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Zwischen Abwehr und Aufnahme
Geflüchtete an der polnisch-belarussischen Grenze

Vor einem Jahr versuchten Tausende über Belarus nach Polen zu gelangen. Polens Regierung reagierte mit Militär und einem Grenzzaun. Trotzdem werden pro Monat noch immer etwa 1.000 Versuche registriert, die Grenze zu überwinden.

Von Martin Adam |
Im Niemandsland zwischen der Grenze zu Polen und Belarus: Noch immer versuchen tausende Geflüchtete aus Irak, Afghanistan und Syrien, Zäune und Bewachung durch Soldaten zu überwinden, um in die EU zu gelangen.
Noch immer versuchen tausende Geflüchtete aus Irak, Afghanistan und Syrien, Zäune und Bewachung durch Soldaten zu überwinden, um in die EU zu gelangen. (dpa / BelTA pool photo via AP / Oksana Manchuk)
Die Landschaft zieht sich in langen grünen Wellen dahin. Es geht durch kleine, sehr kleine Dörfer mit Holzhäusern, die schon so lange hier stehen, dass man meinen könnte, nichts kann sie mehr überraschen. Am Horizont die dichten Wäldern von Podlasie. Tagsüber geht eine tiefe Ruhe von diesem Streifen Land ganz im Osten Polens aus.
Sie ist trügerisch. Jetzt mitten in der Nacht arbeitet sich das alte Auto mit Allradantrieb auf holprigen Wegen immer tiefer in diese Wälder hinein. Draußen regnet es in Strömen, im Scheinwerferlicht ziehen Bäume vorbei. Dahinter tiefschwarze Dunkelheit.
Der Wald wirkt auf einmal bedrohlich. Irgendwo hier müssen sie sein, die beiden Männer - möglicherweise verletzt, wahrscheinlich orientierungslos, mit Sicherheit bis auf die Knochen durchnässt. Sie haben es durch Belarus geschafft und über die Grenze bis nach Polen. Jetzt brauchen sie Hilfe und Marianna muss schneller sein als der polnische Grenzschutz. Denn wer zuerst ankommt, entscheidet oft über Weiterreise oder Zurückgeschicktwerden, sogenannte Pushbacks.
Sie ist ruhig und konzentriert, obwohl sie ungern nachts in den Wald geht: "Ich war neulich erst allein bei einer Gruppe und plötzlich hielt da ein Auto an und Hunde haben gebellt. Ich war sicher, das muss der Grenzschutz sein und da habe ich mich sehr unwohl gefühlt. Ich hatte Angst, was mir selten passiert."

"Die meisten haben Angst vor den Geflüchteten"

Plötzlich hält die Fahrerin an. Türen werden aufgerissen, Marianna springt aus dem Auto, greift sich zwei Rucksäcke von der Rückbank und verschwindet im Unterholz. Das Auto fährt sofort weiter: bloß nicht stehenbleiben, bloß keiner Patrouille auffallen.
Als sich die beiden Männer an diesem Abend melden und ihre Koordinaten schicken, sitzt Marianna in ihrem Wohnzimmer auf der Couch. Sie strickt, draußen regnet es, die Gemütlichkeit ist fast malerisch. Marianna ist umgeben von einer kuriosen Sammlung aus Marienfiguren und Jesusbildern - nicht ganz ernst gemeint, sagt sie, und lacht. An der Wand hängen zwei Schilder aus Holz.
"Hier steht 'Wir danken den Verteidigern Polens' und 'Dank an die polnischen Sicherheitsdienst'. Die haben wir von Bäumen abgemacht, wo sie von Bewohnern hier angebracht wurden - entlang der Grenze. Die meisten Menschen hier unterstützen die Behörden, weil Sie Angst vor den Geflüchteten haben."

