Das Neuroimagezentrum der Universität Glasgow. Mein Ziel liegt auf einem kleinen Hügel im Westen der schottischen Metropole Glasgow. Während ich mich mit dem Auto über schmale Straßen nach oben arbeite, achte ich natürlich hauptsächlich auf den Verkehr. Aber längst nicht auf alle Details. Was hatte der Radfahrer gerade an? War das gerade ein Pub? Könnte ich nicht sagen. Stattdessen schweifen meine Gedanken immer wieder ab, kreisen um den gestrigen Abend, und den kommenden Nachmittag.
Lars Muckli: "Ich bin heute der Meinung, dass das Gehirn vor allen Dingen eine Vorhersagemaschine ist, die versucht, alle zu erwartende Information herauszufiltern, so dass ich mich auf die eigentlich überraschenden, interessanten Aspekte konzentrieren kann."
Wenig später stehe ich im Dienstzimmer von Professor Lars Muckli, einem jungen deutschen Neuropsychologen, der seit mehreren Jahren am Centre for Cognitive Neuroimaging der Universität Glasgow arbeitet. Bücherregale, Besprechungstisch, ein Schreibtisch voller Papiere – die üblichen Utensilien eines Forscherbüros. An der Stirnseite des Zimmers bleibt mein Blick hängen. Dort lehnt schräg an der Wand ein fast mannshohes Gemälde: zwei Tiere mit buntem Federkleid. Zu welcher Art sie gehören, kann ich nicht erkennen. Doch über den Tieren schweben zwei vornehme schwarze Hüte - ? Das passt nicht zusammen! Mein Blick wandert irritiert zwischen Tieren und Hüten hin und her. Lars Muckli lacht, dann erklärt er mir, dass das ein Gemälde seiner Frau sei. Es handle sich um Papageien und wir seien schon mitten im Thema.
"Nachdem ich jetzt gesagt habe, dass das Papageien sind, werden Sie die nicht mehr als Nichtpapageien sehen, wahrscheinlich. Plötzlich wird ein Bild anders interpretiert, ein internes Modell wurde generiert, was jetzt so stabil ist, dass immer wieder, wenn man das Bild sehen wird, es in diese Interpretation hineinfällt."
An Kippbildern und rätselhaften Szenen lässt sich wunderbar veranschaulichen, wofür sich Lars Muckli begeistert. Für ein neues Paradigma der Hirnforschung: das Bild vom Gehirn als einer Vorhersagemaschine.
"Die Idee ist eben die, dass das Gehirn vor allen Dingen versucht ist, Überraschungen zu vermeiden und Erklärungsmodelle so komplex zu gestalten, dass es die Umgebung vorhersagbar macht."
Man versteht einen Satz oft schon, bevor er zu Ende gesprochen wird. Erkennt einen Hund bereits, wenn nur dessen Schnauze zu sehen ist. Ein paar Reize genügen, und schon ergänzt das Gehirn sie mit seinen Modellen zu fertigen Mustern.
"Die inneren Modelle sind reichhaltiger als die außen verfügbaren Informationen. Insofern ist es korrekt, in meiner Vorstellung, davon zu reden, dass man sich eine Welt erträumt in einer gewissen Art und Weise."
Der Traum kann jederzeit platzen: Der Gesprächspartner beendet den Satz ganz anders als gedacht. Der Hund erweist sich als Schatten an der Wand. Die vermeintlichen Hüte sind Papageien. Für die Vertreter des neuen Hirnparadigmas sind das "Vorhersagefehler".
Lars Muckli: "Also Bewegung der Augen, Bewegung des Körpers führen zur Veränderung der Umgebung und wenn sich die Umgebung überraschend verändert, dann ist diese überraschende Veränderung, dieser Fehler in der Vorhersage, ein Signal, welches verarbeitet werden muss und neu interpretiert werden muss."
Das Gehirn muss sich viel zu oft mit Vorhersagefehlern herumschlagen. Für Lars Muckli hat es dennoch unendlich viel gewonnen. Es muss sich nicht ständig mit der ganzen Welt befassen, sondern nur mit seinen Irrtümern.
