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Hirnforschung
Eckart Altenmüller: "Vom Neandertal in die Philarmonie"

Musik kann starke Emotionen auslösen. Aber was passiert im Gehirn, wenn Klänge unsere Psyche beeinflussen? Der Neurowissenschaftler Eckart Altenmüller erklärt, warum wir beim Musikhören manchmal eine Gänsehaut bekommen - und wie die Musik überhaupt in die Welt kam.

Rezension von Martin Hubert |
    Konzertsaal der HfM Würzburg
    Konzert an der Hochschule für Musik in Würzburg (HfM Würzburg)
    Vor allem Musikmuffeln sei gleich verraten: Dieses Buch hält, was es verspricht. Und sein Autor ist dafür prädestiniert, über die Geheimnisse der Musik und ihren Wert für den Menschen aufzuklären. Eckart Altenmüller ist nicht nur Professor an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover. Er ist auch selbst Musiker und hat als Neurowissenschaftler erforscht, wie Musik im Gehirn organisiert ist und wie sie die Psyche beeinflusst. Mitunter erzeugt sie zum Beispiel die so genannte "Chill-Reaktion", eine emotionale Gänsehaut, die jeder kennt, wenn Musik ihn mit Glücksgefühlen durchrieselt. Für Altenmüller weist sie auf die evolutionären Wurzeln und Funktionen von Musik hin.
    "Negative Chill-Reaktionen erfolgten vielleicht, wenn Artgenossen unter kreischenden, panischen Schreien von einem Feind angegriffen wurden. Man kann sie als Reste eines alten affektiven Kommunikationssystems interpretieren. Das zweite evolutionär adaptive Merkmal der Chill-Reaktion ist die Erzeugung von positiven Emotionen. Durch die Aktivierung des sympathischen Nervensystems und des Belohnungssystems war Musik in der Lage, den frühen modernen Menschen in ihrem harten Leben Momente des Glücks und des Trostes zu schenken."
    Musik ist für Altenmüller bis heute eine akustische Form emotionaler Kommunikation geblieben. Er demonstriert das anschaulich daran, wie etwa die Matthäuspassion beim Hörer Hirnsysteme, Erinnerungen und Gefühle aktiviert. Da gemeinsame Hörerlebnisse Menschen verbinden, plädiert Altenmüller für eine sehr weite Definition von Musik.
    "Musik sind bewusst gestaltete, in der Zeit gegliederte und nichtsprachliche akustische Ereignisse in sozialen Zusammenhängen."
    Das Buch liest sich wie ein verständlich und spannend geschriebenes Lexikon, denn neben dem Fließtext gibt es immer wieder Einschübe, die sich einzelnen Details oder Theorien widmen. Beide Textformen geben auf fast alle Fragen zur Musik Antwort. Wie funktionierten die ersten Instrumente und wer spielte sie? Wie entstehen aus Schall Klänge, aus Klängen Töne und aus Tönen Melodien? Und wie verändert Musik das Gehirn von Hörern, Musikern und Dirigenten? Eckart Altenmüller beschreibt auch ausführlich, inwiefern Musik bei der Therapie von Schmerzerkrankungen, Schlaganfällen und Demenz helfen kann. Immer wieder kann man dazu passende Musikbeispiele nachhören, im Buch finden sich dazu die entsprechenden Internet-Links. Der Autor zerstört aber auch einige Illusionen. Für die These etwa, dass früher Musikunterricht das Denkvermögen steigert, gibt es bis heute keinen wissenschaftlichen Beleg.
    "Viel bedeutsamer sind möglicherweise neue Befunde, nach denen musizierende Kinder kooperativer und hilfsbereiter sind. Gemeinsames Musizieren fördert demnach die emotionale Kompetenz von Kindern."
    Musik befreit wohl eher vom Zwang zum zielgerichteten Denken und Sprechen. Sie ist eine Schutzzone der Emotionen und deshalb für das menschliche Zusammenleben unersetzlich.
    Zielgruppe
    Musikliebhaber und alle, die endlich begreifen wollen, warum sich so viele Menschen vom Reich der Töne begeistern lassen.
    Erkenntnisgewinn
    Musik ist eine uralte evolutionäre Erfindung, die bis heute Gehirn, Geist und Gefühle zutiefst beeinflussen kann.
    Spaßfaktor
    Das Buch ist eine gelungene Komposition aus Thesen, Informationen und Klängen.
    "Vom Neandertal in die Philharmonie:
    Warum der Mensch ohne Musik nicht leben kann"
    Sachbuch von Eckart Altenmüller
    Springer-Verlag, 511 Seiten, 24,99 Euro