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Ein Jahr Taliban-Regime in Afghanistan
Leben unter dem Schleier

Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan vor einem Jahr hat das Leben vieler Menschen sehr verändert. Besonders die Chancen und Freiheiten der Frauen haben sich unter den Geboten der Islamisten verschlechtert.

Von Silke Diettrich |
Laut einer Verordnung der Taliban sollen Frauen in der Öffentlichkeit ihr Gesicht bedecken, nur die Augen dürfen frei bleiben. Nicht alle Frauen in Kabul halten sich daran.
Laut einer Verordnung der Taliban sollen Frauen in der Öffentlichkeit ihr Gesicht bedecken, nur die Augen dürfen frei bleiben. Nicht alle Frauen in Kabul halten sich daran. (picture alliance / abaca / Oriane Zerak)
„Ich kann kaum den Moment beschreiben, als die Taliban die Macht übernommen hatten. Wir haben getanzt und den Sieg gefeiert.“ Für Samia ist vor einem Jahr ein Herzenswunsch in Erfüllung gegangen. Die 18-Jährige ist die Tochter und Schwester von Taliban-Kämpfern, die in den vergangenen Jahren in den Krieg gezogen sind.
„Selbst wenn es gefährlich ist für uns alle, wir können einfach unsere Träume nicht aufgeben. Und ich hoffe wirklich, dass die Taliban nicht lange an der Macht bleiben werden“, sagt Nazanin aus Kabul. Noch vor einem Jahr war sie Filmemacherin, die sich für die Rechte von Frauen eingesetzt hat. Jetzt unterrichtet sie heimlich zu Hause Mädchen aus der Nachbarschaft.
Und Malala, aus dem Süden des Landes, hat vor der Machtübernahme der Taliban als Polizistin gearbeitet: „Unser Leben hat sich komplett verändert. Sie kommandieren uns herum, drohen uns.“
Genau wie für diese drei Frauen hat der 15. August 2021 das Leben der Menschen in Afghanistan völlig auf den Kopf gestellt. Die Taliban wieder an der Macht: Das war für einige ein jahrelanger Traum, für andere der absolute Alptraum.

Als Polizistin im Herzland der Taliban

14 Jahre lang war Malala im Polizeidienst tätig, für die ehemalige afghanische Regierung. Nun ist sie fast nur noch zu Hause. Malala sitzt im Schneidersitz auf dem Teppichboden und kramt in einer dunklen Plastiktüte. Dann breitet sie liebevoll ihre alte Uniform vor sich aus. An den Ärmeln sind noch die Abzeichen mit der Fahne der Republik von Afghanistan eingenäht:
„Mein Job war richtig gefährlich, ich bin so oft verprügelt worden. Ich habe mit meinen Kollegen die Häuser von hochrangigen Taliban durchsucht, und die Familien haben uns angegriffen. Einige Male aber dachte ich schon, jetzt werden sie dich bei deinem Einsatz töten.“
Malala lebt im Herzland der Taliban. Der Gründer Mullah Omar ist in der Provinz Kandahar geboren. Die meisten Frauen tragen die Burka. Schon bevor die Taliban die Macht übernommen hatten.

Frauen in Afghanistan

Malala ist eine der wenigen Frauen hier, die im Polizeidienst gearbeitet haben. Ausgebildet in einer Polizeiakademie der US-Amerikaner, hat sie sich jahrelang durchgeboxt, in der patriarchalen Gesellschaft von Kandahar. Freunde hat sie sich damit nicht gemacht. Als die Taliban vor einem Jahr in Kandahar eingezogen sind, haben ihre Nachbarn sie sogleich an die neuen Machthaber verpfiffen:
„Sie haben mich und meine Söhne dann mitgenommen. Einer musste drei Tage im Gefängnis bleiben, sie haben ihn gefoltert. Sie haben immer wieder gesagt, sie wollten meine Pistole haben. Aber die hatte ich ja meiner Vorgesetzten gegeben, kurz bevor die Taliban unsere Stadt erobert hatten.“
Frauen, die früher im Staatsdienst gearbeitet haben, bekommen nun seit einigen Monaten wieder Gehalt. Um die Hälfte gekürzt, dafür müssen sie einmal die Woche antreten, um ihre Präsenz zu zeigen.
"Unser Leben hat sich komplett verändert, meine Söhne haben keine Arbeit mehr, seitdem die Taliban an der Macht sind. Es gibt einfach keine Jobs. Ich versuche mich jetzt im Kunsthandwerk, aber auch das verkauft sich kaum."
Seit einem Jahr, so Malala, habe sich ihr Leben mit jedem Tag verschlechtert. Sie packt ihre Uniform wieder sorgsam zurück in die Tüte und versteckt sie weit hinten in ihrem Schrank.
„Ich sehe keine gute Zukunft für unser Land. … Ich habe auch noch immer Angst vor den Taliban. Manchmal, wenn ich von der Polizeistation zurückkomme, muss ich weinen. Ich weine dann den ganzen Weg, bis ich zu Hause bin.“
Ein Freitag Mitte August 2022 in Kabul: Männer mit Turbanen stehen auf dem einem Hügel im Norden der Stadt.
An sechs von sieben Tagen ist der Park nur für Männer zugänglich (pa/abaca/Oriane Zerah )