"Was erklärbar ist, wird aus der Weiterverarbeitung herausgenommen und nur das, was unerklärbar und überraschend ist, wird weiterverarbeitet."
Das Gehirn - ein Hypothesengenie? Die Idee hat eine lange Tradition. Der deutsche Psychologe und Physiker Hermann von Helmholtz vertrat sie zum Beispiel schon Ende des 19. Jahrhunderts. Nun aber soll sie helfen, die ungelösten Probleme der Hirnforschung in den Griff zu bekommen.
"Wir haben sehr viel verstanden von dem Gehirn, von den Bausteinen des Gehirns, sehr viel von der Informationsweitergabe und dennoch gibt es große konzeptuelle Probleme zu verstehen, wie das Gehirn tatsächlich funktioniert, was die ureigenen Eigenschaften sind, die das Gehirn besonders gut kann. Und ich nehme gerne mal eine Metapher von David Marr, der gesagt hat, die Hirnforschung ist so ähnlich wie Naturforscher, die versuchen zu verstehen, wie ein Flügel funktioniert und die Vögel untersuchen. Und man kann diese Untersuchung dann auf allen möglichen Levels machen, also die Farben der Federn untersuchen, die Mikrostruktur der Federn untersuchen. Aber es ist das ureigene Prinzip des Profils des Flügels, welches man verstanden haben muss, und sobald man das verstanden hat, kann man es in artifizielle Systeme übernehmen und künstliche Objekte machen, die fliegen."
An Theorien, wie das Gehirn funktionieren könnte, mangelt es nicht. Eine Zeit lang interpretierten Wissenschaftler das Gehirn als eine Art Computer, der einer bestimmten Software gehorcht. Das stieß schnell an Grenzen. Dann ging man dazu über, das Gehirn als Organ zu verstehen, das im Wechselspiel mit der Umwelt sich selbst organisiert. Oder begriff es als Ansammlung komplexer Nervennetze, die miteinander kommunizieren. All das brachte gewisse Erfolge. Aber keines dieser Paradigmen lieferte ein Robotergehirn, das es mit dem menschlichen Gehirn hätte aufnehmen können. Lars Mucklis Schlussfolgerung
"Dieses ureigene Prinzip: "Was macht das Gehirn intelligent?" ist bisher noch nicht verstanden."
Modelle strukturieren Wahrnehmung
Führt nun der neue Ansatz endlich zum Kern menschlicher Intelligenz? Demnach versteht sich das Gehirn nicht nur auf Hypothesen sondern auch auf Statistik. Ständig berechnet es, welche Ursachen am wahrscheinlichsten sind, um die einlaufenden Sinnesdaten zu erklären. Stammen sie von einem Hund oder einem Papagei? Auf unterschiedlichen Verarbeitungsstufen versucht das Gehirn, Modelle und Signale einander anzugleichen, und dabei "Vorhersagefehler" zu minimieren. Eine in sich konsistente Theorie - aber wie sieht es mit den Belegen aus?
"Sie sehen entweder zwei Gesichter, die sich anschauen im Profil oder Sie sehen eine Vase. Wichtig dabei ist: wenn Sie länger drauf schauen kippt das Βild hin und her, also Sie sehen entweder einmal die beiden Gesichter oder Sie sehen die Vase, aber Sie sehen nie beides gleichzeitig"
Das Kippbild der "Rubinschen Vase" hat wahrscheinlich jeder schon einmal gesehen. Es beruht auf dem gleichen Prinzip wie das Papageienbild von Lars Mucklis Frau und ermöglicht gleichberechtigt zwei sich widersprechende Deutungen. Guido Hesselmann von der Berliner Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie legte Versuchspersonen in einen Hirnscanner und zeigte ihnen das Kippbild so kurz, dass es nicht mehr kippen konnte. Bei jedem Aufblitzen sahen die Versuchspersonen also entweder die zwei Gesichter oder die Vase. Bevor das Bild präsentiert wurde, registrierte der Scanner spontane Fluktuationen, das sind Aktivitätsschwankungen im Gehirn. Manchmal war ein Areal aktiver, das an der Gesichtserkennung beteiligt ist, manchmal eines, das Objekte wie eine Vase verarbeitet.
