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Historiker Bösch über 1979 und die Gegenwart
Bösch: Viele Herausforderungen von heute begannen vor 40 Jahren

Weltweite Krisen, Revolutionen, ein schwerer Nuklearunfall: Viele Ereignisse des Jahres 1979 veränderten Wirtschaft, Politik und Gesellschaft fundamental. In seinem Buch "Zeitenwende 1979" wolle er zeigen, welche Herausforderungen bis heute nachwirken, sagte der Historiker Frank Bösch im Dlf.

Frank Bösch im Gespräch Dörte Hinrichs |
    Demonstranten feiern in Teheran am 17. Januar 1979 die Flucht des Schahs nach Ägypten
    Der Islamismus als politische Wirkungsmacht kam erstmals 1979 mit der iranischen Revolution auf (imago stock&people)
    Dörte Hinrichs: Die Bilder sind noch ganz frisch von den Schneemassen und Lawinen, die einige Regionen in Bayern und Österreich heimgesucht haben. Möglicherweise weckt das bei einigen Erinnerungen an die Schneekatastrophe vor 40 Jahren in Deutschland. Dann wird gerade die US-Serie "Holocaust" wiederholt, die ebenfalls vor 40 Jahren erstmals die Perspektive der Opfer, die Vernichtung der Juden während der NS-Zeit, einem breiten Fernsehpublikum zugänglich machte und die Gedenk- und Erinnerungskultur geprägt hat.
    In Großbritannien kam mit Margret Thatcher erstmals eine Frau an die Macht, und ihre marktliberale Politik, die wirkt bis heute nach. All das und noch viel mehr passierte 1979. Ein Jahr das angesichts des Mauerfalls zehn Jahre später mit seinen gravierenden Folgen bislang wenig im Fokus historischer Forschung war.
    Das ändert sich nun mit der "Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann". So der Titel des Buches von Professor Frank Bösch, das morgen erscheint. Ich habe vor der Sendung mit ihm, dem Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam, gesprochen und ihn zunächst gefragt, warum er ausgerechnet 1979 ins Visier genommen hat für seine Forschung. Steckt dahinter ein grundsätzlicher Wandel der zeithistorischen Perspektive, die nicht mehr nur vom politischen Systemwechsel her denkt, wie beim Wendejahr 1989?
    Frank Bösch: Mir ist einmal aufgefallen, dass viele Herausforderungen in der Gegenwart nicht 1989 begannen, sondern eigentlich zehn Jahre vorher. Das gilt zunächst für den Islamismus, der mit der Iranischen Revolution, aber auch mit dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan einen maßgeblichen Schub erhalten hat. Das gilt genauso eben auch für die Aufnahme außereuropäischer Flüchtlinge, die eben nicht mit den Syrern vor einigen Jahren einsetzt, sondern mit den Boat People, die vor allen Dingen aus Vietnam auch nach Deutschland kamen, Ende der 70er-Jahre.
    Aber auch andere Herausforderungen wie beispielsweise der ökonomische Wandel, das Denken vom Markt her, die ökonomische Globalisierung erhalten durch Thatcher einen neuen Schub oder auch durch die Reformen in China, das sich 1979 für den Welthandel öffnet. Und schließlich Fragen der Energiewende, die heute auch nachhaltig diskutiert werden, die kommen eben im Zuge der Ölkrise, aber auch durch den Atomunfall in Harrisburg 1979 ganz neu auf die internationale Agenda. Und das war alles für mich Anstoß, einmal als Experiment in gewisser Weise solche Umbrüche zusammen zu lesen, zu gucken, wo sind die Verbindungen und wie kommen diese eigentlich auf.
    Religion mit politischer Wirkungsmacht
    Hinrichs: Was sind denn die Ereignisse globaler Bedeutung, die sich 1979 besonders verdichtet haben und die bei Ihren Forschungen auch gezeigt haben, die haben wir zu wenig in den Fokus genommen, und deren Nachwirkungen spüren wir bis heute?
