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"Antisemitismus ist nicht bloß eine Angelegenheit irgendeines extremen Randes"

Antisemitismus nehme in Deutschland zu, sagte der Historiker Frank Bajohr im Dlf. Judenfeindliches Gedankengut werde dabei aber immer seltener über plakative Slogans verbreitet. Problematische Anschauungen seien dagegen in weiten Teilen der Gesellschaft zu finden.

Frank Bajohr im Gespräch mit Benedikt Schulz |
Eine Kundgebung gegen Antisemitismus in Berlin-Neukölln im Juli 2021
Das Bedrohungsgefühl von Jüdinnen und Juden in Deutschland nehmen zu, sagte Frank Bajohr im Interview (picture alliance/dpa/Jörg Carstensen)
Die Corona-Pandemie war und ist ein Katalysator für die Verbreitung von Verschwörungsnarrativen und in diesen Narrativen steckt oft auch Antisemitismus. Im Jahr 2020 hat sich auch die Zahl der judenfeindlichen Vorfälle deutlich gesteigert, 2.300 Fällen wurden polizeilich erfasst. Die Bundesregierung will nun für die Erforschung des Antisemitismus zwölf Millionen Euro bereitstellen, weitere 23 Millionen für die Erforschung von Rechtsextremismus und Rassismus.
Laut Polizeiangaben demonstrierten Samstag 3500 Menschen in Neukölln bei einer pro-palästinensische Demonstration anlässlich der kriegerischen Auseinandersetzungen in Gaza. Als die Polizei wegen Verstößen gegen die Corona-Hygieneregeln die Demo auflöste, eskalierte die Situation und es kam zu massiven Ausschreitungen. Es gab Festnahmen. 
Antisemitismus - Was die Polizeistatistik sagt und was nicht
90 Prozent der antisemitischen Straftaten werden laut Polizeistatistik dem rechten Spektrum zugeordnet. Wird israelbezogener und muslimischer Antisemitismus zu wenig beachte? Der Antisemitismusbeauftragte Felix Klein mahnt zu einer differenzierten Sicht.

Internetkommunikation bringt neue Forschungsfragen

Die Mittel bereitzustellen sei richtig, sagte Frank Bajohr im Dlf. Er leitet das Zentrum für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte in München. Antisemitismus nehme zu, es gebe zudem auch ein wachsendes Bedrohungsgefühl der betroffenen Jüdinnen und Juden.
Frank Bajohr, Wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte in München
Frank Bajohr, Wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte in München (picture alliance/dpa//Soeren Stache)
Die Verbreitung antisemitischer Erzählungen finde heute stark online statt, die Forschung sei aber weiterhin stark auf nicht-digitale Kanäle fokussiert. Die abweichenden Dynamiken digitaler Kommunikation stelle die Forschung dabei vor analytische Herausforderungen.
Die österreichische Autorin und Journalistin Ingrid Brodnig während einer Diskussionsrunde zum Thema "Fakenews" im Rahmen der 24. Österreichischen Medientage in Wien
Antisemitismus im Netz - Brodnig: "Die Muster kehren in den Mainstream zurück"
Im Kampf gegen Antisemitismus im Netz plädiert die Publizistin Ingrid Brodnig dafür, Rechtsextremismus stärker durch den Verfassungsschutz beobachten zu lassen. Zudem müsse man den Antisemitismus ernster nehmen, sagte sie im Dlf. Dieser sei nicht nur ein Phänomen der Nische.
Es sei dabei gut, dass die Förderung der Bundesregierung praxisnah ausgerichtet sei und dadurch konkret auch in der Prävention wirken könne. Ein Projekt werde beispielsweise in Kooperation mit Schulen in Deutschland, Frankreich, Spanien und Rumänien digitales mehrsprachiges Unterrichtsmaterial zur Antisemitismusprävention im europäischen Schulunterricht entwickeln.

Reihe Neuer Antisemitismus? Befund, Analyse, Verstehen


Antisemitische Einstellungen in breiten Teilen der Gesellschaft

"Antisemitismus ist nicht bloß eine Angelegenheit irgendeines extremen Randes", sagte Bajohr. Problematische Anschauungen würden von "größeren Teilen der breiten Bevölkerung in dem einen oder anderen Punkt durchaus geteilt." Das Problem in der Analyse dieses Antisemitismus sei, dass dieser zunehmend ins "Diffuse" ausweiche.
Bei Meinungserhebungen würden Befragte verstärkt ausweichende Antworten geben. Parolen, die für jeden erkennbar antisemitisch sind, würden eher vermieden. In der Wissenschaft gebe es daher auch öfter Diskussionen über die Frage, wie Antisemitismus zu definieren sei.
Eine Teilnehmerin einer Kundgebung hält eine Schild mit dem Text "Antisemitismus Anklagen vor Gericht und überall" vor dem Strafjustizgebäude in Hamburg 
"Jerusalemer Erklärung" - Eine neue Definition für Antisemitismus
Antisemitismus ist weltweit auf dem Vormarsch, doch der Kampf gegen ihn ist überlagert von einem Streit, der die Lager tief spaltet. Es geht um den sogenannten israelbezogenen Antisemitismus. Jetzt hat eine Gruppe von 200 internationalen Holocaustforschern eine neue Definition dazu vorgelegt.