Archiv

Historiker
"Die alte Strategie der NATO funktioniert nicht mehr"

Für den Historiker Karl Schlögel steht fest: Russlands Präsident Putin führe einen "unerklärten Krieg" gegen die Ukraine. Die Abschreckungsstrategie der NATO habe ausgedient. Ein Dialog sei in einer solchen Situation nicht möglich, sagte der emeritierte Professor der Europa-Universität Viadrina im DLF.

Karl Schlögel im Gespräch mit Bettina Klein |
    Der Historiker Prof. Dr. Karl Schlögel (Archivfoto vom 11.03.2009)
    Der Historiker Prof. Dr. Karl Schlögel (Archivfoto vom 11.03.2009) (dpa / picture-alliance / Peter Endig)
    Schlögel zeigte sich skeptisch, inwieweit die diplomatischen Versuche - auch von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier - wirklich zu einer Entschärfung der Situation führen könne. Nur auf einen Dialog zu setzen, den die andere Seite verweigere, sei kein Weg. Deshalb sei es notwendig, einem angegriffenen europäischen Staat zur Seite zu stehen.
    Sanktionen seien zwar ein wichtiges Mittel, betonte Schlögel, gleichzeitig forderte er aber weitere deutliche Zeichen. So habe Polen das Kulturjahr 2015 in Russland abgesagt. Auch über die Teilnahme an der Fußball-WM 2018 in Russland sollte man nachdenken.
    Mit Blick auf die vor allem in den sozialen Medien viel diskutierte Position, die Ukraine stehe in einer faschistischen Tradition, die zu wenig thematisiert worden sei, betonte Schlögel, es sei unbestritten, dass es eine faschistische Tradition gebe. Doch die Wahlen im Mai hätten gezeigt, dass die streng nationalistische Rechte überhaupt keine Chance gehabt hätte.

    Das Interview in voller Längen:
    Bettina Klein: Es sah nach einer weiteren schlimmen Eskalation Ende der Woche aus. Berichte über russische Militärfahrzeuge, die in die Ukraine eingedrungen seien, und Berichte, die ukrainische Armee habe jedenfalls einige von denen zerstört. Wie weit sind wir eigentlich noch von einem offenen Krieg zwischen Russland und der Ukraine entfernt, fragten sich viele, und der Bundesaußenminister wohl auch unter dem Eindruck der aktuellen Entwicklung, lud zum Krisentreffen nach Berlin. Zuvor hatte der ukrainische Außenminister Klimkin im "Interview der Woche" des Deutschlandfunks gestern militärische Unterstützung von EU und NATO gefordert.
    O-Ton Pawlo Klimkin: Wir brauchen auch militärische Hilfe. Und in dem Sinne, wenn solche Hilfe kommt, dann wäre das auch für unsere Truppen leichter, auch vor Ort zu agieren. Aber wir werden auch die Lage in den Griff kriegen.
    Klein: Der ukrainische Außenminister Pawlo gestern im "Interview der Woche" des Deutschlandfunks.
    Und über die ganze Problematik können wir jetzt auch sprechen mit Professor Karl Schlögel, Historiker, bis vor einem Jahr unterrichtete er unter anderem an der Europa-Universität Viadrina, Autor vieler Bücher über Russland und Osteuropa. Ich grüße Sie, Herr Schlögel!
    Karl Schlögel: Guten Morgen!
    Klein: Schauen wir auf diese aktuellen Entwicklungen! Gute Idee von Steinmeier, zum Krisentreffen zu bitten, oder eher etwas für die Public Relation, das hat erst mal nur gute Bilder eigentlich produziert?
