anspruch auf Versorgung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Seit Juni 2022 können sie Leistungen der Grundsicherung (damals noch Hartz IV, heute Bürgergeld) erhalten. Begründet wurde dies unter anderem damit, dass sie direkt Anspruch auf einen Aufenthaltstitel haben und keine Entscheidung wie bei Asylbewerbern abwarten müssen.
    Geflüchtete Ukrainer dürfen hierzulande auch direkt arbeiten. Anspruch auf Sozialleistungen haben sie nur, wenn ihr Einkommen und gegebenenfalls ihr Vermögen nicht ausreichen, um die Lebenshaltungskosten zu decken. Auf der Internetseite des Bundesarbeitsministeriums heißt es: "Vermögen, das gegenwärtig nicht verfügbar ist, weil es sich in der Ukraine befindet (z. B. Immobilien), wird nicht berücksichtigt. Ist erhebliches Vermögen vorhanden, das auch verfügbar ist (z. B. Kontoguthaben, Bargeld), ist dies ab einer bestimmten Summe vorrangig zur Deckung des Lebensunterhalts einzusetzen."
    Im ersten Jahr des Bürgergeld-Bezugs werden auch die tatsächlich entstehenden Wohnkosten in voller Höhe übernommen, um die Konzentration auf die Arbeitsuche oder die Vorbereitung einer Arbeitsaufnahme - etwa durch eine Weiterbildung - zu ermöglichen. Danach werden die Kosten nur noch "in angemessener Höhe" getragen. Bei Heizkosten ist das von Anfang an der Fall.

    Zahlen für Deutschland

    Wie die Bundesregierung mitteilte, lebten im März 2024 laut Ausländerzentralregister rund 1,3 Millionen Menschen mit ukrainischer Staatsangehörigkeit in Deutschland. Die weitaus meisten von ihnen seien Kriegsflüchtlinge. Weiter hieß es, die Mehrheit der Schutzsuchenden seien Frauen und Kinder.
    Im Januar 2024 wurden den Angaben zufolge 718.000 ukrainische Geflüchtete in der Grundsicherung für Arbeitsuchende gezählt. Darunter waren 501.000 Menschen erwerbsfähige und 217.000 nicht erwerbsfähige Leistungsberechtigte. In der Regel seien das Kinder.

    Der europäische Vergleich

    Vor einigen Tagen beschlossen die EU-Staaten, Sonderregeln für den vorübergehenden Schutz von Ukrainern in der EU bis März 2026 zu verlängern. Betroffene müssen kein langwieriges Asylverfahren durchlaufen. Zudem haben sie unmittelbar etwa das Recht auf Sozialleistungen, Bildung, Unterkunft sowie auf eine Arbeitserlaubnis.
    In Deutschland erhalten Geflüchtete aus der Ukraine deutlich höhere Sozialleistungen als in vielen anderen Staaten Europas - das berichtete im Mai die "Welt am Sonntag" mit Verweis auf eine Analyse der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags im Auftrag der CDU-Abgeordneten Connemann.
    Ein alleinstehender Bürgergeld-Bezieher bekommt monatlich 563 Euro. Hinzu können unter anderem Zuschüsse für Miete und Heizung kommen. Die Niederlande zahlten demnach an Einzelpersonen pro Monat Beihilfen und Zulagen von 384,10 Euro, in Italien seien es 300 Euro, in Frankreich 426 Euro.
    Das sorgte schon damals für Diskussionen. Heute fordert unter anderem Baden-Württembergs Innenminister Strobl (CDU) einen Kurswechsel der Bundesregierung: "Möglicherweise haben wir auch deswegen besonders viele Ukrainer in Deutschland im Unterschied zu unserem Nachbarland Frankreich beispielsweise, weil es hier diese hohen sozialen Leistungen gibt, die es nirgendwo sonst in Europa gibt".

    FES-Zahlen widerlegen These von "Sozialleistungen als Hauptanziehungsmoment"

    Nach Angaben des EU-Statistikamtes Eurostat waren in den 27 EU-Staaten zuletzt rund 4,2 Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine registriert. Zahlenmäßig nimmt zwar Deutschland die meisten von ihnen auf, im Verhältnis zur Einwohnerzahl ist die Zahl in anderen Staaten jedoch deutlich höher. 
    Die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) sprach in dem Zusammenhang vor einigen Monaten von sechs "Magnetländern": In der Tschechischen Republik machten ukrainische Flüchtlinge mit 3,3 Prozent der Bevölkerung den höchsten Anteil aus. In Polen, Estland, Lettland, Litauen und Bulgarien waren es mehr als zwei Prozent der Bevölkerung, in Deutschland 1,3 Prozent. In den sechs Magnetländern gebe es jedoch wesentlich weniger Sozialleistungen und niedrigere Löhne. Das spreche gegen die These von den Sozialleistungen als Hauptanziehungsmoment und für den Arbeitswillen der Flüchtlinge, so die Friedrich-Ebert-Stiftung.