    Bösch: Das Aufkommen einer Religion, die eine politische Wirkungsmacht entfaltet, das war bisher eigentlich kaum ein Thema der Zeitgeschichte. Aus deutscher Perspektive verlieren die Kirchen an Mitgliedern Anfang der 70er-Jahre, und damit wird die Religion auch unwichtiger. Heute wissen wir, dass das Gegenteil in weiten Teilen der Fall ist, und daher hat so etwas wie die iranische Revolution und der Islamismus, aber auch umgekehrt der Rassismus und die Islamfeindlichkeit in der Geschichtswissenschaft bisher kaum eine Rolle gespielt.
    Mein Versuch ist, mit solchen internationalen Themen auch die deutsche Zeitgeschichtsforschung insgesamt etwas anders zu gewichten, also ein Beispiel zu geben, wie wir solche Impulse, die von außen kommen im Zuge der sogenannten Globalisierung in die deutsche Zeitgeschichte reinschreiben. Insofern ist es ein Buch einerseits über die Welt, die sich verändert, aber gleichzeitig eben auch über die Bundesrepublik, die sich hier mitverändert.
    "Boat People" und Fremdenfeindlichkeit
    Hinrichs: Sie greifen ja auch die vietnamesischen Flüchtling auf, die Rupert Neudeck auf der "Cap Anamur" aufgenommen und nach Deutschland gebracht hat. Das ist ja auch ein Kapitel deutscher Geschichte, das extrem nachwirkt und wo Sie auch neue Quellen gesichtet haben.
    Bösch: Ich habe für das Buch für alle Kapitel jeweils neue Quellen erschlossen. Quellen, die reichen von den Akten von Helmut Schmidt und den Ministerien bis hinunter zu einzelnen Akteuren, die sich engagieren, Wirtschaftsunternehmen, die in andere Länder aufbrechen. Oder eben Hilfsorganisationen wie die von Neudeck gegründete "Cap Anamur. Ein Schiff für Vietnam". Neudeck ist ein Paradebeispiel für dieses globale Agieren. Ein Journalist, der bisher politisch nicht aktiv war, seit ’77 Redakteur beim Deutschlandfunk, der aus Mitgefühl mit den ertrinkenden Menschen in Südostasien beschließt, ich sammle Spenden, ich chartere ein Boot, um Menschen dort aus dem Meer zu retten.
    Und tatsächlich, sein Schiff "Cap Anamur" rettet knapp 10.000 Leute, alles spendenfinanziert. Und ein Großteil dieser Vietnamesen kommt dann tatsächlich auch nach Deutschland. Zudem kommen weitere etwa insgesamt 35.000 sogenannte Boat People nach Deutschland, die dort mit einer großen Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft aufgenommen werden. Aber es zeigt sich nach kurzer Zeit auch, dass die Fremdenfeindlichkeit damals schon ansteigt. Bereits 1980 kommt es zu dem ersten fremdenfeindlichen Anschlag auf ein Flüchtlingsheim, bei dem auch zwei Vietnamesen in Hamburg sterben.
    1979: Beginn der grünen Bewegungen
    Hinrichs: Sie erinnern auch an weitere Ereignisse, an den bis dahin schwersten Nuklearunfall im Atomkraftwerk in Harrisburg, USA. Auch an die Gründung der grünen Bewegungen europaweit. Das ist ja auch ein Kapitel, das sehr nachhaltig gewirkt hat.
    Bösch: Es gab schon vorher natürlich Proteste gegen die Atomkraft. Ab 1975 nahmen die auch in Deutschland entsprechend zu. Aber der Unfall nahe Harrisburg, eine partielle Kernschmelze, der verunsichert die Welt ungemein. Die Zuschauer können live mitverfolgen, ob dieser Reaktor explodieren wird.
