Michael Köhler: Vom Wiener Kongress bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges dauerte das europäische 19. Jahrhundert. So verspricht es der Untertitel des Buches von Richard Evans. Der britische Historiker hat ein tausendseitiges Werk vorgelegt, das morgen erscheint. Das Streben nach Macht ergriff die ganze Gesellschaft. Das Besondere seiner Betrachtungsweise: Stierkampf und Fuchsjagd, U-Bahnbau und das Ende der Leibeigenschaft sind dem Cambridge-Professor genauso wichtig wie die Geschichte von Dynastien oder Herrschaftspolitik. Wirtschaft, Technik, Kultur und Kommunikation werden neben nationaler Politik gleichberechtigt behandelt.
Zuerst habe ich ihn gefragt: Die Herrschaft Napoleons endet 1815. Europa wird auf dem Wiener Kongress buchstäblich zerschnitten. Führte das Ende der Vielvölkerreiche zu den Nationalstaaten und zum "Nationalismus"?
Aufstieg des Nationalismus gefährdete die Vielvölkerreiche
Richard J. Evans: Ja, es war mir ganz wichtig, die ganze Reichweite der Geschichtsschreibung vom 21. Jahrhundert, die ganzen Ansätze nicht nur zur politischen Geschichte, sondern auch Naturgeschichte, Gesellschaftsgeschichte, Wirtschaftsgeschichte und Kulturgeschichte in dem Buch einzubauen, damit ich den gegenwärtigen Stand der Forschung wiederspiegele. Die Geschichte des 19. Jahrhunderts ist nicht nur eine Geschichte der Politik, sondern nehmen wir zum Beispiel die Umweltgeschichte: Da findet man im 19. Jahrhundert die Anfänge der Umweltverschmutzung, unter der wir heutzutage leiden.
Wenn man die Kultur betrachtet, dann sieht man natürlich das Aufblühen der Romantik, der großen Romane, die wir heutzutage noch immer lesen, die Malerei, die wir alle bewundern, die Impressionisten zum Beispiel. Das ist Teil unserer heutigen Kultur, unserer heutigen Erfahrung, und das wollte ich in dem Buch ausdrücklich behandeln und betonen.
Was die Vielvölkerreiche anbetrifft, so war Europa bis ganz zum Ende des 19. Jahrhunderts eine Konglomeration der Vielvölkerreiche. Selbst Deutschland, selbst das Deutsche Reich, 1871 gegründet, hatte seine Minderheiten, viel mehr natürlich dann das Osmanische Reich, und das war bis zum Ende des Jahrhunderts Teil Europas – der Balkan, Russland natürlich auch und vor allem natürlich dann das Habsburgerreich in Österreich und Ungarn. Es war nur bis ganz am Ende des Jahrhunderts so, bevor der Aufstieg des Nationalismus dann diese Vielvölkerreiche, diese Konglomeration von Nationen dann wirklich begann zu gefährden.
Köhler: Habe ich Sie richtig verstanden? Eine Ihrer Thesen ist, aus dem Nationalismus, aus nationalen und ethnischen Rivalität entstand später so etwas wie der Flächenbrand der Weltkriege im 20. Jahrhundert?
Evans: Ja, genau. Das Konzept der Nation oder des nationalen Staates ist ein Konzept, was sich jetzt überall in der Welt durchgesetzt hat. Man muss allerdings nicht zu früh ansetzen im 19. Jahrhundert. Das ist eine Entwicklung vor allem der zweiten Hälfte des Jahrhunderts.
"Aufstieg der Kolonialreiche, Beherrschung der Weltwirtschaft"
Köhler: Interessant ist aber auch, dass bis 1815, sagen Sie, etwa das Mogulreich in Indien oder das Osmanische Reich etwa ebenbürtig waren, aber dann entwickelt sich der "Pursuit of Power", die Vormachtstellung Europas, der Hegemonie bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges?