    Schlögel: Nein, man muss natürlich in dieser Situation alles tun, was man tun kann, um die Situation zu entschärfen. Aber es sieht doch danach aus, dass der unerklärte Krieg, den Russland unter Putin führt, weitergeht. Und dass er gleichsam bekräftigt wird in der Rede letzte Woche von Putin auf der Krim, wo er noch mal gesagt hat, dass die Annexion der Krim rechtmäßig sei. Und inzwischen ist die auch von den Aufständischen, den Terroristen in Donezk, von Sachartschenko offen erklärt worden, dass es Zulauf aus der russischen Föderation gibt, dass Waffen geliefert werden, dass Spezialisten eingesetzt werden. Und es ist eine wirklich sehr, sehr bedrohliche Situation.
    "Kein Dialog mit Leuten mit Kalaschnikows möglich"
    Klein: Steinmeier versucht jetzt zu befrieden und zu vermitteln, und dazu diente ja wohl auch dieses Treffen gestern. Auf der anderen Seite, haben wir gerade gehört, hat der ukrainische Außenminister nach militärischer Unterstützung gerufen. Ihrer Meinung nach, würde das nicht eher dazu beitragen, weiterhin zu eskalieren?
    Schlögel: Ich weiß nicht, wie man in einer Situation, in der Leute mit Kalaschnikows auf die Straße gehen, wie man mit denen einen Dialog führen soll. Was militärische Hilfe bedeuten kann, das müssten Experten entscheiden. Ich denke jedenfalls, dass es notwendig ist, einem angegriffenen europäischen Staat beizustehen. Ob das in Form der Zurverfügungstellung von Satellitenbildern, der Ausbildung von Polizeikräften, von Task Forces, durch militärischen Rat geschehen kann, ich weiß das nicht. Aber dass man nur auf den Dialog setzt, den die andere Seite ja verweigert, die Lieferung von schwerem Gerät über die Grenze geht ja weiter und ist inzwischen kein Gerücht, sondern bestätigt durch die britischen Journalisten wie auch durch die Sprecher der Rebellen in Donezk selbst ... Man muss sich etwas Neues einfallen lassen. Die alte Strategie der NATO, die nur auf Abschreckung gesetzt hat wie im Kalten Krieg, funktioniert nicht mehr.
    Klein: Wir haben vor fast genau drei Monaten hier zuletzt gesprochen, Professor Schlögel, am 8. Mai, und Sie haben damals gesprochen von Selbstverteidigungsmaßnahmen, die die westliche Staatengemeinschaft angesichts des Verhaltens Russlands ergreifen sollte. Wir haben bisher gesehen Sanktionen, und zwar jetzt auch Stufe drei der Wirtschaftssanktionen gegen Russland, die aber nicht zu einem Einlenken geführt haben, sondern zu Gegenmaßnahmen, und wir sind weit davon entfernt, auf diese Art und Weise eine Befriedung herstellen zu können. War das also der falsche Weg?
    Schlögel: Ich habe von Selbstverteidigung gesprochen, weil ich den Begriff der Bestrafung gegenüber einem großen Land wie Russland für ganz unangemessen halte. Selbstverteidigung, weil ein europäischer Staat angegriffen worden ist und die europäische Staatengemeinschaft darauf reagieren muss, indem sie sich unabhängig, indem sie sich nicht erpressbar macht, indem sie sich überlegt, wie sie aus der Abhängigkeit, was die Energie angeht, herauskommt. Also Überlegungen anzustellen, nicht erpressbar und nicht angreifbar zu werden. Und ich glaube, dass Sanktionen ein wichtiges Mittel sind, aber man muss sich auch andere Dinge überlegen. Ich überlege zum Beispiel, wie es eigentlich möglich ist, dass man in einer Zeit, in der ein Krieg geführt wird, ein Kulturjahr veranstaltet. In Polen und in Großbritannien hat man das russische Kulturjahr beispielsweise abgesagt. Ich kann mir auch nicht vorstellen, wie man eine Fußballweltmeisterschaft in einem Land austrägt, das einen anderen Staat angreift.
