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Historiker Michael Wolffsohn
Ein Traditionserlass ist kein Backrezept

Die Traditionen im Militär sollen durch einen Erlass neu geregelt werden. Dieser sei aber eher eine Art Gebrauchsanweisung als eine Wertegrundlage, kritisiert der Historiker Michael Wolffsohn im Dlf. Zwar beinhalte er den Umgang mit dem Dritten Reich, es fehle aber die Erklärung fundamentalethischer Fragen.

Michael Wolffsohn im Gespräch mit Dirk Müller |
    Soldaten des Wachbataillon der Bundeswehr halten am 16.05.2017 in Berlin Karabiner 98k, mit denen auch die Wehrmacht ausgerüstet war.
    Soldaten des Wachbataillon der Bundeswehr: Künftig sollen die Soldaten ihre Traditionen, also ihre Vorbilder aus der gut 60-jährigen Geschichte der Bundeswehr selbst ziehen. (dpa/Maurizio Gambarini)
    Dirk Müller: Ein neuer Erlass liegt nun auf dem Tisch für die Bundeswehr. Ein Erlass, der die Traditionen, die Traditionspflege der Truppe neu regeln soll, eben so, dass künftig keine Kasernen mehr nach Generälen aus dem Zweiten oder Ersten Weltkrieg benannt werden, eben so, dass keine Devotionalien aus der NS-Zeit die Zimmerwände schmücken, und dass auch ein Fall wie der Terrorverdächtige Franco A. mehr möglich sein soll, der rechtsextreme Andenken in einer Kaserne in Illkirch gehortet hat – der neue Traditionserlass.
    Es ist jetzt beschlossen, befohlen, unterzeichnet von der Verteidigungsministerin. Künftig sollen die Soldaten ihre Traditionen, also ihre Vorbilder aus der gut 60-jährigen Geschichte der Bundeswehr selbst ziehen, wie zum Beispiel die Emmich-Cambrai-Kaserne in Hannover, die nun nach dem Feldjäger Tobias Lagenstein benannt wird, der in Afghanistan ums Leben gekommen ist. Am Telefon ist nun der Historiker und Publizist Professor Michael Wolffsohn, viele Jahre tätig in der Bundeswehrhochschule in München. Herr Wolffsohn, ist das ein großes Saubermachen?
    Michael Wolffsohn: Nein. Ein Saubermachen war ja in dem Sinne nicht notwendig. Und in dem Traditionserlass wird ja auch zurecht hervorgehoben, dass die Bundeswehr eine eigene Tradition habe. Aber diese eigene Tradition zu einer Reduktion quasi der gesamten deutschen Militärgeschichte zusammenzupressen, das finde ich dann doch, ehrlich gesagt, zu dünn - bei aller Begeisterung und Zustimmung zu dem Ansinnen, den alten Traditionserlass, der übrigens früher sehr gut war, zu erneuern und dem Zeitgeist anzupassen.
    "Die Wehrmacht kann keine Tradition für die Bundeswehr"
    Müller: Zeitgeist, sagen Sie. – Was ist Ihnen zu dünn daran?
    Wolffsohn: Die entscheidende Frage ist ja nicht nur, wie hältst Du es mit dem Dritten Reich und der Wehrmacht als Institution. Das hat Frau von der Leyen gestern auch sehr deutlich gesagt, steht auch im Traditionserlass drin. Als Institution kann die Wehrmacht keine Tradition für die Bundeswehr darstellen. Auf der anderen Seite muss im Einzelfall immer gesehen werden, ob einzelne Personen, also nicht die Institution, sondern die Person durchaus traditionsbegründend sein könne.
    Der Historiker und Publizist Michael Wolffsohn, aufgenommen am 14.06.2017 in München. 
    Der Historiker und Publizist Michael Wolffsohn (Susanne Jahrreiss / Michael Wolffsohn / dpa)
    Müller: Widerstandskämpfer beispielsweise. Das ist doch auch vorgesehen, wenn ich das richtig verstanden habe?
