Archiv

Hip-Hop in Frankreich
"Rap ist heute das französische Chanson"

Das Festival "Printemps de Bourges" eröffnet demnächst die Openair-Saison in Frankreich und setzt die Musiktrends des Jahres. Rap sei im Mainstream integriert wie nie zuvor, sagte Festivaldirektor Boris Vedel im Dlf – und erklärt, warum er vor allem den Frauen in der Szene eine Bühne bieten will.

Boris Vedel im Corsogespräch mit Tessa Walther |
    Boris Vedel (Boss Printemps de Bourges)
    Boris Vedel, Festivaldirektor von "Les Printemps de Bourges" (Boris Vedel)
    Tessa Walther: Hallo, Boris Vedel. 2017 haben Sie die Konzerthalle "Halle au blé" auf Ihrem Festival "Le Printemps des Bourges" eröffnet, um "urbane Musik" zu fördern. Also um mehr Hip-Hop-Konzerte zu veranstalten. Und auch im französischen Radio hat man den Eindruck, nicht mehr nach Hip-Hop suchen zu müssen. Er ist überall. Zum Beispiel hören wir Künstler wie Nekfeu, S-Crew oder Orelsan. Ist Hip-Hop in Frankreich heute Teil des Mainstreams?
    Boris Vedel: Ja, ganz sicher. Aber der Hip-Hop war immer da. Er war nie weg aus der Musikszene, seit er sich in den 80ern bei uns etabliert hat. Aber: Hip-Hop ist heute so integriert wie nie zuvor. Wenn wir uns die Top-Alben oder die Streaming-Hits hier in Frankreich ansehen, dann sind vier von fünf Liedern Hip-Hop-Songs. Es wird also genau das produziert, was vor allem das junge Publikum sucht: urbane Musik.
    "Heute hören und machen Jugendliche aus allen Schichten Hip-Hop"
    Walther: Können Sie uns diese Entwicklung seit den 90er-Jahren genauer beschreiben? Was ist seitdem genau passiert?
    Vedel: Eine Entwicklung war immer da. Alles fing in den 80er-Jahren an, als der Hip-Hop unter dem angelsächsischen Einfluss, und vor allem dem US-amerikanischen Einfluss, in Frankreich Fuß fasste. In den Texten ging es um den typischen Klassenkampf, beziehungsweise um die Konfrontation der verschiedenen sozialen Schichten. Und die Rapper kamen tatsächlich aus den benachteiligten Vierteln in den Städten, über die sie in ihren Songs sprachen – oder aus den "Quartiers" wie wir hier in Frankreich sagen –, die oft als soziale Brennpunkte gelten. Heute ist das nicht mehr der Fall. Heute hören und machen Jugendliche aus allen Schichten Hip-Hop. Es ist ein Stil, der jetzt vollständig in unserer Sprache und auch in unserem landesweiten Musikkonsum angekommen ist.
    Vor kurzem habe ich eine Schule besucht, und ich habe die Schüler gefragt: "Hört ihr noch französische Chansons?". Und die jungen Leute haben mich mit großen Augen angesehen und gefragt: "Was meinst du denn mit französischen Chansons?" "Na, Lieder, die auf Französisch gesungen werden." Und dann war für sie alles klar. Natürlich hörten sie Chansons, nämlich französischen Hip-Hop und Rap. Für sie ist urbane Musik genauso Französisch wie die traditionelle Musik. Sie machen keinen Unterschied mehr. Der Rap ist heute das französische Chanson.
    Walther: Wenn wir uns heute in der französischen Szene umschauen, gibt es mehrere Städte, die als Rap-Hochburgen gelten, wie Marseille, Lyon und natürlich Paris. Was unterscheidet sie?