Die Behörden bedrängen jeden, der Geflüchteten hilft

Marianna hat Angst vor den Behörden. In der Küche hängt ein Monitor. Zu sehen sind die Bilder der Überwachungskameras am Haus und auf dem Grundstück. Die Behörden würden jeden bedrängen, der Geflüchteten hilft, sagt Marianna. Und, dass sie eigentlich anders heißt. Aber ihr echter Name, ihr Wohnort, alles, womit sie identifiziert werden könnte, müsse geheim bleiben. 
"Diese Flüchtlingskrise, also die humanitäre Krise, hat hier in Podlasie im Frühsommer letztes Jahr begonnen. Aber erst im August wurde darüber gesprochen, wie die Menschen behandelt werden, dass sie von zwei Seiten, von polnischen und belarussischen Diensten eingekreist sind und nicht wegkommen. [...] Damals war für uns unvorstellbar, dass so etwas möglich ist und dann noch so lange. [...] Wir sind ein Volk, das mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs aufgewachsen ist und das nicht zulassen wird, dass so etwas hier geschieht." Aber es geschieht.

Ein gut organisiertes, loses Netzwerk aus Freiwilligen

Fast 40.000 Menschen kommen in diesen Wochen im Spätherbst und Winter 2021 durch Belarus an die grüne Grenze nach Polen. Sie bleiben dort in Wäldern und Sümpfen stecken, zwischen polnischen Grenzschützern hier und belarussischen dort. Es gibt Tote. Marianna ruft ihre Freunde an, sie will nicht mehr zusehen.
"Angefangen haben wir wirklich mit dem Einfachsten. Wir hatten eine kleine Tüte mit Wasser dabei, Schokolade und Rettungsdecken. Inzwischen tragen wir 20-, 30-Kilo-Rücksäcke in den Wald."
Ein knappes Jahr später ist sie Teil eines gut organisierten und doch losen Netzwerks aus Freiwilligen. Eine Gruppe hier, eine da, verbunden über Messenger. Sie nennen sich "Grupa Granica" - die Grenzgruppe. Seit Beginn der Krise, vermutet Marianna, dürfte das Netzwerk schon über zehntausend Menschen geholfen haben - vor allem aus dem Irak, Iran, aus Afghanistan, Syrien, aber auch aus Kuba.
"Die Geflüchteten melden sich bei uns über eine öffentliche Telefonnummer. Dann wissen wir, wo sie sind und was sie benötigen. Dann wird die Gruppe kontaktiert, die ihnen am schnellsten helfen kann. Wir packen die Rucksäcke und brechen auf."

Powerbanks, SIM-Karten, Telefone, Regenjacken

Die beiden Männer im Wald haben ihre Koordinaten geschickt, und Marianna ist am nächsten dran. Während sie erklärt, setzt sich im Hintergrund ein offenkundig eingespielter Mechanismus in Gang. Absprachen werden per Kurznachricht getroffen, Mariannas Mann verschwindet auf dem Dachboden und packt zwei Rucksäcke. Der niedrige Raum sollte eigentlich mal ein Gästezimmer werden, jetzt ist er bis unter die Decke vollgestopft mit Schuhen, warmer Kleidung, Wasserfiltern, Schlafsäcken, Taschenlampen – Überlebenswichtigem:
"Ich gebe ihnen noch Regenjacken mit. Die normalen bringen nichts."
"Und hast du warme Vliesjacken drin?"
"Vlies, Thermounterwäsche, Regenjacken."
Falls nötig hat Marianna auch Powerbanks, SIM-Karten und ein paar Telefone vorrätig. Alles teuer, alles spendenfinanziert, manchmal aus der eigenen Tasche. Dann geht es los. In den Wald.
Die Helferinnen Maria Zlonkiewicz (l) und Aleksandra Gubinska knien in einem Wald bei Hajnowka nahe der polnisch-belarussischen Grenze neben Gegenständen, die wahrscheinlich von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten zurückgelassen wurden.
Helferinnen knien in einem Wald bei Hajnowka nahe der polnisch-belarussischen Grenze neben Gegenständen, die wahrscheinlich von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten zurückgelassen wurden. (pa/dpa/Doris Heimann)

"Hybrider Angriff" mit aus Belarus geschleusten Menschen

Ende 2021 fällt in Warschau die Entscheidung, wie der Ansturm aus Belarus politisch zu interpretieren ist: als kriegerischer Akt. Die durch Belarus geschleusten Menschen seien, so lautet schnell die offizielle Sprachregelung, ein "hybrider Angriff". Die Regierung der PiS-Partei, die zuvor schon bei der EU-weiten Verteilung von Geflüchteten hart geblieben war, zeigt sich auch diesmal, an der eigenen Grenze, kompromisslos.
PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski im November: "Wenn wir das Schlimmste, also den Krieg, vermeiden wollen, dann müssen wir die alte Regel beherzigen: Willst du Frieden, dann bereite dich auf den Krieg vor. Oder eher: Bereite dich auf die Abwehr vor."

