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Historiker Geppert zum Parlamentarismus
Demokratie im "Reinheitsfanatismus"

Hat die Pandemie den Parlamentarismus ausgehöhlt? Der Prozess der Entdemokratisierung laufe schon länger, sagt Dominik Geppert. Der Parlamentarismus sei jedoch älter als die Republik. Die grauen Facetten der deutschen Geschichte würden in einer Art "historischem Waschzwang" ausgeklammert, kritisiert der Zeitgeschichtler im Dlf.

Dominik Geppert im Gespräch mit Michael Köhler |
Der Reichstag in Berlin
Der Parlamentarismus befinde sich in einer "Zangenbewegung" zwischen Exekutive und Jurisdiktion, sagte Dominik Geppert im Interview (IMAGO/Rolf Zöllner)
Vor einem Jahr wählten CDU und FDP den Liberalen Thomas Kemmerich gemeinsam mit der AfD zum Ministerpräsidenten Thüringens. Dieser Tabubruch erschütterte die Republik. Kemmerich trat nach Drängen seiner Kritiker zurück. Über den Vorgang fiel letztlich die Unionsvorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer.

Prekärer Parlamentarismus

In Sachsen-Anhalt ist Landtagswahl; die letzte vor der Bundestagswahl. Nicht über Parteien, sondern den Zustand des Parlamentarismus haben wir mit Dominik Geppert gesprochen. Er lehrt Geschichte des 19. Und 20. Jahrhunderts an der Universität Potsdam und ist Sprecher der Kommission zur Geschichte des Parlamentarismus. Leitende Frage des Gesprächs war: Ist der Parlamentarismus in der Pandemie ausgehöhlt worden? Dazu Geppert:
"Der Parlamentarismus ist ja nicht erst in der oder durch die Pandemie prekär geworden. Er ist ja schon länger unter Druck. Wir haben es nicht mit einer Krise der Demokratie zu tun, sondern – das aber schon durchaus – mit einer Krise der repräsentativen Demokratie. Wir haben Verschiebungen im Macht- und Kontrolldreieck von Exekutive, Legislative und Jurisdiktion, die wegführen von den Parlamenten und hin zu den Regierungen auf der einen Seite und den Gerichten auf der anderen Seite"
Es sei allerdings nicht ungewöhnlich, dass in der Not die Stunde der Exekutive schlage. Die Exekutive sei in der Vorderhand, was die Parlamente schwäche. Das führe durchaus zu einer Art "Ent-Demokratisierung" der Demokratie, die auch die Gerichte immer wichtiger werden lasse. Der Parlamentarismus befinde sich in einer "Zangenbewegung", so Geppert, zwischen Exekutive und Jurisdiktion.
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Für die Aussage, ein Teil der Ostdeutschen sei für die Demokratie verloren, hatte der Ostbeauftragte Marco Wanderwitz viel Kritik geerntet. Man müsse erklären, warum es in Ostdeutschland mehr AfD-Wähler gibt, sagte Ingo Schulze dazu im Dlf.

Traditionslinie bis ins Kaiserreich

Der Historiker wies darauf hin, dass die Arbeit von Parlamenten in Deutschland älter sei als das parlamentarische Regierungssystem. Mit dem Reichstag im Kaiserreich habe es auch schon Parlamente gegeben. "Es gibt schon eine Traditionslinie aus dem Reichstag des Kaiserreichs bis in unsere Gegenwart bei der insbesondere die Gesetzgebung wichtig ist." Also Deutsche Parlamente seien traditionell weniger "Debattenparlamente als Arbeitsparlamente", erläuterte der Historiker im Vergleich zum britischen Regierungssystem.
Mit dem Übergang zur Republik seien in Deutschland die Regierungskontrolle und die Bindung der Regierung an parlamentarische Mehrheiten wichtig geworden.

Repräsentation als Filter

Mit Blick auf die "Parteiendemokratie" hebt Geppert hervor: "Ganz wichtig sind die Filterfunktionen, die die Parteien vornehmen". Abgeordnete seien in Deutschland Spezialisten für Gesetzgebung. Gegen eine Verklärung des Parlamentarismus im Nachkriegsdeutschland und mit Blick auf antiparlamentarische Strömungen wie etwa die APO sagte der Zeitgeschichtler: "Es gibt in der frühen Bundesrepublik als Erbe des Kaiserreichs und der Weimarer Zeit, aber auch als Reaktion auf die Parteiherrschaft des Nationalsozialismus, eine verbreitete Parteienskepsis, die auch ein antiparlamentarischer Reflex gewesen ist."
Der Antiparlamentarismus unserer Zeit sei Ergebnis – so paradox es klingen mag – von zu viel Demokratie, nämlich durch plebiszitären oder populistischen Anti-Parlamentarismus.
Armin Nassehi ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Hier ein Portät vor der TV Talkshow "Hart aber Fair".
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Herzkammer Parlament stärken

In Deutschland werden Selbstverständigungsfragen immer als Geschichtsfragen geführt in Absetzung von den Diktaturerfahrungen, so Geppert. Mit dem Staatsbegriff tuesich Deutschland nach der Wiedervereinigung aus zwei Gründen schwer. Es gebe "einen Abwehrreflex, dass Deutschland wieder ein Nationalstaat ist." Hinzu komme "Eine fehlende intellektuelle Selbstanerkennung als Nationalstaat".
Der zweite Grund sei eine Aversion gegen historische Ambivalenz. "Es gibt eine Art Reinheitsfanatismus, einen historischen Waschzwang, wenn sie so wollen, das, was wir aus guten Gründen wertschätzen, Demokratie, Parlamentarismus zum Beispiel, das muss geschichtlich sauber sein, also blütenweiß und nicht grau. Und die Erinnerung daran, dass die Demokratie in Deutschland nicht 1945 oder 1949 begann, dass es auch ein Wahlrecht vor 1918 gab, dass es eine Einübung in demokratische Praktiken gab, bevor es eine Republik gab, bevor es eine vollständige Parlamentarisierung gegeben hatte, diese ambivalenten und grauen Facetten der deutschen Parlaments- und Demokratiegeschichte, die will man sozusagen ausklammern aus der Erfolgsgeschichte, die in unserer Gegenwart kulminiert."
Auf dem langen Weg zur repräsentativen Demokratie sei die Parlamentarisierung nur tragisch stecken geblieben, etwa im Scheitern der Weimarer Republik.
Wenn der Parlamentarismus gestärkt werde, nehme die Demokratie keinen Schaden, so Geppert: "Wir sind gut beraten und fahren gut damit, dass wir eine repräsentative Demokratie haben, in der das Parlament die Herzkammer ist."
Dominik Geppert lehrt seit 2018 an der Universität Potsdam Geschichte des 19 und 20. Jahrhunderts. Von 2010 bis 2018 war er Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Im August 2021 erscheint von ihm das Buch "Geschichte der Bundesrepublik Deutschland".