Direktor einer Koranschule begrüßt Taliban-Herrschaft

Eine Koranschule für Mädchen, am Stadtrand von Kandahar. Rund 400 Schülerinnen lernen hier, bis zu fünf Stunden am Tag. In verschiedenen Klassenräumen rezitieren sie die Suren des Korans. Unterrichtet werden die Mädchen vor allem von Frauen. Direktor der Madrassa ist allerdings ein Mufti, also ein islamischer Rechtsgelehrter. Abdul Rahman sagt, er sei kein Mann der Politik, sondern eher der Religion, aber die Machtübernahme der Taliban begrüße er schon:
„Als das islamische Emirat das Land übernommen hat, sind auch unsere Schulaktivitäten größer geworden. Wir haben nun auch Kinder der Taliban bei uns. Mit der neuen Regierung ist es für uns friedlicher geworden, sie lassen uns gewähren.“
Das Islamische Emirat, das die Taliban nun im Land installiert haben, sei besser für alle Menschen in Afghanistan, sagt der Mufti. Ein Gottesstaat, der im Namen der Scharia Recht spreche und islamische Regeln aufstelle. Dazu zählt der Leiter der Mädchenschule auch, dass Frauen generell nicht außerhalb des Hauses arbeiten sollten:
„Allgemein gilt aber: Frauen sollten sich nicht in der Öffentlichkeit aufhalten. Sie haben so viele Aufgaben zu Hause zu erledigen: Nach den Kindern schauen, die Wäsche für den Mann erledigen, kochen. Eine zusätzliche Arbeit ist eine Last für Frauen. Sie sollten die Königinnen des Hauses sein, wohingegen der Mann sich um die Belange außerhalb des Hauses kümmert.“

Afghanische Ortskräfte

Geschlechtertrennung in der Öffentlichkeit

Die Taliban wollen nicht, dass sich Männer und Frauen gemeinsam außerhalb der Familie irgendwo zusammen aufhalten. Im öffentlichen Raum schwebt ihnen eine komplette Trennung der Geschlechter vor. Frauen sollen eigentlich nur dort arbeiten, wo es dringend nötig ist. Im Pflegebereich, bei Sicherheitskontrollen oder als Lehrerinnen. Keine einzige Frau sitzt mit in der Regierung, sie dürfen nicht mehr in Filmen auftauchen, ihre Gesichter nicht mehr auf Werbeplakaten gezeigt werden. Stattdessen haben die Taliban Schilder aufgehängt, auf denen die Burka oder ein Ganzkörperschleier abgebildet sind, an diese Kleidervorschriften sollen sich Frauen im Land nun halten.
Das sei zwar keine Vorgabe, die im Koran stehe, sagt Mufti Rahman. Aber dennoch eine legitime und wichtige Forderung zur Zeit:
„Sehen Sie, die Gebote der Scharia können sich von Zeit zu Zeit ändern. Auch wenn der Islam nicht vorsieht, dass das Gesicht, die Hände und die Füße der Frauen verschleiert sein müssen, befinden wir uns derzeit in einer Ära des Aufruhrs. Um dem entgegenzutreten und um den Aufruhr zu bändigen, sollten die Frauen sich jetzt überall verdecken. Es ist zu ihrem eigenen Schutz in unserer Gesellschaft.“