Polen riegelt sich auf eigene Faust ab

Keine Aufnahme von Geflüchteten, auch keine Hilfe durch die EU-Grenzschutzagentur Frontex - Polen riegelt sich auf eigene Faust ab: mit einem fünfeinhalb Meter hohen, über 186 Kilometer langen Zaun. Mehr als 330 Millionen Euro investiert das Land - im Schnellverfahren, ohne Umweltprüfung, ohne Anhörungen. Wo kein Zaun ist, versperren der Bug oder die Świsłocz den Weg - Grenzflüsse als natürliche Barrieren. Öffentlich ist die Regierung bemüht, die Menschen an der Grenze nicht als Schutzsuchende, sondern als Bedrohung, als Gefahr für die Sicherheit der polnischen Bevölkerung darzustellen. Innenminister Mariusz Kaminski präsentiert Fotos, die von Telefonen der Menschen an der Grenze stammen sollen. Zu sehen: ein Mann beim Verkehr mit einer Kuh oder einem Pferd. Jeder vierte aufgegriffene Geflüchtete habe zudem Kontakt zu Terrororganisationen wie den Taliban, erklärt Kaminski.
"Mit dieser Präsentation wollen wir unseren Bürgern bewusstmachen, mit welchen Erscheinungen wir es hier zu tun haben. Es geht nicht um Stigmatisierungen, sondern um Fakten."

Die EU-Grenze hat gegen die Attacke aus dem Kreml gehalten

Widerspruch gibt es wenig. Zwar kritisieren Oppositionsparteien vereinzelt den Umgang mit Geflüchteten, die Menschen aufnehmen wollen aber auch sie nicht. Ein Jahr später, im September 2022, erklärt Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak, mit den Geflüchteten aus Belarus habe man zugleich den ersten Angriff aus Moskau abgewehrt:
"Die Soldaten der polnischen Armee haben an der Seite des Grenzschutzes die polnische Grenze, die ja gleichzeitig EU-Grenze ist, gehalten. Ich bin überzeugt, dass diese Attacke im Kreml geplant wurde und nur die Anfangsphase für den Angriff auf die Ukraine war. Den Herrschenden im Kreml ging es sicher darum, Polen zu destabilisieren. Wäre das gelungen, könnte Polen heute der Ukraine nicht zu Seite stehen."
Polnische Armeefahrzeuge stehen an der mit Stacheldraht gesicherten Grenze zwischen Polen und Belarus nahe des Grenzübergangs Kusnica. Die Migrationskrise mit Flüchtlingen die über Belarus in die Europäische Union gelangen wollen, hat sich an Polens Grenze zu Belarus im November 2021 zugespitzt.
Polnische Armeefahrzeuge an der mit Stacheldraht gesicherten Grenze zwischen Polen und Belarus nahe des Grenzübergangs Kusnica im November 2021. (pa/dpa/Michael Kappeler)
Der Zaun war ein großer Schritt in die richtige Richtung, meint auch Katarzyna Zdanowicz. Kurze blonde Haare, grüne Uniform, entschiedenes Lächeln - Zdanowicz ist die Sprecherin des Grenzschutzes in Bialystok, unweit der Grenze.
"Der Zaun ist ganz wichtig: in Hinblick auf den Schutz der Grenze, aber auch die Sicherheit unserer Mitarbeiter. Kaum vorstellbar, dass da vor zwei Jahren noch gar keine Absperrung war. Jetzt sieht man deutlich, dass es viel weniger Versuche gibt, die Grenze illegal zu übertreten, denn es ist viel schwieriger geworden."