    Das ist drei Tage lang unklar. Und etwa 140.000 Menschen in den USA verlassen ihre Häuser ringsum, weil sie Angst haben, dass es hier zu einer Explosion, zu einer Kernschmelze kommen wird. Und das stärkt natürlich die Grünen, die sich gerade formieren und dann bei der Europawahl vor 40 Jahren zum ersten Mal insgesamt zusammenschließen. Und das stärkt auch nachhaltig ein ökologisches Denken, denn zeitgleich haben wir die zweite Ölkrise.
    Die Benzin- und Heizpreise steigen ganz steil an, und das bei diesem kalten Winter, der damals vor 40 Jahren herrschte. Noch höherer Schnee in Norddeutschland als gerade jetzt im Süden. Und dies zusammen führt zu der Forderung nach einer Energiewende. Auch der Begriff kommt damals auf: Wir müssen Energie sparen, wir brauchen alternative Formen der Energieherstellung. Das ist eine Forderung, die in diesen Jahren aufkommt.
    Bösch: Nicht nur politisch, sondern insgesamt gesellschaftlich kommt ein Wandel
    !Hinrichs:!! Inwieweit relativiert und ergänzt denn die Perspektive auf die Zeit um 1979 unsere Wahrnehmung politischer, wirtschaftlicher und ökologischer Krisen heute?
    Bösch: Einerseits führen viele dieser Ereignisse in gegenwärtig immer noch diskutierte Problembereiche. Sie sind ein Aufbruch, sie leiten einen Kurswechsel ein, ohne dass dadurch natürlich eine bessere Welt in all diesen Bereichen entsteht. In vielen Fällen kommt es ’79 ja auch zu tatsächlichen Systemwechseln.
    In Deutschland passiert hier vielleicht weniger. Die berühmte Wende unter Helmut Kohl ist ja nicht so massiv gewesen, wie man weiß. Aber natürlich, wenn man das Ganze aus der Perspektive des Nahen Ostens beispielsweise betrachtet, aus der Perspektive von China oder selbst, wenn man nur die britische Geschichte betrachtet unter Thatcher dann, kann man sehen, dass es hier doch zu massiven Kurswechseln kommt, die die Gesellschaft insgesamt verändern. Und die hat wiederum auch Auswirkungen auf die Bundesrepublik.
    Also insofern kann man sagen, dass nicht nur politisch, sondern insgesamt gesellschaftlich hier ein Wandel kommt, der ambivalent ist. Einerseits kommen ökologische Strömungen auf, aber gleichzeitig eben auch sehr marktliberale. Es gibt viele Gegensätze. Religion schafft neue Gemeinschaften, sie spaltet eben auch. Oder beispielsweise, wenn wir die Serie "Holocaust" nehmen: Der Holocaust wird zu einem neuen Paradigma, aber gleichzeitig zu einer eher etwas entleerten universalen Formel, um Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzuklagen.
    Über Grenzen hinweg die Geschichte der Globalisierung schreiben
    Hinrichs: Bedeutet das auch, dass man neue und weitere Quellen verstärkt nutzen sollte?
    Bösch: Ich habe für alle Kapitel eigene Quellenforschung gemacht. Ich habe mir angeguckt Deutsche, die in diese Regionen reisen. Diplomaten, die vor Ort sind, Journalisten, Leute von NGOs, oder auch Unternehmen, beispielsweise im VW-Archiv angeguckt, wie funktioniert das eigentlich, wenn ein Großunternehmen wie VW ein Joint-Venture in China aufbaut? Insofern erschließt man auf diese Art und Weise sicherlich neue Quellen.
    Der nächste Schritt, den die Forschung und den auch ich jetzt versuche anzustreben, ist, dass wir in Kooperation mit diesen Ländern die Geschichte der Globalisierung schreiben. Das heißt, mit Partnern in China, im Iran, in Saudi-Arabien und anderen wichtigen Ländern, die in dieser Zeit aufkommen, versuchen, beide Perspektiven reinzubringen, um die wechselseitigen Beeinflussungen hier stärker herauszuarbeiten.
    Hinrichs: Vielen Dank! So weit Professor Frank Bösch, Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam, dessen Buch "Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann" morgen im Beck-Verlag erscheint.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.