Die Ernährungslage ist schlecht

Auf der Kinderstation im Mirwais-Krankenhaus in Kandahar arbeiten noch Männer als Ärzte, obwohl hier vor allem Mütter und Großmütter mit den Kindern hinkommen. Die Klinik hat eine große Station für unterernährte Kinder eingerichtet, sie platzt aus allen Nähten. Mehrere Kinder und Mütter müssen sich ein Bett teilen. Im Vergleich zum vergangenen Jahr sind nun doppelt so viele kleine Patientinnen und Patienten hier. Das liegt zum einen daran, dass auch Menschen aus weiter entfernten Orten nun hierherkommen können, weil sie nicht mehr befürchten müssen, zwischen die Fronten zu geraten. Aber auch daran, dass durch die Dürre die Ernten der Bauern ausgefallen sind, Trinkwasser verdreckt ist und viele Menschen ihren Job verloren haben oder weniger verdienen, seitdem die Taliban an der Macht sind.
„Mein Mann fährt Rikscha, aber er verdient kaum noch was. Wir können ihr nicht einmal richtige Milch kaufen“, erzählt Rahmania. Sie ist mit ihrer Tochter Zarmina hier:
Die kleine Zarmina hat eine Sonde in der Nase, jede einzelne kleine Rippe schaut aus ihrem Brustkorb hervor. Die Haut an den dünnen Oberarmen schlägt Falten, die Augen sind glasig. Zarmina nehme einfach nicht zu, sagt ihre Mutter besorgt.
„Ich kann sie nicht stillen. Wie soll ich Muttermilch haben, wenn ich selbst nur Brot zum Essen habe?“
Bauer auf Tomatenplantage in der afghanischen Provinz Baghlan
Die Ernährungslage in Afghanistan ist angespannt (picture alliance / Xinhua / Mehrabuddin Ibrahimi)

Unerfahrene Staatenlenker

Eine Million Kinder in Afghanistan sind akut unterernährt. Die Wirtschaft liegt komplett am Boden. Die Taliban sind ziemlich unerfahren darin, einen Staat zu lenken. 20 Jahre lang haben die Mitglieder eher das Kämpfen in den Bergen gelernt, als an Schreibtischen von Beamten zu sitzen. Schon vor ihrer Machtübernahme war die Republik Afghanistan ohne Hilfe aus dem Ausland kaum überlebensfähig.
Das neue Islamische Emirat, wie die Taliban den Staat nun nennen, wurde bislang noch von keinem anderen Land der Welt offiziell anerkannt. Es gibt Sanktionen, einige Minister stehen noch auf internationalen Terrorlisten, ausländische Konten sind eingefroren. 97 Prozent der Menschen im Land, sagt eine aktuelle Studie der Hilfsorganisation Save the Children, hätten nicht mehr genug zu essen für ihre Kinder. So wie Zarminas Mutter.
„Meistens kann ich gerade einmal Brot backen, Lebensmittel sind für uns zu teuer geworden. Wir haben nur noch Mehl zu Hause, sonst nichts. Fleisch, Bohnen oder Reis gab es schon lange nicht mehr bei uns. Ich hätte auch nicht einmal Öl, um zu kochen.“

Mittwoch ist Frauentag im Park, sonst Männertag

Bevor Abdul Rahman Tayyebi zum Gespräch bereit ist, stimmt sein Mitarbeiter erst einmal ein Gebet an. Muwlawi ist der Direktor vom Ministerium zur „Förderung der Tugend und zur Verhinderung des Lasters“ in der Provinz Kandahar. Mit der Gebetskette in der Hand sitzt er auf dem Sofa in seinem Büro, in einem weiten langen Hemd, das sich trotzdem noch über seinem fülligen Bauch spannt. Den Blick stur geradeaus verkündet er stolz, dass er die Anweisungen aus dem Ministerium aus Kabul bereits umgesetzt habe:
„Wir haben in unserer Provinz durchgesetzt, dass Männer und Frauen sich außerhalb des Hauses kaum mehr begegnen. Dort wo sich Frauen aufhalten, dürfen keine Männer sein.“
Gruppe Männer in einem Park mit Ausblick über Kabul
Parks werden unter den Taliban nach Geschlechtern getrennt besucht (picture alliance / abaca / Oriane Zerah)
In Kandahar war das keine allzu schwere Aufgabe. In Restaurants müssen Familien mit Frauen am Tisch hinter Vorhängen essen, damit fremde Männer keine Blicke auf sie werfen können. Und nun sind auch die öffentlichen Parks nach Geschlechtern aufgeteilt: Familien dürfen hier nicht mehr picknicken oder gemeinsam spazieren gehen. Fast die ganze Woche sind nur noch Männer unter sich, außer mittwochs, dann ist Frauentag. Die Sorgen, die Menschen im Westen äußern, weil die Rechte von Frauen eingeschränkt werden und viele Mädchen aber der siebten Klasse nicht zur Schule gehen können, wiegelt Tayyebi ab:
„Sie sind besorgt über die Zustände in meiner Heimat? Das ist Ihre Perspektive, als Ausländerin. Aber ich lebe in diesem Land und ich will mein Haus und meine Heimat so gestalten, wie ich es für richtig halte…"