Belarussische Behörden helfen beim illegalen Grenzübertritt nach Polen

"Viel weniger" bedeute aber immer noch etwa 1.000 registrierte Versuche pro Monat - deutlich ansteigend im Oktober und November. Wobei, wie Katarzyna Zdanowicz einschränkend bemerkt, der Zaun gut zwei Meter auf polnisches Territorium eingerückt ist. Wer auf belarussischer Seite aus dem Wald tritt und den Zaun aus der Nähe betrachtet, hat also bereits illegal die Grenze überquert und geht in die Statistik ein. Wer dann weitergeht, tut das oft mit Unterstützung belarussischer Behörden.
"Wir hatten Fälle, da haben Menschen in Uniform einen unterirdischen Gang gegraben. Sie geben den Ausländern auch Leitern und Scheren und zeigen, in welche Richtung sie gehen sollen. Wenn wir einschreiten, fahren die Belarussen sie an eine andere Stelle."
Der belarussische Präsident Lukaschenko hat am 26. November 2021 bei einem Besuch eines Flüchtlingslagers an der belarussisch-polnische Grenze an Deutschland appelliert, die Flüchtlinge aufzunehmen.
Präsident Lukaschenko appellierte am 26. November 2021 bei einem Besuch eines Lagers an der belarussisch-polnische Grenze an Deutschland, die Flüchtlinge doch aufzunehmen. Die Menschen wurden unter falschen Versprechungen per Flugzeug nach Minsk gelockt. (pa/AA/Sefa Karacan)

Kuriere fahren Flüchtlinge weiter Richtung Deutschland

Auf polnischer Seite aber laufe alles legal ab. Das ist die Botschaft, die Katarzyna Zdanowicz an diesem Tag unterbringen will. Von Geflüchteten, die zurück in den Grenzfluss geschoben werden, wie Marianna berichtet hatte, will sie nichts wissen. Wer aufgegriffen werde, bekomme einen medizinischen Check, etwas zu essen. Und dann?
"Dann überprüfen wir, ob die Ausländer internationalen Schutz in Polen beantragen wollen. Aber leider warten auf die Mehrheit der Ausländer schon Kuriere, Schmuggler, die sie weiter in Richtung Deutschland fahren sollen. Also bringen wir sie zurück an die Grenzlinie, aber immer an einen sicheren Ort."
Nach einigem Zögern und vielen Nachfragen sagt sie, es gebe so Türen im Zaun. Eigentlich für technische Wartungen. Durch die könne man aber auch Menschen zurück nach Belarus schicken.
Die offizielle Linie der Behörde ist: Kaum jemand wolle Asyl in Polen beantragen, alle wollten weiter nach Westen. Wenn kein Asylantrag gestellt wird, ist das Zurückschicken kein illegaler Pushback. Das ist die Logik dahinter.

PiS installierte intransparente Mischung aus Miliz und Bürgerwehr

Marianna weiß nicht, auf welche Behörden sie im Wald treffen wird. Der Grenzschutz ist unterwegs, das Militär, manchmal die Polizei, aber auch sogenannte WOT-Einheiten - eine Spezialität des polnischen Militärs. "WOT" steht für Wojska Obrony Terytorialnej, territoriale Verteidungsstreitkräfte - eine Erfindung der PiS-Regierung, eingeführt kurz nachdem sie 2015 gewählt wurde.
In Werbefilmen für diese Einheiten sieht man ganz normale Menschen. Die Territorialverteidigungseinheiten sind eine Mischung aus Miliz und Bürgerwehr. Das Motto der Einheit: "Immer bereit, immer in der Nähe".
"Bewaffnete Männer allein im Wald", sagt Marianna zynisch. Die WOT-Einheiten seien ohne Hoheitsabzeichen, ohne Name oder Identifikationsnummer unterwegs. Im Ernstfall sei nicht erkennbar, ob vor ihr und den Geflüchteten ein Soldat stehe oder einfach jemand, der sich privat mit Tarnkleidung und Waffe eingedeckt habe. In beiden Fällen eine Gefahr, findet Marianna.

