Bei der Veranstaltung in Hiroshima hatten mehr als 50.000 Menschen der Opfer der Atombombe gedacht. Der Bürgermeister der Stadt habe dabei erneut für atomare Abrüstung geworben, so van Aken - die er selbst sich auch wünsche, angesichts der derzeitigen politischen Weltlage aber nicht für realistisch hält. Die Verhandlungen um den Nichtverbreitungsvertrag kämen immer wieder in Stocken.
Dabei könnten für van Aken Länder wie Frankreich oder Großbritannien bei der Abrüstung den Anfang machen machen: "Sie sind nicht so in Muskelspiele verwickelt wie beispielsweise die USA oder China."
Van Aken sieht Japans pazifistische Verfassung bedroht
Die Argumentation, dass die Atombomben den Krieg damals beendet hätten, glaube heute niemand mehr, so van Aken. Im Gegenteil: Während des Kalten Krieges habe man mehrfach kurz vor Ausbruch eines Atomkrieges gestanden - die Waffen hätten also Verunsicherung gebracht und nicht mehr Sicherheit.
Japan selbst hat seit Ende des Zweiten Weltkriegs eine pazifistische Verfassung, die allerdings gerade bedroht werde, sagte van Aken. Die Regierung Abe versuche eine Verfassungsänderung durchzubringen, sodass Japan in bestimmter Form an der Seite der USA in bewaffnete Konflikten gehen könnte. In der Bevölkerung besteht großer Widerstand gegen die geplante Änderung.
Das Interview in voller Länge:
Christiane Kaess: Am 6. August 1945 wurde Hiroshima von einer amerikanischen Atombombe zerstört, drei Tage darauf dann die Stadt Nagasaki. Das Leid ist unvorstellbar, Zehntausende Menschen waren sofort tot, Zehntausende weitere starben an Strahlenschäden und Verbrennungen – mehr als 250.000 Opfer, so die Schätzungen. An die Katastrophe wird heute erinnert. In Hiroshima haben wir zu Beginn der Sendung Jan van Aken erreicht, er ist außenpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag. Er hat an der Gedenkveranstaltung teilgenommen, und ich habe ihn zuerst gefragt, wie er sie erlebt hat.
Jan van Aken: Das geht schon sehr unter die Haut. Es sind bestimmt 50.000 Menschen dort gewesen, alles sehr ruhig, viele Menschen aus Hiroshima, aus ganz Japan, aber auch aus der ganzen Welt sind zusammengekommen. Und ich glaube, das Beeindruckendste ist der Moment gewesen, 8.15 Uhr, genau die Sekunde, wo vor 70 Jahren die Atombombe gefallen ist, da hat ein kleiner Junge die Glocke angeschlagen - das geht schon unter die Haut. Und man hätte wirklich auf diesem Platz eine Stecknadel fallen lassen hören.
"Vergleich zu Fukushima hat viel Raum eingenommen"
Kaess: Mit wem konnten Sie sprechen?
van Aken: Wir haben in Japan in den letzten Tagen verschiedene Gespräche geführt, auch mit Menschen, die sich zum Beispiel um Fukushima-Opfer kümmern. Jetzt gerade eben haben wir da ein Gespräch gehabt, die eben erzählen, dass viele Menschen, die jetzt traumatisiert durch Fukushima sind, auf eine Art Erholungskur eingeladen werden, ausgerechnet nach Hiroshima, was ich erst nicht glauben konnte. Aber sie sagen, ja, all die Probleme, die wir hier in Hiroshima danach hatten, all die Probleme, die die Überlebenden hatten mit der Ausgrenzung, auch mit der Stigmatisierung, das findet gerade auch in Fukushima statt. Und diese Diskussion, dieser Vergleich zu Fukushima, der hat hier doch relativ viel Raum eingenommen, was mich gewundert hat.
Kaess: Und wenn wir noch mal zurückblicken in der Geschichte, wie geht Japan heute mit diesem nationalen Trauma des Atombombenabwurfs auf Hiroshima und dann später Nagasaki um?
van Aken: Gerade Hiroshima als Stadt selbst, die Bürgermeister der letzten Jahrzehnte, die haben es eigentlich immer zum Anlass genommen, für den Frieden zu werben, für die Abrüstung zu werben. Das ist, glaube ich, was ganz Besonderes hier. Es steht ein einziges Gebäude, das damals den Atombombenabwurf überstanden hat, der sogenannte Peace Dome, wie er jetzt heißt, der Friedensturm - ein altes Ausstellungsgebäude, von dem noch die Grundmauern und eben Reste einer eisernen Kuppel stehen geblieben sind -, und der steht bis heute als Mahnmal dort. Und das ganze Zentrum dieses Atombombenabwurfs ist in einen Friedenspark umgewandelt worden, und auch heute war diese Veranstaltung ganz stark unter dem Aspekt Frieden, Abrüstung, und der heutige Bürgermeister von Hiroshima hat noch mal dazu aufgefordert, alle Atomwaffen weltweit abzurüsten, denn nur so kann eine Wiederholung dieses grausamen Angriffes vor 70 Jahren verhindert werden.
"Pazifistische Verfassung ist unter Druck"
Kaess: Haben Sie den Eindruck, dass auch die junge Generation von diesem Thema noch bewegt wird?
van Aken: Ja, auf jeden Fall. Das habe ich auch in Tokio gemerkt, da waren wir in den letzten beiden Tagen, haben Gespräche geführt mit Nichtregierungsorganisationen und dann auch mit Politikern. Und dieser Atombombenabwurf und das Trauma danach, das spielt eine ganz große Rolle, deswegen hat Japan ja auch eine pazifistische Verfassung. Die ist gerade politisch unter Druck, da verändert sich gerade ganz viel in Japan, das kriegt man in Deutschland kaum mit, aber dieses pazifistische Grundbewusstsein, das ist ganz stark verankert hier in Japan.