Die Sicht der Tochter einer Taliban-Familie

Sich im eigenen Haus sicher zu fühlen, das konnte Samia erst im vergangenen Jahr erleben. Zum ersten Mal weiß sie nun, was Frieden bedeutet. Die 18-jährige Tochter und Schwester von Taliban-Kämpfern musste oft in ihrem Leben umziehen, um nicht entdeckt zu werden. Drohnen seien über ihr Haus geflogen, Bomben bei den Nachbarn eingeschlagen. Ihre ganze Kindheit habe sie in Angst verbracht:
„Eines Tages haben sie die Waffe auf meinen kleinen Bruder gerichtet, sie haben wohl gesagt, er solle stehen bleiben. Aber er hat sie nicht verstanden, dann haben sie auf ihn geschossen, wir haben alle laut geschrien. Zum Glück hat sich mein Bruder dann schnell hingesetzt, sonst hätten ihn die Kugeln getroffen. Das waren amerikanische Soldaten. Sie haben einfach so Menschen getötet, als hätten sie kein Herz in ihrer Brust.“
Jetzt sitzt Samia mit ihrer kleinen Schwester, ihrer Schwägerin und der kleinen Nichte entspannt im Wohnzimmer und gießt Granatapfel-Limonade in Gläser. Es war nicht leicht, Samia zu finden. Die Taliban trauen westlichen Journalistinnen nicht. Schon gar nicht, wenn es darum geht, zu ihnen nach Hause zu kommen und mit den weiblichen Verwandten zu sprechen. Aber Samias Vater hat sich schließlich doch dazu durchgerungen. Viel zu selten, sagt er, werde über die Sicht der Frauen in den Familien der Taliban geredet, die so viele Jahre hätten leiden müssen.
„Wenn mein Vater und mein Bruder so lange im Kampf waren, hat meine Mutter nur geweint. Morgens war ihr Kopfkissen ganz nass vor lauter Tränen. Meinen Bruder haben wir ein ganzes Jahr nicht mehr gesehen, wir dachten alle, er sei tot. Aber als der Krieg vorbei war, kam er zurück nach Hause. Wir waren alle so glücklich.“
Nun bereitet sich Samia auf ihre Hochzeit vor. Sie kramt ein langes Hemd hervor, das sie gerade bestickt. Ein Geschenk für ihren zukünftigen Ehemann.

Taliban: "Eine islamische Umgebung für Mädchen schaffen"

Gerne wäre sie jetzt im Frieden wieder zur Schule gegangen, sagt Samia. Aber das ist als junge Ehefrau nicht vorgesehen. Seit mehr als fünf Jahren konnte sie nicht mehr am Unterricht teilnehmen.
„Ich bin bis zur siebten Klasse in die Schule gegangen, dann hat mein Vater mich runtergenommen. Ich habe so geweint. Aber zu der Zeit hat es so viele Entführungen von Mädchen gegeben. Mein Vater hat mir gesagt: Was ist schlimmer, zu Hause zu bleiben oder entführt zu werden? Dann bin ich nicht mehr zu Schule gegangen.“
Das Schicksal teilen nun viele mit ihr in Afghanistan. Seitdem die Taliban die Macht übernommen haben, dürfen die meisten Mädchen im Land nicht mehr zur weiterführenden Schule gehen. Die Taliban sagen, sie müssten eine islamische Umgebung für die Mädchen schaffen. Sie dürften weder von Lehrern unterrichtet werden noch mit Jungen in einer Klasse sein. Dabei haben die meisten Kinder in Afghanistan auch schon zuvor nach Geschlechtern getrennt gelernt. Im März, zum neuen afghanischen Schuljahr, hatten die Taliban angekündigt, dass die Mädchen eigentlich wieder zur Schule gehen könnten. Tausende hatten sich am Morgen fertiggemacht, die Rucksäcke gepackt, die Uniformen angezogen. Doch in letzter Minute hatten die Taliban zurückgerudert, die Mädchen mussten wieder nach Hause gehen, unzählige Träume und Hoffnungen waren zerplatzt.

