7. Oktober 1989 - Ost-Berlin: Parallel zu den Jubelfeiern zum 40. Jahrestag der DDR versammelten sich Regimegegner in der Hauptstadt auf dem Alexanderplatz. Einsatzkräfte drängten die Protestierenden im Laufe des Abends in Richtung Prenzlauer Berg ab und schlugen dort wahllos zu.
"Tatsache ist, dass die Volkspolizei äußerst zurückhaltend und erst, nachdem sie angegriffen wurde, gegen Unruhestifter unter Anwendung polizeilicher Hilfsmittel vorging und nicht, wie westliche Medien behaupten, blindlings und rücksichtslos auf unbeteiligte Bürger einschlug", verlautbarte der DDR-Rundfunk am Tag danach.
Tatsächlich aber waren mehr als tausend Menschen - darunter ungezählte unbeteiligte Passanten - in der Nacht zuvor verhaftet, auf Lastwagen geworfen und in verschiedenen Internierungspunkten festgesetzt worden.
Die Ereignisse des 7. Oktober 1989 in Ost-Berlin sind Dreh- und Angelpunkt in diesem Buch des Militärhistorikers Daniel Niemetz. Es beschäftigt sich mit der Rolle der bewaffneten Organe der DDR im Umfeld der friedlichen Revolution und des Mauerfalls.
"Das bewaffnete Menschenpotenzial, über das die Machthaber in Ost-Berlin im Herbst 1989 geboten, umfasste über 600.000 Männer und Frauen. Rein rechnerisch kamen demnach selbst bei Massendemonstrationen oppositioneller Kräfte immer mehrere Waffenträger des Militär- und Sicherheitsapparates auf einen unbewaffneten Demonstranten."
Alle bewaffneten Organe befanden sich 1989 in der Krise
Niemetz' Interesse gilt gleichermaßen der Volkspolizei, der Volksarmee und den nach dem Aufstand des 17. Juni 1953 formierten sogenannten "Kampfgruppen der Arbeiterklasse". Die Stasi spielt in diesem Buch eher die Rolle des Chronisten, der pflichtgemäß und kommentarlos die wachsende Unruhe in den bewaffneten Organen nach oben meldete.
Ohnehin befanden sich all diese Kräfte - das dokumentiert Niemetz akribisch - Anfang 1989 in einer Krise. So hatten der wirtschaftliche Niedergang und die Zunahme von Versorgungsengpässen Teile von Volkspolizei und NVA in der zweiten Hälfte der 80er Jahre mehr und mehr zur schnellen Eingreiftruppe für die Volkswirtschaft werden lassen, etwa zur Erntehilfe oder wenn in eisigen Wintern die Kohleförderung stockte.
Zum Frust über zweckentfremdete Einsätze gesellten sich in der Armee ab Frühjahr 1989 auch noch für DDR-Verhältnisse untypische Zukunftsängste, ausgelöst durch eine von Erich Honecker verkündete Abrüstungsinitiative. Das Ministerium für Staatssicherheit meldete im Juni 1989: "Zunehmende Tendenzen der Verunsicherung, Angst vor Planstellenverlust und Zukunftsangst, besonders von Offizieren in vorgesetzten Stäben"
Auch in den Kampfgruppen, immerhin zu 70 Prozent aus SED-Genossen bestehend, rumorte es kräftig, als diese ideologisch plötzlich auf die Niederschlagung von Bürgerprotesten umorientiert wurden:
"Im Juni 1988 lieferte die Hauptabteilung Kampfgruppen des Ministeriums des Innern konkrete 'Hinweise zur Ausbildung beim Sperren und Räumen von Straßen und Plätzen' an die Abteilungen Kampfgruppen der Bezirksdirektionen der Volkspolizei aus. Damit sollten die Kampfgruppenangehörigen, die bis dahin in Wäldern und auf Wiesen den Abwehrkampf gegen eindringende militärische Gegner geübt hatten, auch auf Einsätze bei Demonstrationen und inneren Unruhen vorbereitet werden."
Keine Knüppel gegen Familie und Freunde
Prompt hagelte es Entpflichtungsgesuche aus den Kampfgruppen. Das Ministerium für Staatssicherheit rapportierte aus Dresden eine typische Begründung: "Da stehen mir meine Frau, Kinder, Bekannte und Freunde gegenüber, die ja insgeheim auch in meinem Namen demonstrieren. Und die soll ich nun mit dem Gummiknüppel vertreiben? Da gerät mein Gewissen in Konflikt!"
Wenn auch unterschiedlich ausgeprägt, lässt sich doch bei allen bewaffneten Organen ab Frühherbst 1989, als die Situation eskalierte, ein ähnliches Reaktionsmuster erkennen: Während man sich - etwa bei der Stürmung des Dresdner Hauptbahnhofs am 4. Oktober durch Ausreisewillige, die auf die durchfahrenden Züge mit Prager Botschaftsflüchtlingen aufspringen wollten - im Recht gegen Rowdies und Randalierer sah und entsprechend gewaltsam reagierte, spaltete sich die Stimmung in den Einheiten, sobald sie mit gewaltfreiem Protest konfrontiert wurden. Und der war die Regel.
Die internen Dokumente belegen hier Widerstände, die von Befehlsverweigerung über Nichterscheinen zum Einsatz bis zum Entpflichtungsersuchen reichten. So strahlte auch das brutale Geschehen in Berlin am 7. Oktober zwei Tage darauf nach Leipzig aus, wo bei der Montagsdemo am 9. Oktober die friedliche Revolution auf Messers Schneide stand.
"Die schiere Masse der mit 70.000 Menschen bislang größten Montagsdemonstration sowie die absolute Friedfertigkeit der Demonstranten waren jedoch wesentliche Gründe dafür, dass die Entscheidungsträger vor Ort den bereitstehenden Einsatzkräften den Rückzugsbefehl erteilten, bevor es zur Konfrontation kam. Die Entscheidung wurde auch von der Mehrzahl der eingesetzten Polizei- und Kampfgruppenangehörigen mit großer Erleichterung aufgenommen."
Nichts desto weniger bestätigt diese durch einen reichhaltigen Anhang mit Originalakten ergänzte Dokumentation all jene, die auch noch einen Monat später trotz der Euphorie des Mauerfalls vor einer hochexplosiven Lage warnten: Noch bis zum 11. November existierte eine erhöhte Gefechtsbereitschaft für verschiedene Truppenteile. Sie hätten den Freudentänzen Aberhunderter Menschen auf der Mauer womöglich ein blutiges Ende bereitet, wäre es zu Provokationen gekommen. Dass einem derartigen Befehl indes überhaupt noch Folge geleistet worden wäre, scheint nach Lektüre dieses Buches zweifelhafter denn je.
Daniel Niemetz: "Staatsmacht am Ende. Der Militär- und Sicherheitsapparat der DDR in Krise und Umbruch 1985 bis 1990",
Ch. Links Verlag, 264 Seiten, 35 Euro.
Ch. Links Verlag, 264 Seiten, 35 Euro.