    Vedel: Oh, es sind so viele geworden. In der Vergangenheit gab es nur einen Unterschied: Musik aus Paris und die aus der "Provinz", also dem kompletten Rest des Landes. Und ich denke, dass das zum Teil immer noch aktuell ist. Aber mittlerweile vergleichen wir doch immer mehr zwischen den verschiedenen Städten. Und was ich ganz besonders feststelle, ist der Trend hin zum afrikanischen Teil unserer Kultur. Vor allem bei Künstlern wie Gîms oder MHD. Die benutzen Beats, Tempi und Instrumente, die wirklich sehr afrikanisch klingen. Das ist ziemlich erstaunlich. Diese Entwicklung hat jetzt erst vor zwei oder drei Jahren begonnen. Und heute macht MHD sogar Musik für US-amerikanische Künstler. Französischer Hip-Hop ist also grenzüberschreitender geworden.
    Einfluss von den französischen Inseln und den Überseegebieten
    Walther: Wenn ich Sie also richtig verstanden habe, ging es vorher um die Konkurrenz zwischen der "Provinz" und der französischen Hauptstadt, aber jetzt kommt ein dritter Faktor hinzu: der Transnationalismus.
    Vedel: Ja, genau. Das ist vor allem der Einfluss von den französischen Inseln und den Überseegebieten. Also für uns hier in der Metropole eine echte Inspiration. Das sind wie gesagt afrikanische, aber auch karibische Klänge, wie zum Beispiel von der französischen Insel La Réunion. Oder auch aus der Region des Golfs von Guinea oder der afrikanischen Elfenbeinküste. Und aus den Maghreb-Staaten. Neue Klänge, die mehr und mehr eine wirklich schöne Rolle im Rap spielen.
    Zum Nachhören in der Langfassung und im französischen Originalton: das Corsogespräch mit Boris Vedel
    Walther: Welche Rolle hat Paris in dieser Entwicklung gespielt, und wird sie sich in Zukunft ändern?
    Vedel: Ich denke, Paris wird immer der Mittelpunkt der französischen Kreativität bleiben. Wir sind ein sehr zentralisiertes Land. Auch wenn der Staat durch Kulturpolitik versucht, die Musikszene zu dezentralisieren. Aber Paris ist wirklich einfach ein Schwergewicht. Die Großraum Paris hat fast 15 Millionen Einwohner und repräsentiert somit immerhin ein Fünftel der Bevölkerung. Dort gibt es eine Menge Musikschaffende und es gibt eine kulturelle Infrastruktur, die dieses Schaffen ermöglicht. So wird Paris immer eine treibende Kraft bleiben. Trotzdem gibt es heute die Tendenz, ein neues Gleichgewicht zu finden. Das wirkt sich positiv auf die Regionen aus. Das ist eine ganz neue kulturelle Kraft; aber sie kommt eben auch von der geplanten Dezentralisierung der französischen Kulturpolitik. Beides fördert das kreative Schaffen in den Regionen, nicht mehr nur das in Paris.
    Walther: Dieses Jahr kommen zu ihrem Festival Künstler wie Ash Kidd, der in Straßburg lebt, oder Lala &ce, die in Lyon arbeitete, bevor sie nach London zog. Wollen Sie diese kultur-politische Dezentralisierung unterstützen, indem sie Künstler einladen, die nicht unbedingt aus der Hauptstadt kommen?
    Vedel: Nein, die neue Politik ändert nicht wirklich etwas an unserer Arbeit. Wissen Sie, im Rahmen unseres Festivals "Printemps de Bourges" haben wir immer schon die regionale Entwicklung gefördert. Ein Teil unserer Arbeit ist die Talentsuche mit dem Programm "Les Inouïs du Printemps de Bourges". Um neue, aufstrebende Künstler zu entdecken, organisieren wir Talentwettbewerbe in ganz Frankreich und im französischsprachigen Ausland, also in Belgien, der Schweiz und Quebec. Die Gewinner können dann bei uns auftreten. Diese Außenstellen überall in den verschiedenen Regionen sind für uns die Quelle neuer Stimmen und helfen den Künstlern, anschließend überregional erfolgreich zu sein. Durch die Dezentralisierung gibt es vielleicht jetzt ein größeres Angebot, also mehr regionale Künstler, die sich vorstellen – aber am Ende benachteiligen wir niemanden, nur weil er oder sie aus Paris kommt.