Nazanins geheime Mädchenschule

Das war der Moment, in dem Nazanin sich dazu entschlossen hat, dass sie etwas unternehmen müsse. Sie lebt im Westen von Kabul, über das Telefon lotst sie zu ihrem Zuhause, es ist kurz vor sechs am Morgen. Der Ort ist geheim. In einer staubigen Gasse, rechts und links meterhohe Mauern, springt auf einmal ein Tor auf. Dahinter, im schattigen Hinterhof, ist auf einer erhöhten Terrasse eine blickdichte Zeltplane gespannt. Dies ist die kleine geheime Schule von Nazanin.
„Unterricht zu geben ist sehr gefährlich, für mich, aber auch für meine Schülerinnen. Natürlich auch für meine Familie, deswegen hatte ich am Anfang auch ziemlich große Angst. Aber wir sind sehr vorsichtig. Dennoch, wir wissen nicht, was deswegen noch auf uns zukommen kann. Aber selbst wenn es gefährlich ist für uns alle, wir können einfach unsere Träume nicht aufgeben.“
Als die Taliban in Kabul einmarschiert sind, hat sich Nazanin mit ihren Schwestern bei der Oma versteckt. Tagelang seien sie nicht aus dem Haus gegangen. So viele Gerüchte waren im Umlauf: Die Taliban würden junge Mädchen aus den Häusern holen und sie zwangsverheiraten. Nazanin hatte noch nie in ihrem Leben einen Talib gesehen. Die fahren jetzt seit einem Jahr auf dicken Jeeps und mit Waffen durch ihre Stadt. An jeder Ecke: Ein Taliban-Kontrollposten.
Eine verhüllte Lehrerin, auf einer Tafel stehen englische Sätze, u.a.: "Wir verstecken unseren Privatunterricht vor den Taliban"
Weiterführende Schule für Mädchen findet im Untergrund statt (picture alliance / abaca / Yaghobzadeh Alfred)
Nach einigen Wochen ist Nazanin geflohen, illegal, nach Pakistan. Doch ohne Pass, ohne Aufenthaltsgenehmigung und ohne ihre Familie wollte sie dort nicht bleiben. Als die Taliban die Schulen für Mädchen weiterhin geschlossen hielten, ist sie zurück nach Afghanistan. Nun steht sie jeden Morgen um 5 Uhr auf, damit wenigstens einige Mädchen sich weiter fortbilden können:
„Wenn ich die Mädchen sehe mit all ihren Ambitionen, weiß ich, ich muss sie weiter unterrichten. Ich starte den Unterricht so früh am Morgen, weil ich danach noch zu meiner Ausbildung gehe. Das ist alles sehr ermüdend. Aber dann sitzen da diese Mädchen: Wenn sie schreiben, wenn ich sehe, wie glücklich sie sind. Das gibt mir so viel Hoffnung, dass sie auch eine Zukunft haben werden. Und das hilft mir, weiterzumachen. Die Energie dieser Mädchen überträgt sich irgendwie auch auf mich selbst.“

"Wenn ich im Klassenraum bin, bin ich glücklich"

Nach und nach trudeln die Mädchen zum Unterricht ein. Vor der Zeltplane schlüpfen sie aus ihren Schuhen und treten in ihr heimliches Klassenzimmer.
„Ich habe schon Angst vor den Taliban, wenn ich herkomme, aber wenn ich hier im Klassenraum bin, dann bin ich so glücklich“, sagt Zainab. Eigentlich wäre sie nun in der siebten Klasse.
Nazanin unterrichtet Mädchen von 13 bis 16 Jahren, jeden Wochentag ab 6 Uhr morgens. Heute schreiben die Mädchen einen Chemietest, es ist mucksmäuschenstill im Raum. Sie hocken weit auseinander verteilt auf dem Teppichboden, damit keine abschrieben kann. Dann ziehen sie Linien mit Buchdeckeln auf ihre Zettel und legen los. Kathera ist als erste fertig, sie wäre nun auch schon in der achten Klasse.
„Die Taliban haben jahrelang in den Bergen gelebt“, sagt sie hier. „Es ist deprimierend zu sehen, wie sie mit den Leuten umgehen, vor allem mit den Mädchen. Sie haben ein völlig patriarchales Weltbild.“
Ihr bleibe keine andere Wahl, sagt Nazanin, denn sie glaube fest daran, dass sich die Situation in ihrem Land auch wieder ändern werde: „Wenn wir Frauen auf der ganzen Welt zusammenstehen, dann können wir erreichen, dass die Taliban es nicht schaffen, die Stimmen der Afghaninnen zum Schweigen zu bringen.“
Die Schülerinnen erzählen von ihren Berufswünschen: Pilotin, Staatsanwältin, Reporterin. Alles Berufe, die sie unter dem Taliban-Regime derzeit nicht ausüben können. Aber jedes Mal, wenn die Mädchen zur Tafel schauen, sehen sie gleich daneben ein Bild, das Nazanin dort aufgehängt hat. In bunten Buchstaben steht darauf geschrieben: „Hofft, träumt und glaubt.“