Wer es über den Zaun schafft, ist oft verletzt

Aber jetzt, hier nachts im Wald, kann sie überhaupt niemanden sehen - keine bewaffneten Soldaten, aber auch nicht die beiden Geflüchteten, die sie sucht. Sie ist schon zigmal in immer größer werden Kreisen um den Standort, der ihr zugeschickt wurde, herumgelaufen - nicht auf Waldwegen und -pfaden, sondern da, wo man sich verstecken würde, wenn man Schutz vor Regen und Patrouillen sucht: im ganz dichten Unterholz. Das Waldstück liegt zwischen zwei Wegen. Immer wenn Marianna an einer Seite herausstolpert, atmet sie tief durch. Einmal zieht sie ihre Gummistiefel aus, dreht sie um und kippt Wasser auf den Weg. Es hilft nichts, sie geht wieder rein in den Wald. Inzwischen hat sie die Stirnlampe eingeschaltet, aber nur das rote Licht. Sollte doch jemand vorbeikommen, ist das vom Weg aus nicht so gut erkennbar. Ihr Telefon wird nass, das Display reagiert nicht mehr, es ist kalt.
"Sie müssen hier irgendwo sein. Wir hätten schon zweimal über sie stolpern müssen. Vielleicht sind sie hier und wir haben direkt neben ihnen gestanden und sie nicht bemerkt. Wenn sie nicht wissen, wer da ist, sagen sie kein Wort."
Außer den Koordinaten in der ersten Nachricht gab es kein Signal mehr. Der letzte Kontakt liegt inzwischen Stunden zurück.
"Sie wissen ja nicht, dass wir kommen. Der Kontakt ist abgerissen. Wir gehen jetzt nochmal rein und suchen sie genau in der Mitte."
Aber nichts. Vielleicht sind die Männer hier irgendwo und verstecken sich, vielleicht sind sie aber auch nicht mehr imstande, sich zu melden. Wer es über den Zaun schafft, ist oft verletzt, hat Schnittwunden vom Stacheldraht, Verstauchungen oder Brüche vom Sturz.
Migranten campieren in selbst gebauten Hütten am Grenzzaun.
Warten auf eine Chance: Migranten campieren in selbst gebauten Hütten am Grenzzaun. (pa/dpa/Ulf Mauder)

Helferinnen und Helfer sind in der Minderheit

Marianna wird die beiden Männer in dieser Nacht nicht mehr finden. Nach einer gefühlten Ewigkeit in der Dunkelheit gibt sie auf.
Marianna ist nicht allein. Es gibt auch andere, die helfen wollen und die es, wenn überhaupt, nur nachrangig interessiert, ob ein Mensch in Not legal oder illegal die Grenze übertreten hat. Es gibt Stiftungen, die mit den Behörden kooperieren und die versorgen, die nicht zurückgebracht werden oder in Abschiebehaft landen. Aber die Helferinnen und Helfer, offiziell oder, wie Marianna, im Geheimen, sie alle sind in der Minderheit.
Das kleine Dorf Krynki liegt nur wenige Meter von der polnisch-belarussischen Grenze entfernt. Aus dem Lebensmittelladen am Markt kommt eine Frau. Einkäufe in der Hand, hat sie gerade eine Nachbarin zum Plausch getroffen. Auf die Geflüchteten angesprochen, sagt sie.
"Ich habe nie jemanden gesehen, aber als letztes Jahr meine Enkelin bei mir war, habe ich ihr verboten, raus in den Park zu gehen. Ich habe ihr gesagt: Du siehst dunkel aus, du hast dunkle Haare und so. Die werden dich einfach als eines ihrer Kinder mitnehmen."
Jetzt dürfe das Kind wieder raus, die Lage habe sich ja beruhigt, dank Zaun und auch weil der Ausnahmezustand, den die Regierung verhängt hatte, wieder aufgehoben wurde. Ein Mann kommt vorbei, auch er auf dem Weg zum Laden. Auch er sagt, es sei besser jetzt:
"Ich habe gehört, dass schon noch welche über die Grenze kommen, aber es ist besser, weil es viel weniger sind. Am Anfang hat meine Frau einige gesehen, aber sie wurden dann schnell von der Armee und dem Grenzschutz mitgenommen. Die Menschen hier haben sich schon gefürchtet."
Migranten an der belarussisch-polnischen Grenze nahe Bruzgi.
The migrant crisis on the border of Belarus with Poland, Lithuania, and Latvia escalated on November 8. Several thousand migrants have approached the Belarusian-Polish border and set up a tent camp there.
Mit falschen Versprechungen nach Europa gelockt, warten Migranten auf eine Chance, die EU-Grenze nach Polen zu überwinden. Ein gefährlicher Weg, meist drängen sie polnische Grenzschützer und Soldaten wieder zurück. (pa/dpa/TASS/Sergei Bobylev)