"Dann zeigen wir den Stimulus, die Probanden reagieren, was sie gesehen haben, entweder Vase oder Gesichter. Und wichtig ist, dass wirklich ein Einfluss dieser Aktivierung vor dem Stimulus dazu führt, dass sie eine bestimmte Interpretation des Stimulus auswählen."
Waren die Fluktuationen im Gesichtsareal stärker, sahen die Versuchspersonen hinterher Gesichter. War vorher das Objekterkennungsareal stärker erregt, sahen sie die Vase. Das sei ein guter Beleg dafür, dass in den Erregungsmustern der Hirnareale Modelle stecken, meint Hesselmann. Solche Modelle könnten auch im wahrsten Sinne des Wortes beeinflussen, was ein Mensch als "normal" empfindet. Hinderk Emrich, emeritierter Psychiatrieprofessor der Medizinischen Hochschule Hannover hat das schon vor 20 Jahren untersucht. Er präsentierte Versuchspersonen die hohle Rückseite von Gesichtsmodellen.
"Solche Experimente sehen so aus, dass man sehr präzis gemalte Hohlmasken menschlicher Gesichter erzeugt und die illusionäre Wahrnehmung, die wir normalerweise bei der Betrachtung dieser Masken haben, ist eine Wirklichkeitsüberarbeitung. Mit anderen Worte: wir sehen etwas, was real nicht vorhanden ist."
Normalerweise beschrieben die Versuchspersonen die Masken so, als seien es wirkliche, plastische Gesichter und keine Hohlmasken. Hinderk Emrichs Schlussfolgerung: Sie korrigierten ihre Wahrnehmung, um den Eindruck bedrohlicher Masken zu vermeiden. Ein inneres Modell überarbeitet demnach die Reize nach dem Motto: Was einem Gesicht ähnelt, ist normalerweise auch eines. Allerdings galt das nicht für jede Versuchsperson.
"Bei Störungen dieser Korrekturleistungen unter Psychedelika bzw. in der schizophrenen Psychose wird dann aber diese tatsächlich vorhandene Hohlmaske wahrgenommen."
Das passt zur Annahme vom Gehirn als einer Vorhersagemaschine.
"Man könnte sagen, die Weisheit dieses Systems liegt darin, das lebenspraktisch Sinnvolle zu bevorzugen. 'Was nicht sein kann, das nicht sein darf.'"
Im Centre for Cognitive Neuroimaging der Universität Glasgow hat mich Lars Muckli inzwischen ins Untergeschoss des Gebäudes geführt. Hinter dicken Sicherheitstüren arbeitet ein Magnetresonanztomograph, im Raum davor auf einem langen Tisch zahlreiche Computer. Hier führt Lars Muckli seine Experimente durch, Experimente, die das Paradigma systematisch abklopfen sollen. Forschungsgebiet ist das Sehsystem. Eine Studie zum inneren Aufbau des visuellen Systems, eines Hirnbereichs im Hinterkopf, hat Muckli bereits vor ein paar Jahren abgeschlossen. Die Eingangspforte dieses Sehsystems, erklärt er, ist ein Areal mit der Bezeichnung V1. Hier treffen die Sehreize aus dem Auge ein. Anschließend werden sie schrittweise in den Arealen V 2 bis V 5 zu immer bewussteren Seheindrücken verarbeitet.
"Jetzt ist es aber so, dass nur fünf Prozent der neuronalen Projektionen in diese Region direkt von dem Auge in V1 hinein projiziert werden Jedes Neuron dieser Region V1 hat viel mehr Verbindungen zu den Nachbarzellen und der Nachbarregion V2 - höheren kortikalen Regionen. Also V 1 bekommt eine reichhaltige Information von ganz vielen Regionen im Gehirn."