    Spürbare Unterschiede bei Anteil der Beschäftigten

    Allerdings gibt es deutliche Unterschiede bei der Arbeitsbeteiligung. Im September 2023 hatten den Angaben zufolge etwa in Dänemark 77 Prozent der ukrainischen Kriegsflüchtlinge eine bezahlte Beschäftigung gefunden, in Polen und Tschechien rund zwei Drittel, in den Niederlanden, Großbritannien und Irland über die Hälfte. In Deutschland waren es dagegen nur 19 Prozent. Diese Zahl ist mittlerweile zwar höher: Im Februar 2024 waren laut Bundesregierung 21 Prozent der Geflüchteten berufstätig. Deutliche Unterschiede bestehen aber weiterhin.

    Ziel in Deutschland: langsamere, aber nachhaltigere Integration

    Eine höhere Beschäftigungsquote könne aber auch mit einem höheren Anteil prekärer Jobs einhergehen, sagt Yuliya Kosyakova vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung im WDR. So wurde etwa in den Niederlanden die Zahl der beschäftigten Ukraine-Flüchtlinge mit rund 50 Prozent angegeben. Dort bedeute das zum Teil aber auch Arbeit nur für wenige Stunden im Monat auf Abruf oder eine Tätigkeit für eine Zeitarbeitsfirma, sagt Kosyakova. "Das ist auch nicht die Art von Arbeitsmarktintegration, die wir anstreben."
    Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ist die Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit. Diese setze auf eine langsamere, aber nachhaltigere Integration der Menschen, sagt Kosyakova.

    Jobcenter: prinzipiell gute Arbeitsmarktchancen für Ukrainer

    In einem aktuellen Bericht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung heißt es: Geflüchtete aus anderen Kriegs- und Krisenregionen als der Ukraine durchliefen im Regelfall ein längeres Asylverfahren, bevor sie zu Klienten der Jobcenter werden. In dieser Zeit konnten sie demnach teils schon etwas Deutsch lernen. Anders sei das bei ukrainischen Geflüchteten. Sie würden bereits kurz nach der Einreise von Jobcentern betreut und verfügten so nur selten über Deutschkenntnisse.
    Mehrheitlich attestierten die Jobcenter ukrainischen Geflüchteten zwar arbeitsmarktrelevante Kenntnisse und Fähigkeiten. Eine Vermittlung solle aber bereits mit grundständigen Deutschkenntnissen erfolgen. Und - wo möglich und sinnvoll - sollten die Geflüchteten weiter qualifiziert werden.
    43 Prozent der Jobcenter berichteten Anfang 2023, dass nicht genug Personal für die Beratung und Vermittlung von Geflüchteten zur Verfügung stehe. Außerdem erlebten Fach- und Führungskräfte die Bleibeabsichten von ukrainischen Geflüchteten oft als unsicher und vom Kriegsverlauf abhängig.
    Dies erschwere perspektivisches Arbeiten. Bei Geflüchteten aus anderen Herkunftsländern können Jobcenter eher von stabiler Bleibeabsicht ausgehen.

    Bundesregierung setzt auf "Job-Turbo"

    Im vergangenen Herbst hatte die Bundesregierung einen sogenannten "Job-Turbo" angekündigt, um Geflüchteten mit Bleibeperspektive eine schnellere Vermittlung in Arbeit zu ermöglichen. Wie die "Passauer Neue Presse" nun unter Berufung auf die Bundesarbeitsagentur berichtet, beendeten zwischen November vergangenen Jahres und Ende Mai dieses Jahres "im Rahmen des Jobturbos 32.794 Menschen aus der Ukraine ihre Arbeitslosigkeit" und begannen eine Beschäftigung oder Ausbildung.
    Hinzu kommen laut Arbeitsagentur diejenigen, die unter anderem direkt aus einer Maßnahme, etwa einem Integrationskurs, eine Beschäftigung aufnahmen. Demnach nahm die Zahl der Beschäftigten mit ukrainischer Staatsangehörigkeit in Deutschland seit Kriegsbeginn im Februar 2022 um 165.953 zu, darunter sind 127.028 sozialversicherungspflichtige Beschäftigte.

    Ökonom Fratzscher: "Niemandem wird es besser gehen, wenn Deutschland Geflüchtete schlechter behandelt"

    Dass dies noch ausbaufähig ist, dürfte kaum jemand bestreiten. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Fratzscher, forderte in dem Zusammenhang jedoch, nicht weniger Geld für Geflüchtete auszugeben, sondern mehr Anstrengungen für eine schnellere und bessere Integration in Arbeitsmarkt und Gesellschaft zu unternehmen.
    Dies sei eine riesige auch wirtschaftliche Chance, da sich das Arbeitskräfteproblem hierzulande in den kommenden Jahren massiv verschärfen werde, sagte der Ökonom dem "Redaktionsnetzwerk Deutschland".
    Diese Nachricht wurde am 18.06.2024 im Programm Deutschlandfunk gesendet.