Kaess: Inwiefern ist die Verfassung da unter Druck?
van Aken: Es gibt ganz aktuell - das wusste ich, muss ich ehrlich zugeben, vorher auch nicht -, ganz aktuell eine Diskussion, dass die Regierung Abe versucht, den Artikel 9 der Verfassung hier, der eben Japan als pazifistisches Land festlegt und eben ausdrücklich sagt, es darf keine Armee geben, es darf keine Auslandseinsätze geben, das umzuinterpretieren sozusagen, um künftig auch mit den USA in anderen Ländern Seit an Seit kämpfen zu können. Das stößt mittlerweile auf so großen Widerstand hier in Japan, dass es hier sogar große Demonstrationen gibt, was es lange nicht mehr gab hier, und die Zustimmungsraten für die Regierung sinken ins Bodenlose im Moment, also eine wirklich zugespitzte politische Debatte hier. Trotzdem scheint es so auszusehen, dass innerhalb der nächsten sechs Wochen die Regierung Abe diese neuen Sicherheitsgesetze durchdrücken wird. Und das wird ganz kritisch gesehen, auch von den Nachbarländern, weil es interpretiert wird als Rückkehr zum alten japanischen Militarismus.
Kaess: Herr van Aken, da schließt sich die Frage an, der Einsatz für die weltweite Ächtung von Atomwaffen - heute wird ja wieder dazu aufgerufen, Sie haben es auch gerade vorhin schon erwähnt -, das ist ja nicht neu, und man hat dennoch den Eindruck, dass wir da in den letzten Jahren eigentlich nicht wirklich vorangekommen sind.
van Aken: Nein, im Gegenteil, es sieht ja eigentlich immer schlechter aus. Die Verhandlungen, die es alle fünf Jahre in New York gibt zum Nichtverbreitungsvertrag, kommen ja immer stärker ins Stocken. Und ich muss sagen, für mich war das bis jetzt immer eine theoretische Diskussion. Wenn man jetzt hier ist, wenn man diesen Peace-Turm sieht und an dieser bewegenden Feier teilnimmt, da kommt einem das Grauen des Atomkrieges doch noch mal so nahe, dass ich denke, da muss doch Bewegung reinkommen. Es kann doch nicht sein, dass wir heute, ich glaube, noch 17.000 Atomsprengköpfe weltweit haben, davon 1.700 direkt einsatzbereit, da kann einem angst und bange werden. Aber ich glaube, ich fürchte, dass im Moment die politische Situation weltweit eine andere ist und sich eben nicht so sehr bewegen lässt hier von dem Grauen in Hiroshima.
"Atomare Bewaffnung hat mehr Unsicherheit geschaffen"
Kaess: In den USA wird ja argumentiert, die Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki, die haben den Zweiten Weltkrieg beendet. Haben Atomwaffen als Abschreckungswaffen auch deshalb bis heute nicht an Bedeutung verloren?
van Aken: Ja, ich glaube, diese Argumentation, die glaubt mittlerweile ja keiner mehr, auf jeden Fall, die zweite Atombombe über Nagasaki, das kann niemand rechtfertigen. Ich glaube, da ist sich die Fachwelt heute einig, die sagt, da ging es vor allen Dingen drum, diesen zweiten Bombentyp, die Plutoniumbombe, auszuprobieren. Mit der Beendigung des Krieges hatte das nichts mehr zu tun, und dass es nun ausgerechnet über einer Stadt abgeworfen wurde, wo natürlich dann ganz klar viele Frauen und Kinder, ältere Menschen, unschuldige Zivilisten getötet werden, also das hatte nichts mit der Kriegsbeendigung zu tun. Und die Frage der Abschreckung, da gibt es ja immer die Gegenseite, das Gegenargument, zu sagen, gerade im Kalten Krieg standen wir mehrfach ja vor einem unbeabsichtigten Atomkrieg, das heißt, die atomare Bewaffnung hat nicht mehr Sicherheit, sondern mehr Unsicherheit geschaffen.
Kaess: Auf der anderen Seite muss man ja auch trotzdem sagen, die atomwaffenfreie Welt, eine Vision, wie sie zum Beispiel US-Präsident Obama sie auch hatte, die scheint doch angesichts der weltweit steigenden Krisen und Konflikte eigentlich eine Utopie.
van Aken: Ja, im Moment ist es ganz weit weg. Ich überlege auch seit Jahren, was wäre eigentlich der nächste Schritt dahin, und dann fällt mir von den fünf offiziellen Atommächten zunächst einmal England ein und Frankreich. Ich finde, in diesen Ländern könnte mal angefangen werden mit der atomaren Abrüstung, denn die sind ja viel weniger auch in diese Muskelspiele verwickelt, als es die USA sind, China, Russland. Und das andere ist natürlich, jegliche Kooperation mit Atomwaffenstaaten auf dem Gebiet einzustellen - also dass es Atomkraftwerkskooperationen mit Indien gibt, die gleichzeitig gegen den Nichtverbreitungsvertrag verstoßen. Das sind alles Dinge, die könnte man jetzt anfangen als erste Schritte hin zur atomwaffenfreien Welt, aber dass nicht mal das passiert, das lässt einen wirklich, na ja, ratlos erscheinen.
Kaess: Sagt Jan van Aken, außenpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag. Wir haben ihn in Hiroshima erreicht, wo heute die Gedenkfeiern anlässlich des 6. August 1945, dem Atombombenabwurf auf Hiroshima stattfanden. Vielen Dank für Ihre Eindrücke aus Hiroshima!
van Aken: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.