Anatomisch gesehen scheint das Gehirn also fähig zu sein, sein "Vorwissen" auf die eintreffenden Sehreize anzuwenden.
Muckli: "Das ist eine Hypothese, die wir versuchen im visuellen System zu untersuchen: wie wirkt der räumliche Kontext und zeitliche Kontext auf die Verarbeitung einkommender Information?"
Versuchspersonen sehen auf einem Bildschirm zwei Leuchtpunkte. Sie blinken regelmäßig im gleichen Abstand hintereinander auf. Eine Scheinbewegung entsteht: die Vorstellung, es würde eine Linie vom frühen zum später aufblinkenden Punkt gezogen. Lars Mucklis Team ließ nun genau in der Mitte zwischen den beiden Punkten einen neuen Punkt aufleuchten. Zunächst zeigte sich der neue Punkt exakt so, wie es die Scheinbewegung erwarten.ließ. Im nächsten Durchgang passte er nicht in den zeitlichen Kontext. Lars Muckli fragte die Versuchspersonen, wie intensiv sie den neuen Punkt wahrnahmen. Und er registrierte im Hirnscanner, wie stark die Sehareale auf ihn reagierten. Das Ergebnis:
"Dieser Blinkreiz wird unterschiedlich verarbeitet. Wenn er von einem internen Modell schon vorhergesagt wurde, dann wird weniger Energie im Gehirn benötigt, um ihn zu verarbeiten, aber er wird deutlicher wahrgenommen. Wenn der Punkt nicht raumzeitlich zu diesem Kontext passt, dann wird mehr Energie aufgewendet in V1, aber das überraschende Signal wird nicht effektiv verarbeitet."
Das Sehsystem kann auch komplexere Szenen ergänzen, Bilder etwa, in denen Lücken klaffen. Auch hier hat Lars Muckli die Vorgänge im Gehirn protokolliert. Er lädt ein Computerprogramm, um das Experiment zu erklären.
"Also der Proband liegt in einem MRT, das ist ein 3-Tesla-Scanner, und sieht diese Bilder, die man auch hier auf diesen Bildschirmen sehen kann. Der rechte untere Teil ist mit so einem weißen Bereich abgedeckt, und das ist genau der Teil, den wir genau untersuchen, der uns interessiert. Da sieht man jetzt eine Großstadt, New York oder so etwas, und in dem rechten unteren Teil fehlt es etwa - Und das Interessante für uns ist nun, zu verstehen, wie das Gehirn einfügt diese fehlende Information."
Aus dem verdeckten Bildteil konnten keine Reize ins Sehsystem gelangen. Trotzdem registrierte Lars Muckli in den zuständigen Sehregionen Aktivitäten, die zum Gesamtmuster des Bildes passten. Irgendwoher mussten sie Informationen bekommen haben, mit deren Hilfe sie die Bildlücke schließen konnten. Von den benachbarten Bildteilen, folgert Muckli. Der Kontext liefert passende Hypothesen, glaubt er. Die Vorhersagekraft beschränkt sich nicht auf das Sehsystem. Wie Muckli zeigen konnte, fließen Informationen zwischen allen verfügbaren Sinnen, zum Beispiel auch zwischen Hören und Sehen. Jeder hört bei dieser Geräuschkulisse eine Partygesellschaft. Tatsächlich reagierte im Test auch das Sehsystem unter der Schädeldecke. Genau so, wie ein entsprechendes Bild hätte erwarten lassen.
"Das ist ein ganz wichtiger Beitrag zu dem Verständnis, dass eben Regionen im Gehirn die ganze Zeit miteinander in Kommunikation sind und interne Modelle oder Vorhersagen austauschen."