Evans: Genau. Das macht es sinnvoll, den Zeitraum 1815 bis 1914 als einen ganzen Zeitraum zu betrachten, wo Europa die Hegemonie in der Welt ausübte. Daher der Titel des Buches, das europäische Jahrhundert. Denn im 19. Jahrhundert sieht man den Aufstieg der Kolonialreiche, die Beherrschung der Weltwirtschaft durch Europa und durch europäische Mächte, vor allem Großbritannien, das Streben nach Macht, das ein Thema ist, das das ganze Buch durchzieht. Das ist nicht nur im engen politischen Sinne gemeint, sondern das Streben der wirtschaftlichen Mächte, das Streben der sozialen Macht und auch kulturellen Macht, zum Beispiel der Impressionisten und die Beherrschung der Kunstwelt, der Welt der Kunstproduktion durch die großen altmodischen traditionellen Kunstakademien, dann versuchte man , das alles zu überwinden. Macht ist in einem großen, sehr breiten Sinne in dem Buch konzipiert.
Köhler: Das ist das Interessante, dass Sie Macht nicht nur in einem politisch-ideologischen Sinne verstehen. Sie haben bisher gerade gesagt, 1815 bis 1914 ist die Phase einer europäischen Hegemonie, von Großbritannien bis Russland ist das eine Region mit gemeinsamen Merkmalen. Richard Evans, was sind denn die Beschleuniger dieser Macht? Was sind diese Motoren des 19. Jahrhunderts? Wirtschaft und Kommunikation?
Industrialisierung als "Motor"
Evans: Ja. Das Buch ist eine Geschichte Europas im 19. Jahrhundert. Europas! Das heißt, es geht nicht um Deutschland und dann Italien und danach dann Russland und so weiter. Ich versuche, immer herauszubringen, was Europa gemeinsam hatte, die gemeinsamen Entwicklungen, obwohl ich natürlich dann die Geschichte der einzelnen Nationen, wie ich hoffe, nicht vernachlässige.
In erster Linie ist dann der Motor des Wandels in einem Jahrhundert von großen Entwicklungen, von Wirtschaftswachstum, von politischen Entwicklungen und so weiter die Wirtschaft, und damit bekenne ich mich vielleicht zu einem etwas verwässerten Marxismus-Begriff. Aber in diesem Zeitraum kommt natürlich dann die Industrialisierung, beginnend in England und Frankreich, und dann durchzieht sich das über den ganzen Kontinent. Das ist der Motor und damit kommt auch dann die Verdichtung und Verbreitung der Kommunikationsmittel.
85 Prozent der Einwohner Europas waren Landbewohner
Köhler: Wir dürfen nicht unterschlagen zu sagen, es ist auch die Zeit der intensiven Militarisierung, des Bevölkerungswachstums und aber auch der Armut. Man könnte paradox sagen, auch die Armut wird modern, weil sie jetzt nicht mehr von Seuchen getrieben wird, sondern weil sie sozial ist. Militarisierung und auch moderne Armut.
Evans: Genau! Die letzte große Seuche ist die Cholera, die großen Epidemien von 1820 oder so bis Hamburg 1892. Neapel war 1911, aber im Großen und Ganzen sind bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, sagen wir 1914, die großen Seuchen der Vergangenheit nicht mehr da. Dafür aber gab es zumindest in den frühen Phasen der industriellen Revolution eine verschärfte Ausbeutung der neuen Arbeiterklasse. Allerdings in den letzten Jahrzehnten dieses Zeitraums ging es dann den Arbeitern allmählich besser. Die Armut wurde zu einer modernen Armut. Das ist das Faszinierende vom 19. Jahrhundert, diese eigenartige Mischung vom Alten und vom Neuen, sagen wir etwa der Landwirtschaft. Die meisten Darstellungen des 19. Jahrhunderts drängen die Landwirtschaft und die ländliche Bevölkerung, die Landbevölkerung an den Rand, aber das waren 85 Prozent der Einwohner von Europa bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Oder zum Beispiel die Leibeigenschaft.
