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"Hiob" am Deutschen Theater Berlin
Zutiefst berührende Theater-Beschwörung

Keine Kippa, keine Schläfenlöckchen, kein verschlissener alter Kaftan - in Anne Lenks Inzenierung von Joseph Roths Roman "Hiob" wird auf fast jede Form des Dekors verzichtet. Stattdessen ist der Fokus auf den Text gerichtet. Eine Inszenierung, die rückhaltlos dem Erzählen verfallen ist.

Von Michael Laages |
    Joseph Roths "Hiob" am Deutschen Theater Berlin (31.03.2016). Im Bild: Bernd Moss als Mendel Singer und Alexander Khuon als Menuchim.
    Joseph Roths "Hiob" am Deutschen Theater Berlin (31.03.2016). Im Bild: Bernd Moss als Mendel Singer und Alexander Khuon als Menuchim. (imago/DRAMA-Berlin.de)
    Wie ein Prolog klingt das – drei Kinder erzählen vom Vater ...
    "Vor vielen Jahren lebte in Zuchno ein Mann namens Mendel Singer. Er war fromm, gottesfürchtig und gewöhnlich. Ein ganz alltäglicher Jude ..."
    Jonas, der Kraftprotz, der das russisch-jüdische Schtetl bald verlassen und zum Militär nach Moskau gehen wird; Shemarjah, der Denker und Stratege, der auswandert nach Amerika und dort sehr schnell sehr steil Karriere macht; schließlich Mirjam, die wohl ahnt, dass sie sich als Mädchen nur auf die eigene Schönheit wird verlassen können, neben ihnen hockt stumm, den Rücken zum Publikum, der vierte an der Rampe – Menuchim, der Epileptiker, der bis zum zehnten Lebensjahr kein anderes Wort als "Mama" sagen kann, die Mama, und Vater Mendel, der arme, gottesfürchtige Lehrer, werden bald hinter durchsichtiger Gaze auftauchen aus Nebel und Rauch, schemenhaft – und noch immer sieht Anne Lenks Berliner Inszenierung von Joseph Roths "Hiob"-Roman im Grunde aus wie der Prolog zu sich selbst.
    Verzicht auf jede szenische Behauptung
    Bis wir staunend entdecken, dass hier längst nichts mehr vorbereitet wird. Nein, wir sind schon da. Das ist Lenks Strategie - auf jede szenische Behauptung, die nicht genau so im Buche steht, verzichtet die Inszenierung; wie auch auf fast jede Form von Dekor. Keine Kippa, keine Schläfenlöckchen, kein verschlissener alter Kaftan – dieser arme Lehrer Mendel Singer, wie Bernd Moss ihn spielt, trägt nicht nur zeitloses Grau in Silja Landsbergs Kostüm – er ist zeitlos grau. Almut Zilcher ist ewiges Sorgen-Schwarz, sie trägt es nicht. Auch die Kinder sind allemal Bilder des inneren Ichs; was aus ihnen werden wird, ist ihnen umstandslos anzusehen.
    Erst im zweiten Akt, mit der Vision von Amerika, kommt Karikatur ins Spiel – nichts sieht wirklich echt aus in dieser "Neuen Welt", alles ist Maske. Und genau so wirkt dieser neue Überlebensraum ja auch für den Schtetl-Juden Singer, wenn immer neues Unglück auf diesen Hiob herein prasselt: der älteste Sohn in Russland vermisst, der jüngere als amerikanischer Soldat im Frankreich des Ersten Weltkriegs gefallen, die Frau darauf vor Kummer gestorben, die mannstolle Tochter wahnsinnig geworden – und der epileptische Sohn vermutlich längst tot. Mendel Hiob Singer hadert mit dem Gott, dem er doch treu zu sein meinte:
    "Gott ist grausam! Je mehr man ihm gehorcht, desto strenger geht er mit uns um. Nur die Schwachen, die vernichtet er gerne; die Schwäche eines Menschen reizt seine Stärke. Und der Gehorsam weckt seinen Zorn. Euer Gott ist ein großer grausamer Beamter!"
    Keine großen Bilder
    Kaum mehr als diesen einen emotionalen Ausbruch gönnt Anne Lenk dem Ensemble; auf ihn treibt die immerzu erzählte und sehr selten gespielte Geschichte zu. Der Ton bleibt durchweg beherrscht, ja karg und kühl – speziell wenn Alexander Khuon das Erzählen übernimmt, der epileptische Sohn vom Beginn, der dann doch ein berühmter Konzertpianist geworden ist und dem am Boden zerstörten Vater wie der glückbringende Engel der Geschichte erscheint nach der großen Abrechnung mit Gott. Unter der Hand, subkutan, ohne dass es dafür irgendeine programmatische Überschrift gebraucht hätte, ist diese Aufführung ganz und gar und rückhaltlos dem Erzählen verfallen – keine großen Bilder (außer eben im "maskierten" Amerika), keine spektakulären Szenerien auf Halina Kratochwils Bühne: Dies ist die sparsamstmögliche Version, die sich destillieren lässt aus diesem sehr besonderen Text, dessen Schönheit, Kraft und Größe sich gerade deshalb erweisen kann an diesem Abend, weil die Inszenierung ihm mehr vertraut als sich selber.
    Plötzlich wird sogar Joseph Roths Vision spürbar – 1930, noch vor der zweiten, der größeren Katastrophe des vergangenen Jahrhunderts, scheint er im Leiden des ersten Völkerschlachtens all die Schrecken voraus zu ahnen, die in Kürze erst folgen werden.
    Aber kein einziges Bild in Anne Lenks Herz und Hirn zutiefst berührender Theater-Beschwörung verweist konkret darauf ... das überlässt sie uns.
    So viel kann Theater.