Lars Mucklis Studien zum Sehsystem unterstützen das Bild vom Gehirn als einer Vorhersagemaschine. Und er hat Mitstreiter in aller Welt. Schon länger erforscht wird zum Beispiel der Vorhersagemechanismus beim Belohnen. Wer Angenehmes erwartet, fördert im Gehirn die Ausschüttung belohnender Substanzen. Auch das Bewegungssystem arbeitet mit Vorhersagen, die während des Bewegungsablaufs ständig neu justiert werden. Andere Forscher untersuchen zum Beispiel, wie Zellen in der Retina nach dem Vorhersagemodell arbeiten. Englische Forscher haben eine Theorie entwickelt, wie Erwartungen dazu beitragen, körperliche Erregungen in Emotionen zu verwandeln. Und der New Yorker Neurowissenschaftler Rudolfo Llinas sieht im menschlichen Selbst die Zentralinstanz, die alle Vorhersagen des Organismus koordiniert. Eine beeindruckende Palette - aber genügt das wirklich, um zu sagen: Heureka, das Gehirn ist in seinem Innersten verstanden! Vor allem eine Frage drängt sich auf: Warum eigentlich arbeitet das Gehirn als "Hypothesengenie"?
"Ich bin davon überzeugt, dass es viel einfacher ist als Sie denken."
Diese Sätze höre ich aus dem Mund von Professor Karl Friston, dem wissenschaftlichen Direktor des Wellcome Trust Centre for Neuroimaging am University College London. Karl Friston hat bereits viel beigesteuert, um die Zusammenhänge im Gehirn zu ergründen. Aber sein Ehrgeiz geht darüber noch hinaus.
"Die Neurowissenschaft hat viele Einzelergebnisse geliefert, ist aber arm an Theorie. Wir brauchen daher eine einheitliche Hirntheorie. Sie sollte einfache Prinzipien liefern, mit denen man die äußerst komplexe Architektur des Gehirns und den ausufernden Reichtum empirischer Hirndaten erklären kann."
Schutz vor Überraschungen
Auch Friston betrachtet das Gehirn als Vorhersage-Künstler. Aber er will das Paradigma noch einmal in ein höheres Prinzip überführen. Er nennt es das "Prinzip der freien Energie".
"Das Prinzip der freien Energie besagt, dass alle Organismen, die überleben, der natürlichen Tendenz zur Unordnung und Auflösung widerstehen. Ein Weg, das zu gewährleisten, besteht darin, in einer Weise mit der Welt in Kontakt zu treten, dass wir eine innere Struktur aufrechterhalten. Wir streben nach Konstanz und möchten Überraschungen vermeiden."
Die Notwendigkeit, eine konstante innere Ordnung zu erhalten, ist für Karl Friston der eigentliche Grund dafür, warum alle Organismen mit Vorhersagen und Hypothesen arbeiten. Das Gehirn nutzt innere Modelle, um Reize zu interpretieren, weil das energetisch weniger aufwändig ist als sie immer neu zu berechnen. Und weil so die innere Struktur des Gehirns - die Ansammlung seiner Modelle – möglichst lange konstant gehalten werden kann. Erst wenn die Sinnessysteme abweichende Daten melden, gibt das Gehirn die alte Ordnung auf und erschafft bessere Modelle.
Karl Friston: "In meiner Fassung handelt es sich nicht mehr um die thermodynamische freie Energie, wie sie in der statistischen Physik berechnet wird. Nur formal gesehen handelt es sich um das gleiche mathematische Konzept. Ich übertrage es einfach auf die Informationstheorie."