    "Überall in der Hip-Hop Szene nach Frauen Ausschau gehalten"
    Walther: Kommen wir zu den beiden eingeladenen Hip-Hop-Künstlern zurück. Warum haben Sie gerade Ash Kidd oder Lala &ce für Ihr Festival ausgewählt?
    Vedel: Bei der Auswahl der Künstler entscheiden wir vor allem nach Qualität, ob wir die Musik mögen oder eben nicht. Wir schauen also nicht unbedingt auf die Herkunft der Künstler, die wir uns anhören und schließlich einladen, aber auf ein besonderes Kriterium schon: Wir haben überall in der Hip-Hop Szene nach Frauen Ausschau gehalten. Das ist doch die eigentliche Debatte heute. Ich denke, dass es in der urbanen Musikszene in der Tat darum geht, Gleichheit zu schaffen. Zwischen den verschiedenen Regionen, aber auch zwischen Männern und Frauen auf der Bühne. Und da ist die Hip-Hop-Szene anderen nicht wirklich voraus.
    Walther: Wir haben das gleiche Problem in Deutschland.
    Vedel: Ja, das ist ein echtes Problem.
    Walther: Und wie wollen Sie das ändern? Haben Sie also in der Auswahl der Künstler besonders nach Frauen in den Szene gesucht?
    Vedel: Wir haben gesucht und gesucht. Aber gefunden haben wir sie nicht wirklich. Also jedenfalls wenige, die uns sofort umgehauen hätten. Ich glaube, wir brauchen ein bisschen "positive Diskriminierung", wie man hier in Frankreich sagt. Was ich damit meine, ist, dass wir einer Gruppe von Menschen einen Platz geben, die nicht nur das Kriterium "Qualität" erfüllt. Viele Leute sind gegen diese Herangehensweise. Sie sind der Meinung, dass sich vor allem Qualität durchsetzen muss. Ich persönlich denke, dass wir eine Prise positiver Diskriminierung brauchen, um langfristig Veränderung zu ermöglichen. Es sind junge, weibliche Künstlerinnen auf der Bühne, die andere junge Frauen dazu bringen, Musik und Rap zu machen. Und da sehe ich mich als Festivalleiter in der Verantwortung, das zu fördern.
    "Belgien erobert gerade die Welt"
    Walther: Auf Ihrem Festival werden auch viele belgische Hip-Hop-Künstler vertreten sein, wie zum Beispiel Lompal. Welchen Einfluss hat die belgische Szene derzeit auf die französische?
    Vedel: Oh, sie ist riesig. Belgien erobert gerade die Welt. Aber gut, das war schon immer der Fall. Jacques Brel, sogar Johnny Hallyday hatten belgische Wurzeln. Also die belgische Szene war schon immer sehr wichtig in Frankreich. Aber es stimmt, es hat sich etwas verändert. Ihr Einfluss nimmt seit drei, vier Jahren sehr stark zu. Nicht nur im Rap, auch in der elektronischen Musik.
    Walther: Wo sehen Sie das "Printemps de Bourges" in der Festivallandschaft Frankreichs?
    Vedel: Die Besonderheit ist folgende: Es ist ein Festival, das Kreativität, Entdeckung und Entwicklung in den Vordergrund stellt. Es ist also vor allem ein kulturelles Projekt und kein kommerzielles. Das unterscheidet uns von anderen. Und wir sind das erste Festival des Jahres und eröffnen damit die Saison. Also haben wir schon lange den Ruf, neue Stimmen zu entdecken und zu präsentieren und damit Trends für den Rest des Jahres zu setzen. Deshalb kommen auch viele französische Musikkenner zu uns. Ganz einfach, um die aktuelle Kunstszene zu entdecken. Es ist also jedes Jahr wieder ein Markt für neue Trends und neue Künstler.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.