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Historiker: Es gibt noch offene Fragen in der Wiedervereinigungsgeschichte

Im Vorfeld des Tages der Deutschen Einheit findet in Berlin der 48. Deutsche Historikertag statt. In diesem Zusammenhang stellt der Historiker Gerhard A. Ritter fest, dass die außenpolitischen Aspekte der Wiedervereinigung noch nicht aufgearbeitet seien.

Gerhard A. Ritter im Gespräch mit Karin Fischer |
    Karin Fischer: In der Woche vor dem Tag der Deutschen Einheit findet in der Hauptstadt der 48. Deutsche Historikertag statt, und niemand wundert sich, dass die grundstürzenden Veränderungen, die der Fall der Mauer nicht nur für Deutschland, sondern für das gesamte geopolitische Gefüge der ganzen Welt hatte, 20 Jahre danach noch mal auf der Tagesordnung stehen. "Über Grenzen" lautet deshalb auch das passende Motto dieses Historikertags. Einer, der den Transformationsprozess innerhalb Deutschlands intensiv untersucht hat, ist Gerhard A. Ritter, Sozialhistoriker und Wiedervereinigungsspezialist auf vielen Feldern. An ihn ging vor der Sendung die Frage, ob es überhaupt noch offene Fragen der Historiografie an die Wiedervereinigung gibt.

    Gerhard A. Ritter: Unendlich viele. Um ein Beispiel zu nennen: Die Volkskammer ist noch nicht systematisch untersucht worden, in ihrer Arbeit und in der Arbeit der Fraktionen, obwohl es dafür sehr, sehr reichhaltige Quellen gibt. Ich habe sie selbst einsehen können. Das wäre ein Bereich.
    Der zweite Bereich ist die Entstehung des Einigungsvertrages, dieses ungeheuer komplizierten Dokuments, an die 1000 Seiten, wo weit über 1000 Verordnungen und Gesetze behandelt werden, die natürlich lange Verhandlungsprozesse hatten. Das Zweite übersteigt wahrscheinlich die Kraft eines Einzelnen, aber das ist noch nicht erforscht. Meine eigenen Arbeiten haben versucht, ganz, ganz genau die Entstehung der Währungsunion und was damit zusammenhängt zu untersuchen, und das andere nur in einigen Stichpunkten. Und die außenpolitischen Aspekte sind noch nicht von deutscher Seite aufgearbeitet, nachdem vor Kurzem, ungeheuer spannend, vor wenigen Monaten die englischen Akten zur deutschen Wiedervereinigung erschienen sind.

    Fischer: Ihr Buch, das 2006 herauskam, das Sie gerade erwähnten, hieß "Der Preis der deutschen Einheit".

    Ritter: Ja.

    Fischer: Darin wurden eben die Fragen wie "war die Währungsunion wirklich notwendig?" oder "Wurden nicht massive Finanzierungsfehler auch gemacht" beantwortet. Das ist alles gut analysiert. Wie erklären Sie sich als Historiker die Diskrepanz zwischen dem Erfolg der Wiedervereinigung auf der einen Seite und dem Inferioritätsgefühl vieler Ostdeutschen, die sich ja auch sozialpolitisch immer noch hängen gelassen fühlen?

    Ritter: Ich glaube, dass es nicht berechtigt ist, dass sie sozialpolitisch hängen gelassen werden. Im Gegenteil! Die sozialpolitische Unterfütterung dieser Wiedervereinigung ist ja ein großes und ungeheuer teueres Werk gewesen. Also die Rentner leben unendlich viel besser, als sie in der DDR gelebt haben. Natürlich gibt es das massive Problem der Arbeitslosigkeit, was neu für die Ostdeutschen ist. Generell habe ich den Eindruck, dass in den letzten Jahren - das mag ein sehr subjektiver Eindruck sein - im Osten Deutschlands, also in der früheren DDR, die Entwicklung inzwischen wieder sehr viel positiver gesehen wird als noch vor einigen Jahren. Das hängt mit vielem zusammen, unter anderem, dass in der letzten Krise, dieser schweren Finanz- und Wirtschaftskrise, die wir hatten, die Ostdeutschen kaum berührt wurden, im Gegensatz zu den Westdeutschen, dass dort ein wirklicher Aufschwung von einem niedrigen Niveau aus jetzt zu beobachten ist.

    Fischer: Wenn Sie als Historiker von heute aus, also nach dieser weltweiten Wirtschaftskrise, auf den Transformationsprozess von vor 20 Jahren blicken, sind die Aufgaben heute, Globalisierung, Erderwärmung, Überbevölkerung, sind die größer, oder sind die bewältigbarer als zum Beispiel diese Mammutanstrengung Wiedervereinigung es gewesen ist?

    Ritter: Nun, der Unterschied besteht im Wesentlichen darin, dass die Wiedervereinigung natürlich ganz wesentlich eine deutsche Aufgabe war. Vor allem die Konsequenzen der Wiedervereinigung mussten natürlich international eingebettet werden, aber die Kosten dafür wurden von bundesdeutscher Seite getragen. Ich meine, die Klimaveränderung und die Globalisierung sind natürlich Probleme, an denen die Deutschen mitarbeiten müssen, aber sie können sie keineswegs allein bewältigen. Ich meine, die wirklichen großen Länder, die das verursachen, sind China, sind die Vereinigten Staaten, in Zukunft Indien und so weiter. Also ich meine, da sind die deutschen Handlungsmöglichkeiten viel, viel beschränkter.

    Fischer: Daran gleich anschließend eine Frage, auf die meine Letzte auch zulief. Historiker betreiben ja nationale Geschichtsschreibungen. Wenn wir von einer globalisierten Welt reden, ist die Historiografie auch auf dem Weg zu einer Globalisierung? Ist nationale Geschichtsschreibung noch zeitgemäß?

    Ritter: Nun ja, das eine schließt das andere nicht aus. Noch immer ist der Nationalstaat der Rahmen, in dem Sozialpolitik stattfindet. Das findet ja nur sehr begrenzt in Europa statt, im Gegensatz zur Wirtschaftspolitik und zur Finanzpolitik. Also das eine schließt das andere nicht aus. Aber ich bin froh darüber, dass sozusagen außereuropäische Geschichte, Globalisierungsgeschichte, aber auch europäische Geschichte jetzt sehr viel stärker in das Blickfeld gerät, und die Sektion, die ich auf dem Historikertag moderiere, die geht ja auch gerade von der Überwindung von Grenzen aus, wie überhaupt das ganze Thema des Historikertages. Da geht es vor allem darum zu zeigen, wie bedeutsam die Entwicklungen etwa in Polen und in der damaligen Tschechoslowakei für die deutsche Entwicklung waren.

    Fischer: Das war Gerhard A. Ritter über Geschichtsschreibung 20 Jahre nach der deutschen Einheit und im globalen Maßstab, anlässlich des Deutschen Historikertags, der heute in Berlin beginnt.