Mit eleganten Formeln rechnet Karl Friston in wenigen Zeilen vor, dass das Gehirn zwangsläufig bestrebt sein muss, den Energieeinsatz zu minimieren. Lebendige Systeme müssen Unordnung vermeiden, das informationsverabeitende Gehirn Überraschung, lautet seine neurowissenschaftliche Weltformel. Zusammen mit anderen Hirnforschern versucht er, daraus alle Eigenheiten des Gehirns abzuleiten. Zum Beispiel, dass die Areale der Großhirnrinde hierarchisch gegliedert sind. Dass das Gehirn Feedbackschleifen braucht. Oder dass die Kontrolle von Bewegung auf der Vorhersage von Körperempfindungen beruht. Umgekehrt besteht überhaupt kein Grund mehr zur Veränderung, wenn zwingende Körpersignale ausbleiben. Das zeigt das Beispiel Parkinson. Friston hat die Krankheit in einer Simulation nachgestellt:
"Die Sensibilität von Nervenzellen reguliert der Körper normalerweise wirkungsvoll, indem er die Konzentration bestimmter Hirnbotenstoffe wie das Dopamin verändert. Bei der Parkinsonschen Erkrankung wird das Dopamin allerdings abgebaut. Daraufhin reagieren die Nervenzellen weniger auf neue Informationen und die Menschen erstarren, werden bewegungslos. Wenn wir in Computersimulationen die Präzision herabmindern, mit denen das Gehirn Vorhersagefehler entdeckt, geschieht etwas Vergleichbares. Der simulierte Agent hört dann auf, sich zu bewegen. Er kennt seine aktuelle Position nicht mehr richtig. Also gibt es auch keinen Grund mehr für ihn, sich fortzubewegen und Vorhersagen zu machen."
Alles im Gehirn ergibt Sinn, sagt Karl Friston, wenn man es einer Informationstheorie der freien Energie unterwirft.
"Viele Leute sind davon begeistert!"
Professor Henrik Walter ist Neurowissenschaftler und Philosoph am Brain-and-Mind-Institut der Charité Berlin. Wie viele andere hat auch er sich mit der Theorie Karl Fristons auseinandergesetzt.
"'Free energy' hört sich toll nach Physik an und sehr allgemein. Aber es hört sich nicht nur toll an, sondern es ist tatsächlich so, dass postuliert wird: Das erklärt uns fast alles, was wir vorher anders auch erklären konnten, aber nicht so gut."
Beispiel: Gesichtserkennung. Bisher erklärte man das Zusammenspiel der Nervenzellen dabei so: Immer dann, wenn ein Gesicht auftaucht, sind bestimmte Nervenzellen gleichzeitig aktiv. Das stärkt ihre Verbindungen untereinander und es entsteht ein neuronales Modell dieses Gesichts. Mit Karl Friston lässt sich das nun auf ein universales Gesetz zurückführen. Eine Nervenzelle sagt voraus, dass auch andere Nervenzellen aktiv sein müssen, wenn gewisse Gesichts-Signale auftauchen. Stimmt diese Vorhersage nicht, verändert die Nervenzelle ihre Verbindungsstärke zu den anderen Neuronen, um den Vorhersagefehler zu minimieren. Als abstraktes mathematisches Konzept, erklärt mir Henrik Walter, sei Karl Fristons Theorie hoch interessant. Allerdings sei ihr abstrakter Charakter auch ein Problem.
"Das Problem mit der Mathematik ist ja: mit komplizierter Mathematik kann man alles erklären, und die Frage ist, wie stark spiegelt das die Realität wieder. Da gibt es einige Hinweise, zum Beispiel die Verschaltung von Kolumnen, die Verschaltung des Gehirns, manche Befunde aus Verhalten und Neurowissenschaften. Aber eine Frage ist, zum Beispiel: Wenn die Theorie falsch wäre, wie könnte man sie denn als falsch erweisen? Wenn Friston das gefragt wird, dann sagt er: Na ja, es ist keine Theorie, sondern nur ein Prinzip. So ein bisschen Selbstimmunisierung, erscheint manchmal der Eindruck. Aber es ist einfach noch zu früh, um das zu sagen. Zu früh, weil es noch ein frischer mathematischer Ansatz ist, zu früh, weil kaum einer ihn versteht und zu früh, weil kaum einer ihn überprüfen kann, weil er ihn nicht versteht."
Erwartung leitet Gedächtnis
Auch die Anhänger eines hypothesenbildenden Gehirns räumen ein: Nicht alle Fragen lassen sich mit Fristons eleganten Formeln beantworten. Zum Beispiel können die Forscher bisher nicht angeben, wo genau der Vorhersageirrtum verarbeitet wird. Außerdem ist zwar unbestritten, dass das Gehirn häufig mit Hypothesen arbeitet. Aber handelt es sich immer um ein und denselben universellen Mechanismus? Diese Frage stellt sich zum Beispiel angesichts neuer Erkenntnisse aus der Gedächtnisforschung.