    In der Ostukraine findet ein unerklärter Krieg statt
    Klein: Das trifft nun gerade auch in der deutschen Öffentlichkeit auf eine ganz andere Meinung, weil es hier ja immer eher heißt, man muss jede Möglichkeit des Dialogs versuchen zu beschreiten, auch jede Art des Austauschs. Und diese Art von Austausch habe es schließlich auch in Kalter-Krieg-Zeiten gegeben, da habe man auch nicht einfach den Kontakt abgebrochen. Was sagen Sie dazu?
    Schlögel: Natürlich muss man den Kontakt fortsetzen und die Diplomatie muss weiter arbeiten, aber sie funktioniert nur auf der Grundlage einer klaren Aussage. Und die klare Aussage heißt, dass Russland die Ukraine angegriffen hat, dass es die Krim besetzt hat und dass ein unerklärter Krieg in der Ostukraine stattfindet.
    "Eine faschistische Tradition ist ganz unbestreitbar"
    Klein: Wir haben, Herr Professor Schlögel, auf unser Interview vor drei Monaten viel Hörerpost bekommen, begeisterte wie auch kritische, die sich auch nicht unbedingt jetzt nur auf das Gespräch bezog, sondern da werden Vorwürfe erhoben allgemein an die Adresse von Politik, Medien und Wissenschaft. Und da geht es darum, dass die Ukraine in einer faschistischen Tradition stehe, die, wie es dann heißt, in den vergangenen Monaten zu wenig thematisiert worden sei. Es geht da nicht nur um Politiker des rechten Sektors, sondern eben um das, was in der Geschichte, was in den 40er-Jahren passiert ist, Massenermordungen, Pogrome durch die ukrainische Hilfspolizei während der Nazi-Zeit. Frage an den Historiker erst mal: Diese Fakten, was die Geschichte angeht, das stimmt ja so, oder?
    Schlögel: Es gibt eine nationalistische, eine faschistische Tradition, das ist ganz unbestreitbar. Die Frage damals war ja, inwiefern das heute eine Rolle spielt. Und die Wahlen im Mai haben ganz deutlich gezeigt: Die extrem nationalistische Rechte hatte überhaupt keine Chance bei diesen Wahlen. Was die Geschichte angeht, ist völlig klar, dass die Organisation ukrainischer Nationalisten in der Hoffnung, dass sie einen unabhängigen Staat bekommen würden, sich mit den Nazis gemein gemacht hat. Sie hat sich organisiert in Legionen, ist einmarschiert, in der Hoffnung, dass sie einem ukrainischen unabhängigen Staat nahekommen würde. Die Mitwirkung an Pogromen, das ist alles völlig unbestritten und nachgewiesen. Es ist aber so, dass die Erklärung der Unabhängigkeit sofort den Widerstand der Nazis hervorgerufen hat, Bandera wurde verhaftet, Bandera hat bis fast zum Kriegsende, bis Ende 44 in Sachsenhausen gesessen.
    Klein: Die Figur Bandera müssen Sie noch mal kurz erklären vielleicht!
    Schlögel: Bandera war einer der jüngeren Generation, diese Nationalisten, die darauf gesetzt haben, dass der Zusammenprall zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion Stalins die Möglichkeit eröffnen würde für die Schaffung eines unabhängigen Staates. Und er glaubte, den Angriff der Deutschen aus der Sowjetunion ausnutzen zu können, um zu einem eigenen Staat zu kommen. Was natürlich eine Illusion war. Und das Merkwürdige ist ja, dass das Wenige, was man in Deutschland über die Ukraine überhaupt weiß, immer um Bandera kreist, während kein Mensch auf die Idee käme, wenn man von Russland spricht, beispielsweise von der Wlassow-Armee zu sprechen, in der ja weit mehr Russen organisiert waren als etwa in den Legionen der Ukraine.
    Klein: Vielleicht an der Stelle an Sabine Adler, die bei Ihnen mit im Studio sitzt in Berlin: Sie haben die vergangenen Monate von Kiew auch intensiv verfolgt, inwieweit ist denn dieser Geist und diese Tradition noch spürbar und relevant in der Ukraine?