    Wolffsohn: Ja, aber viel zu kurz. Das ist erstaunlich, dass hier im Zusammenhang mit der Rolle der Wehrmacht im Dritten Reich nicht zugleich darauf hingewiesen wird, dass der eigentlich einzig gefährliche Widerstand gegen das verbrecherische NS-Regime aus den Reihen des deutschen Militärs, der Wehrmacht kam. Da ist mir einfach viel zu viel Schwarz-Weiß, wenngleich ich die politisch-pädagogische Absicht erkenne und würdige. Darüber hinaus ist auch die fast Gleichsetzung zwischen Wehrmacht und Nationaler Volksarmee, wie ich meine, misslungen. Das ist nicht in dieser Weise, in dieser verkürzten Weise vertretbar.
    "Zu starke Gleichsetzung zwischen Nationaler Volksarmee und der Wehrmacht"
    Müller: Das müssen wir vielleicht kurz erklären. Auch auf der schwarzen Liste, wenn ich das so ausdrücken soll und darf: Irgendwelche Traditionen aus der NVA heraus kolportiert und in irgendeiner Form aktiviert, ist auch nicht erwünscht, verboten.
    Wolffsohn: Richtig! Das ist ganz klar. Aber es gibt dann eine, würde ich aus der Lektüre des Traditionserlasses sagen, zu starke Gleichsetzung zwischen Nationaler Volksarmee und der Wehrmacht. Das ist in dieser Weise nicht okay, wenngleich sehr positiv hervorzuheben es wörtlich heißt, dass ehemalige NVA-Angehörige 1990 in die Bundeswehr übernommen wurden, und sie trugen zum Gelingen der deutschen Einheit bei. Das ist absolut in Ordnung.
    Müller: Herr Wolffsohn, ich muss noch mal bei Ihrem Kritikpunkt bleiben. Jetzt werden einige, die das gehört haben, unser Gespräch bis jetzt verfolgt haben, ein bisschen lapidar vielleicht formulieren, ja der Wolffsohn, der sieht auch Gutes in der Wehrmacht. Haben wir das richtig mitbekommen?
    Wolffsohn: Nein! Das mit Sicherheit nicht.
    Müller: Es gibt gute Beispiele in der Wehrmacht – wollen wir es so formulieren?
    Wolffsohn: Wenn Sie Widerstandskämpfer nehmen, ja! Und das Entscheidende ist ja: Gerade am Widerstand sieht man ja, die Schwarz-Weiß-Unterscheidung alleine reicht nicht. Es gab im Widerstand durchaus einige, die an der Ostfront an schrecklichsten Verbrechen beteiligt waren und sich dann zum Widerstand durchgerungen haben. Dieses innere Ringen, das fehlt mir hier. Das Ganze ist im Grunde genommen so eine Art Gebrauchsanweisung wie ein Backrezept: Man nehme, man achte auf. Das, finde ich, ist misslungen, wenngleich ich durchaus erkenne, dass es im politisch-militärischen Alltag notwendig ist. Aber die entscheidende Frage für Streitkräfte heute ist ja nicht nur die Frage, wie hältst Du es mit dem Dritten Reich und mit der Wehrmacht, sondern warum hat man in einer demokratisch legitimierten Armee manchmal die Pflicht zu töten, um das Morden zu beenden oder zu verhindern. Das heißt, es wäre notwendig, eine, ich sage mal, fundamentalethische Kurzauseinandersetzung mit dieser ganz grundlegenden Frage zu erörtern, und das fehlt hier. Ein Backrezept oder eine Gebrauchsanweisung ist eben keine Wertegrundlage.
    "Fundamentalfragen nicht nur des Militärs, sondern der Menschheit"
    Müller: Das wird ja seit vielen Jahren immer wieder kontrovers diskutiert. Sie sprechen das gerade an. Menschenwürde, Menschlichkeit im Einsatz, das steht auch in dem Papier drin, wenn wir das alles richtig gelesen haben. Sie fragen jetzt oder stellen diese Frage in den Raum: Kann ein Soldat töten, Menschen umbringen und dabei die Menschenwürde, die Menschlichkeit, so wie es dort steht, im Einsatz wahren?
