Die überwiegende Mehrheit des Deutschen Ethikrat vertrete die jetzige Praxis in Deutschland, sagte Nagel. Doch es gebe auch Kollegen, die den Hirntod als unumkehrbaren Beginn des Sterbeprozesses definieren und dementsprechend eine andere Einordnung vornehmen würden. Heute wird der Rat seine Stellungnahme "Hirntod und Entscheidung zur Organentnahme" vorstellen.
Das Interview in voller Länge:
Dirk-Oliver Heckmann: In Deutschland, da gilt ein Mensch als tot, wenn eindeutig der Hirntod festgestellt worden ist. Doch an diesem Konzept, dem auch die beiden großen Kirchen zugestimmt hatten, meldeten Kritiker zuletzt Zweifel an. Sie halten den Hirntod für kein ausreichendes Kriterium.
Mitgehört hat Professor Eckhard Nagel, der Ärztliche Direktor des Uniklinikums Essen. Er ist auch Mitglied des Deutschen Ethikrats, der heute eine umfangreiche Stellungnahme zum Thema Hirntod und Organspende veröffentlicht. Schönen guten Morgen, Herr Nagel.
Mitgehört hat Professor Eckhard Nagel, der Ärztliche Direktor des Uniklinikums Essen. Er ist auch Mitglied des Deutschen Ethikrats, der heute eine umfangreiche Stellungnahme zum Thema Hirntod und Organspende veröffentlicht. Schönen guten Morgen, Herr Nagel.
Eckhard Nagel: Guten Morgen, Herr Heckmann.
Heckmann: Was ist denn die Kernbotschaft dieser Stellungnahme heute? Gibt es Anlass, vom bisherigen Konzept Hirntod abzurücken?
Nagel: Der Deutsche Ethikrat in seiner Tradition stellt ja verschiedene Wege vor und die Kernbotschaft ist schon ganz zentral, dass die überwiegende Mehrheit des Ethikrates die jetzige Praxis, so wie wir sie in Deutschland haben, befürwortet. Aber gerade wie aus Ihrem Gespräch hervorgegangen gibt es auch Kolleginnen und Kollegen, die den Hirntod als unumkehrbaren Beginn des Sterbeprozesses definieren und dementsprechend eine andere Einordnung stattfindet.
Heckmann: Und diese Kritiker, die sagen, hirntote Menschen sind in der Lage, die Temperatur des Körpers zu regeln, den Blutfluss und auch den Hormonhaushalt. Das sind aber Argumente, die Sie nicht überzeugen?
Nagel: Die überzeugen mich nicht im Sinne, dass ich den Todesbegriff nicht so definieren würde, wie er im Hirntod definiert ist. Selbstverständlich sind diese Prozesse immer schon bekannt. Das ist ja auch keine Neuerung. Das Hirntodkonzept, wie es ja jetzt heißt, ist über 40 Jahre alt und diese Erkenntnisse, dass wir natürlich in dem übergebliebenen Körper, also in unserer materiellen Existenz noch Funktionen haben, das wie gesagt ist nicht neu, ist ja auch die Grundlage, dass überhaupt nach dem eingetretenen Hirntod Organe gespendet werden können.
"Grundlage der Transplantationsmedizin ist: eine sichere Todesfeststellung"
Heckmann: In der Bevölkerung gibt es aber nach wie vor viele Menschen, die Zweifel haben, ob sie sich als Organspender zur Verfügung stellen wollen. Das ist natürlich eine Folge auch der vielen Skandale, die in den letzten Jahren herausgekommen sind. Befürchten Sie, dass mit der Diskussion, die jetzt in Gang gekommen ist, dass diese Zweifel noch wachsen werden in der Bevölkerung?
Nagel: Ich würde mal im Hinblick auf meine Befürchtungen sagen, vergesst unsere Patienten nicht. Denn es ist sicherlich richtig und notwendig, das ist gerade angesprochen worden, dass wir ausreichend und umfassend informieren über das, was die Grundlage der Transplantationsmedizin ist: eine sichere Todesfeststellung. Hier, glaube ich, kann man naturwissenschaftlich ganz sicher sagen, der Hirntod ist der Tod des Menschen, so wie wir ihn auch feststellen können. Es ist eine ganz sichere Diagnose und dann weiß man tatsächlich, dass ein bestimmter Punkt im Sterbeprozess eingetreten ist, den wir als Tod definieren. Wir füllen den Todesschein aus, hier gibt es Klarheit.