"Eine relativ neue Idee in der Erforschung des Langzeitgedächtnisses lautet: Was wir vor einem Ereignis machen, hat Einfluss darauf, wie gut wir es im Gedächtnis behalten. Wenn wir also auf die Hirnaktivität schauen, bevor sich etwas ereignet, können wir vorhersagen, wie gut jemand es später erinnern kann. Wir bezeichnen das als Antizipationseffekt."
Dr. Leun Otten erzählt mir von ihren Gedächtnisforschungen im Londoner University College, gar nicht weit von Karl Fristons Zimmer entfernt. Sie hat die Vorhersagekraft der Hirnaktivität für spätere Erinnerungsleistungen an 13 Männern und Frauen getestet. Bevor die Neurowissenschaftlerin ihnen Bilder präsentierte, gab sie ihnen Hinweise, ob gleich ein bedrohliches oder ein neutrales Bild zu sehen sein würde. Gleichzeitig analysierte sie mit Elektroden die Hirnwellen der Versuchspersonen. Eine halbe Stunde später testete sie, wie gut die Probanden die einzelnen Bilder in Erinnerung behalten hatten. Das Ergebnis:
"Kurz nachdem die Versuchspersonen darauf hingewiesen werden, welche Art von Bild sie gleich sehen, zeigt ihre Hirnaktivität oft an, wie gut sie sich daran erinnern werden. Überraschenderweise gilt das aber nur für die bedrohlichen Bilder und nur für Frauen."
Offenbar macht die Vorhersage, dass gleich ein bedrohlicher Reiz kommen wird, das Erinnerungssystem im weiblichen Gehirn hoch empfänglich. Aber warum gerade bei Frauen und nur bei bedrohlichen Reizen?
"Wir wissen es nicht. Es könnte sein, dass Frauen auf diese Weise versuchen, mit bevorstehenden unangenehmen Ereignissen umzugehen. Vielleicht haben die Bilder dann aktuell weniger Einfluss auf die Frauen und sie fühlen sich besser - irgendetwas in diese Richtung."
Eine weitere Studie von Leun Otten zeigte, dass Frauen diesen Vorhersagemechanismus auch bewusst unterdrücken können. Er ist also nicht nur sehr spezifisch, sondern offenbar auch kein ehern ablaufender Mechanismus des Gehirns. Inwieweit, frage ich Leun Otten, könnte er trotzdem in Beziehung stehen zu den Ideen der freien Energie und des Gehirns als Vorhersagemaschine?
"Ich weiß nicht, ob diese Prinzipien auch auf unsere Arbeit über das Langzeitgedächtnis anwendbar sind Es könnte sich schon um allumfassende Prinzipien handeln, aber wir wissen einfach noch nicht genug, um die Beziehung zwischen unserer Arbeit und der von Karl Friston zu verstehen."
Immerhin: Die Idee, das Gehirn mit Hilfe des neuen Prinzips irgendwann nachbauen zu können, inspiriert inzwischen einige Wissenschaftler. Die Hypothesen werden zur Zeit intensiv untersucht. Der amerikanische Softwarespezialist Jeff Hawkins arbeitet sogar schon an neuartigen Computerchips, die nach dem Vorhersagemodell arbeiten. Ob das Wesen des Gehirns aber wirklich darin besteht, eine große Vorhersagemaschine zu sein, muss sich erst noch zeigen. Nicht wenige Hirnforscher warnen jedenfalls davor, das komplexe Organ auf ein einziges Prinzip zu reduzieren. Der Natur des Gehirns, meinen sie, komme man womöglich dann am nächsten, wenn man alles zusammen nimmt: seinen Netzwerkcharakter, sein Wechselspiel mit Körper und Umwelt und sein Vorhersagetalent.