Emanzipieren sich: Frauen, Leibeigene, Juden
Köhler: Sie haben es gerade gesagt: 85 Prozent der Bevölkerung waren ländliche Bevölkerung. Darum handeln Sie sehr viel auch von Bauern und dem Adel, dem Ende der Leibeigenschaft.
Evans: Ja!
Köhler: Beides gehört zu einer Geschichte des emanzipatorischen 19. Jahrhunderts.
Evans: Genau! Die positive Seite der Entwicklung ist genau diese Emanzipation, die Emanzipation der Leibeigenen, aber auch die Emanzipation der religiösen Minderheiten wie die Juden, oder die Emanzipation der Frauen. Die Anfänge der Frauen-Emanzipation, die Anfänge des Feminismus, der gleichen Rechte, das sieht man auch im 19. Jahrhundert.
Köhler: Das Streben nach Macht ergriff nicht nur die Herrscherhäuser des 19. Jahrhunderts und die Nationalstaaten, sondern es ergriff die ganze Gesellschaft.
Evans: Genau, in vielerlei Hinsicht. Nehmen wir zum Beispiel das Streben der Macht über die Natur, nicht nur über Flüsse und über Landwirtschaft, sondern auch das Streben der Beherrschung der menschlichen Natur durch die Entwicklung der Psychologie, sagen wir mal, oder durch die Entwicklung der Kriminalpolitik. Da gibt es auch viele neue Entwicklungen im 19. Jahrhundert, die bis in den heutigen Tag angedauert haben.
"Eines der Merkmale des 19. Jh. - das Klassenbewusstsein"
Köhler: Darum ist Ihnen die Fuchsjagd, der U-Bahn-Bau und der Stierkampf gleichermaßen wichtig wie die Geschichte der Dynastien und der Herrscherhäuser?
Evans: Genau. Ich muss sagen, etwa die Hälfte des Buches beschäftigt sich mit der Politik. Aber ich behandele auch die Natur, wie gesagt, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und so weiter. Was ich auch versuche zu vermitteln ist, wie die Menschen im 19. Jahrhundert selbst gedacht haben, was sie gesagt haben, wie sie sich betrachtet haben, und da präsentiere ich viele einzelne Geschichten, viele Zitate. Es gibt acht Kapitel und jedes Kapitel beginnt mit der Erzählung der Geschichte des Lebens einer einzelnen Persönlichkeit.
Köhler: Vier Frauen und vier Männer?
Evans: Ja, genau. Vier Frauen, vier Männer und acht Länder.
"Der Abstieg des Adels ist ein langsamer Prozess"
Köhler: Als ich das Buch las, musste ich an ein berühmtes Theaterstück von Anton Tschechow denken aus dem Jahr 1904, und das heißt "Der Kirschgarten". Da ist eine alte russische Adelsfamilie, die abgewirtschaftet hat und sich verspekuliert hat, und das ist auch das Ende einer alten Zeit und der Beginn aber einer neuen, einer neuen freiheitlichen Zeit und ein Sieg des Liberalismus. Aber auch dieser Liberalismus, müssen wir jetzt zugeben, ist ein Ergebnis des Machtstrebens.
Evans: Genau! Nach und nach kann man durch das Jahrhundert hindurch sehen, wie der Adel allmählich zugrunde geht. Nicht ganz - der Abstieg des Adels ist ein langsamer Prozess, der bis 1914 noch immer andauert, nicht zu Ende kommt. Der Aufstieg des Bürgertums, des Wirtschaftsbürgertums und des Bildungsbürgertums und natürlich dann die Klassenbeziehungen, das war eine sehr klassenbewusste Zeit, anders als heute. Das ist eines der Merkmale des 19. Jahrhunderts, dieses Klassenbewusstsein. Diese Prozesse dieser großen sozialen Wandlungen sind auch ein Thema des Buches.
Köhler: Wenn Sie nicht Historiker geworden wären, Professor Evans, glaube ich, wären Sie auch ein guter Maler geworden.
Evans: Nein, nein! Ich habe überhaupt keinen Sinn dafür, selbst zu malen. Ich kann nicht malen. Dafür aber spiele ich Klavier.
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