Insofern hoffe ich, dass diese Diskussion, die wir jetzt auch haben und die natürlich unter der Frage, wie sehen wir das Menschenbild, wie setzen wir das auch juristisch um, durchaus interessant ist, dass es eben nicht zu vermehrtem Misstrauen führt bei den Menschen, weil sie bei dem Unwohlsein, was wir ohnehin haben, wann bin ich eigentlich tot, wie wird das sein, wenn ich sterbe, wie kann ich mir da auch ganz sicher sein, dass ich nicht unnötig leide, dass wir in dieser Diskussion nicht weitere Verunsicherung bekommen, sondern die Klarheit, die naturwissenschaftlich besteht, auch dazu nutzen, dass die Menschen, die Gutes tun wollen - und die überwiegende Anzahl der Deutschen möchte sozusagen auch über den Tod hinaus durch eine Organspende positiv anderen Menschen eine Lebenschance geben, wenn sie wissen, Sicherheit besteht, Regeln werden eingehalten und alles geht mit rechten Dingen zu. Das müssen wir tatsächlich vermitteln und das hoffe ich auch, dass es trotz der Diskussion, die wir jetzt haben, gelingt.
Heckmann: Aber ich verstehe Sie richtig, Herr Professor Nagel, dass Sie befürchten, dass die Gefahr besteht, dass durch die Diskussion, die jetzt in Gang gekommen ist, diese Unsicherheit in der Bevölkerung noch weiter wachsen könnte?
Nagel: Ja. Das ist ja das, was wir auch bemerken. Das ist angesprochen worden. Es hat Skandale bei der Einordnung von Patienten auf der Warteliste gegeben, weil wir ohnehin schon zu wenig Organe haben. Deshalb haben in einigen Kliniken Ärzte Akten manipuliert. Das ist absolut nicht in Ordnung, das darf nicht sein und ist auch unter ethischen und moralischen Gesichtspunkten nicht zu akzeptieren.
Aber daraus natürlich eine Situation abzufolgern, dass das generell der Fall ist, eine generelle Unsicherheit, die wir ja merken durch die sinkende Organspende, ist eine völlig falsche Reaktion, denn am Ende sind die Patienten auf unseren Wartelisten, in unseren Kliniken und Wartezimmern diejenigen, die tatsächlich die Konsequenz tragen müssen: Einmal, weil man in Deutschland heute sechs bis acht Jahre auf eine Nierentransplantation wartet, während in Österreich, Spanien oder Belgien das Ganze in zwei Jahren geschehen kann, oder aber leider, dass viele Patienten, die auf eine Leber-, Lungen- oder Herztransplantation warten, diese gar nicht mehr erreichen, sondern sterben. Dagegen, glaube ich, müssen wir innerhalb unseres Landes etwas tun.
"Nicht skandalisieren, wo kein Skandal dahinter steht"
Heckmann: Herr Nagel, in Bremen ist zuletzt eine Organentnahme abgebrochen worden, weil nicht klar war, sind hier die Regeln eingehalten worden oder nicht. Solche Fälle fördern natürlich auch nicht gerade die Bereitschaft in der Bevölkerung, sich als Organspender zur Verfügung zu stellen, oder? Wie schätzen Sie das ein?
Nagel: Aber das ist natürlich eine Situation - ich habe mich dort genauer nachher informiert, nachdem ich das gehört habe -, wo ganz sicher der Hirntod eingetreten war, wo ein Protokoll nicht einwandfrei ausgefüllt worden ist, also wo ein Dokumentationsfehler bestand. Und wenn ein solcher Dokumentationsfehler, der wahrscheinlich in der Medizin zig Male jeden Tag irgendwo passiert und in aller Regel auch keine Konsequenz hat - in diesem Fall hätte es auch keine Konsequenz für die Verstorbene gehabt -, das aber zu einer generellen Verunsicherung führt, wo man sagt, na, wer weiß, ob die das alles richtig machen, dann ist es gut, darauf zu achten, dass alles in Ordnung geht. Aber eine generelle Unsicherheit, die dazu führt, dass ich dann sage, lieber keine Organspende bei meinem Angehörigen oder bei mir selbst, hat fatale Folgen und deshalb ist es eben so wichtig, aufzuklären und auch nicht zu skandalisieren, wo kein Skandal dahinter steht.