Feindseligkeit gegen heimische muslimische Tartaren

Wie komplex, wie uneindeutig die Lage ist, davon kann auch Bronisław Talkowski berichten. Er wohnt in Kruszyniany, ebenfalls ein kleines Dorf nahe der Grenze, aber eines, das in ganz Polen bekannt ist. Denn im Zentrum von Kruszyniany steht ein über 200 Jahre altes Holzhaus. Grün gestrichen mit zwei Türmchen erinnert es an eine Dorfkirche. Aber auf dem Dach ist kein Kreuz zu sehen, sondern ein Halbmond. Das Dorf hat eine Moschee. Knapp 5.000 Tartaren leben in Polen, 100 davon hier in Kruszyniany - mehrheitlich Muslime. Und Bronisław Talkowski ist eine Art Gemeindevorsteher. Als 2021 die Geflüchteten kamen, wurde er plötzlich angefeindet.
"Denn die meisten sind Muslime, wenn auch nicht alle. Und die Medien berichten so, dass Muslime hier nicht willkommen sind. Einmal hat ein Redakteur des öffentlichen Fernsehens gesagt, man müsste alle Muslime aus Polen rausschmeißen. Da habe ich öffentlich gesagt, ich bin doch auch Muslim. Ich kann meine Geschichte hier über 600 Jahre zurückverfolgen. Ich kann das mit Dokumenten nachweisen. Und jetzt? Soll ich mir ein neues Land suchen?"

Zwischen Rassismus, Mitgefühl und Überforderung

Wie sehr Religion und Herkunft darüber entscheiden, wer in Polen Solidarität oder Ablehnung erfährt, zeigt spätestens die überwältigende Hilfe für Geflüchtete aus der Ukraine. Hier gibt es offene Türen statt Grenzzaun. Aber seine eigene Diskriminierung macht aus Bronisław Talkowski noch lange keinen Helfer, der nachts in die Wälder geht. Auch er findet, die Staatsgrenze muss geschützt und illegale Grenzübertritte müssen verhindert werden.
Es ist eine verworrene Gefühlslage an der Grenze zu Belarus - irgendwo zwischen Angst und Rassismus, Mitgefühl und dem Wunsch, zu helfen, dem Drang sich vom belarussischen Regime nicht erpressen zu lassen und schierer Überforderung.

"Auf der belarussischen Seite soll es schon Tote geben"

Wenige Wochen später meldet sich Marianna per Telefon. In Polen ist der Winter eingebrochen. Es schneit, die Temperaturen fallen nachts unter null Grad. Marianna berichtet, wie gefährlich es jetzt für die Geflüchteten wird.
"Die Menschen, die wir antreffen, sind schrecklich durchgefroren. Gestern zum Beispiel hatte eine Person so erfrorene Beine, dass wir sie ewig nicht aufwärmen konnten. Der Mann hatte nur Socken an. Die Menschen, die über die Grenze kommen, brauchen dringend Hilfe, warmes Essen, warme Kleidung. Wir haben Angst, dass sie ums Leben kommen. Auf der belarussischen Seite soll es schon Tote geben."
Marianna und ihre Mitstreiter werden weiter in die Wälder gehen und Geflüchteten helfen. Sie werden ihre Haltung nicht ändern. Die polnische Regierung allerdings auch nicht. Inzwischen lässt sie auch die Grenze zum russischen Gebiet Kaliningrad mit Stacheldraht sichern - aus Angst, Russland könnte die gleiche Taktik anwenden wie Belarus und Menschen, die eigentlich vor Krieg, Armut oder Verfolgung fliehen, als Waffe gegen die EU einsetzen.