    Sabine Adler: Es ist so, dass die Figur Bandera benutzt wird, das ist zum Teil ein Volksheld, hinter dem sich zum Beispiel auch Demonstranten auf dem Maidan zum Teil versammelt haben. Wenn man mit den Demonstranten gesprochen hat, was denn nun das Wunderbare an Bandera war oder was zum Beispiel die Partei Swoboda, die ja so eine Art Sammelbecken für doch eher nationalistische Kräfte ist, was die ausmacht, dann ist das ein so derartig gemischtes Bild, das reicht von der einen Seite bis zur kompletten Unterstützung der EU-Integration der Ukraine, hinter der man sich da versammelt, bis hin zu, dass man Bandera als den Volkshelden unterstützt, gegen den Vorwurf, dass das alles Faschisten auf dem Maidan beziehungsweise in der ukrainischen Regierung seien. Das nimmt man eigentlich relativ ungerührt hin.
    Denn ich glaube, man muss zwei Dinge mindestens dabei in dieser ganzen Diskussion berücksichtigen: Das, was wir als einen ungeheuerlichen Vorwurf empfinden, wenn man sagt, da sind Faschisten in der Regierung, das wird im osteuropäischen Sprachraum doch noch mal ganz anders aufgefasst. Faschisten, das ist ein Wort eigentlich für alles Böse, das bezieht sich noch nicht unbedingt auf eine politische Orientierung Faschismus, sondern das ist ein Sammelbegriff, das ist das Erste. Und zweitens ist es damit der russischen Propaganda wirklich exzellent gelungen, diesen Begriff in den westeuropäischen Sprachraum zu transportieren und da eine Gefahr an die Wand zu malen, die so überhaupt nicht existiert. Und man muss auch sagen, die Vertreter der Swoboda-Partei, die jetzt in der Regierung sind, sind mitnichten mit irgendwelchen faschistischen Äußerungen oder Zielen in Erscheinung getreten.
    Die Ukraine hat Widerstand geleistet
    Schlögel: Herr Schlögel, vielleicht noch abschließend: Ihrem Eindruck nach, wird dieser Teil der ukrainischen Geschichte ausreichend berücksichtigt, wenn wir jetzt auf die Vermittlungsbemühungen auch vonseiten der Europäischen Union, auch vonseiten Deutschlands schauen?
    Klein: Nein. Die Ukraine ist eigentlich jetzt erst auf der Mental Map aufgetaucht, man fängt jetzt erst an, sich richtig damit zu beschäftigen. Es gibt ganz wenige Spezialisten, die sich in der ukrainischen Sprache, Literatur, Geschichte auskennen. Das kann man allein an den Lehrstühlen, die es in Deutschland gibt, nachweisen. Und es wäre sehr, sehr wichtig, wenn man endlich darauf hinweisen würde, dass die Ukraine eigentlich der Hauptschauplatz des Einsatzes der deutschen Wehrmacht war, dass die gesamte Ukraine besetzt war, dass die großen Städte zerstört worden sind, dass es der Hauptschauplatz der Schoah gewesen ist, dass es der Ort der Menschenjagd war, dass von etwa drei Millionen Ostarbeitern 2,3 Millionen aus der Ukraine ins Reich deportiert worden sind. Und all dieses ist eigentlich ein Hinweis darauf, dass die Ukraine Widerstand geleistet hat. Und es ist eine Beleidigung eigentlich der Ukraine, sie zu kontaminieren mit dem Vorwurf, dass sie auf der Seite der Nazis gearbeitet habe.
    Schlögel: Der Historiker Professor Karl Schlögel heute Morgen im Deutschlandfunk. Herzlichen Dank an Sie und herzlichen Dank an die Kollegin Sabine Adler, die über viele Monate für uns aus Kiew berichtet hat. Wir sprachen über die jüngsten Entwicklungen in der Ukraine und den historischen Hintergrund.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.