"Es gibt eine Pflicht der Auseinandersetzung"
Heckmann: In Deutschland gibt es viele Menschen, die keinen Organspendeausweis haben, nach wie vor nicht. Würden Sie denjenigen, die das noch nicht haben, dringend empfehlen, darüber noch mal nachzudenken?
Nagel: Ich würde dringend darüber nachdenken, und der Nationale Ethikrat, der Vorgänger des Deutschen Ethikrates, hatte 2007 ja eine Stellungnahme verabschiedet, wo er auch von einer ethischen Pflicht der inneren Auseinandersetzung ausgeht. Es geht hier um Menschen, denen man helfen kann, und es gibt sicherlich keine Pflicht zur Organspende. Man kann sehr wohl, wenn man darüber nachdenkt, zur Schlussfolgerung kommen und sagen, ich persönlich mit meiner Vorstellung auch meines eigenen Todes und meines eigenen Lebens bin dagegen. Aber es gibt eine Pflicht der Auseinandersetzung und deshalb, glaube ich, gibt es auch eine Pflicht, einen Organspendeausweis auszufüllen, entweder positiv oder negativ. Aber sich wegducken, ich glaube, das können wir in unserer Gesellschaft nicht ertragen.
"Hier geht es um Solidarität innerhalb unserer Gesellschaft"
Heckmann: Kommen wir noch abschließend zu einem anderen wichtigen aktuellen Thema, das heiß diskutiert wird. In Deutschland, da breiten sich die Masern wieder aus. In Berlin ist in der vergangenen Woche ein Kleinkind gestorben. Jetzt wird über eine Impfpflicht diskutiert. Wie ist dazu Ihre Haltung?
Nagel: Das geht in die gleiche Richtung, nämlich des Wegduckens. Impfung ist nur dann erfolgreich, wenn viele in unserer Gesellschaft partizipieren, und man schützt damit nicht nur sich selbst, sondern vielmehr auch andere, die gefährdet sind, weil sie vielleicht eine zusätzliche Erkrankung haben und dann an einer Infektion wie den Masern sterben. Also auch hier geht es um Solidarität innerhalb unserer Gesellschaft und das Gefühl, letztendlich auch so ein Unwohlsein, ich habe gehört, durch die Impfung könnte etwas passieren, oder ich selbst habe Masern durchgemacht und sie doch gut überstanden und mein Immunsystem ist heute gesünder, als wenn ich eine Impfung habe, diese naturwissenschaftlich irrealen Gedanken sollten nicht dazu führen, dass wir in unserer Gesellschaft billigend in Kauf nehmen, dass durch Impfverweigerung Menschen gefährdet werden.
Heckmann: Aber es gibt genug Menschen, die sagen, es sei wissenschaftlich belegt, dass das Impfen beispielsweise Allergien auslöst.
Nagel: Ja, das ist immer die Frage, mit was ist wirklich belegt. Ich denke, wir haben Kommissionen wie eine ständige Kommission auch zu Impfangelegenheiten beim Robert-Koch-Institut, das am Bundesministerium für Gesundheit angesiedelt ist. Da sitzen die meisten Fachleute, die sich wirklich ganz intensiv mit dieser Frage auseinandersetzen, und die sind eindeutig bei der Masern-Impfung und empfehlen die für alle Kinder, und die Wahrscheinlichkeit, dass Allergien dadurch ausgelöst werden, die in Einzelfällen natürlich auftreten können, die Wahrscheinlichkeit, dass Komplikationen durch eine Impfung auftreten können, die auch auftreten können, sind so viel geringer als die Gefahr, durch eine Infektion tatsächlich schwerwiegende Komplikationen zu bekommen, dass man das abwägen muss. Und deshalb ist der Staat natürlich ein Stück weit in der Pflicht, diese Erkenntnisse gegebenenfalls auch durch eine Pflicht dann in der Bevölkerung umzusetzen.
Heckmann: Der Deutsche Ethikrat legt heute eine umfangreiche Stellungnahme zum Thema Hirntod vor. Darüber und über die aktuelle Diskussion um eine Impfpflicht gegen Masern haben wir gesprochen mit Professor Eckhard Nagel, Ärztlicher Direktor des Uniklinikums Essen. Herr Nagel, danke Ihnen für Ihre Zeit.
Nagel: Gerne! Einen guten Tag!
Heckmann: Wünsche ich Ihnen auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.