    Wolffsohn: Das ist genau die entscheidende Frage und da kann man nicht nur mit Begriffen operieren, die ja durchaus in dem Text vorkommen. Das haben Sie völlig richtig gelesen und dementsprechend gesagt. Es steht, die Angehörigen der Bundeswehr sind zudem der Menschlichkeit verpflichtet, auch unter Belastung und im Gefecht. Ja, wunderbar allgemein. Kein Problem, das zu akzeptieren. Aber was heißt denn das? Auf der einen Seite wird getötet. Ist dieses Töten gleichzeitig Mord? Das sind doch Fundamentalfragen nicht nur des Militärs, sondern der Menschheit, und wenn ich Menschen gewinnen möchte, um in unserer demokratisch legitimierten Streitkraft zu dienen, dem Frieden zu dienen, der Menschlichkeit, dann muss ich doch diese Fragen zumindest stellen und eine Antwort geben und da kann ich nicht nur mit einem Backrezept beziehungsweise einer Gebrauchsanweisung kommen.
    Müller: Das ist Ihnen viel zu wenig?
    Wolffsohn: Viel zu wenig. Ich habe auch in den vorbereitenden Gesprächen - es gab ja - und das war eine, ich würde sagen, mustergültige - Vorbereitung für diesen Traditionserlass durch die Ministerin. Es gab diverse Workshops und ich habe da auch darauf aufmerksam gemacht, dass man ohne eine fundamentalethische Passage den Traditionserlass überhaupt nicht formulieren könne. Und es eben nicht "nur" um die Frage, wie hältst Du es mit der Wehrmacht.
    "Mehrschichtigkeit der ethischen Problematik von Streitkräften"
    Müller: Dann blicken wir trotzdem noch einmal vielleicht dahin zurück, Wehrmacht und die Frage, gibt es dort Traditionen, Aspekte, die man weiter pflegen kann, die man weiter aufgreifen kann. Auch im Internet, wenn man sich mit dem Thema dort auseinandersetzt, kommt immer wieder das Beispiel, ein Bild von Helmut Schmidt in Wehrmachtsuniform. Darüber haben wir auch schon häufiger geredet. Ich möchte das trotzdem noch einmal thematisieren: Der Ex-Kanzler Helmut Schmidt in Wehrmachtsuniform. Darf ich mir das ins Zimmer hängen als Soldat?
    Wolffsohn: Das steht nun im Traditionserlass nicht drin. Aber dieses Foto ist ja auch gerade in seiner Vielschichtigkeit ausgesprochen interessant. Warum? – Helmut Schmidt, der zweifellos ein Demokrat war mit großen Verdiensten für die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland, hat als braver Soldat in der Wehrmacht gedient. Er hat an der Belagerung Leningrads teilgenommen. Er hat das nicht thematisiert. Man weiß nicht, was er gemacht oder nicht gemacht hat. Das heißt, gerade an diesem Foto gab es und gibt es die Möglichkeit, diverse Fragen in Bezug auf die persönliche Ethik und auch die institutionelle Ethik zu stellen.
    Müller: Würden Sie dem Soldaten empfehlen, das abzuhängen, oder kann er es hängen lassen?
    Wolffsohn: Das würde ich durchaus hängen lassen. Das war ja auch seinerzeit Übereifer von einigen Untergebenen. Das hat die allgemeine Öffentlichkeit erregt, weil es Helmut Schmidt war. Aber gerade ein solches Foto einer solchen Persönlichkeit zeigt die Mehrschichtigkeit der ethischen Problematik von Streitkräften im Allgemeinen und einer verbrecherischen Institution, wie es die Wehrmacht gewesen ist.
    Müller: Jetzt muss ich noch was anderes fragen. Vielleicht haben Sie gestern auch die Tagesschau verfolgt, die Bilder, die wir aus Paris bekommen haben: Präsident Macron ehrt den getöteten Polizisten, der sich bei der Geiselnahme, bei dem Terroranschlag geopfert hat. Er wurde dann auch als Soldat bezeichnet. Viele Nationen haben da eine ungebrochene Kontinuität mit ihren Armeen, mit ihren Militärs und auch mit der Militärführung, mit den einzelnen Soldaten. Das ist in Deutschland aus bekannten Gründen ja sehr, sehr schwierig. Aber brauchen nicht auch deutsche Soldaten in irgendeiner Form jemanden, den sie als Vorbild dahinstellen können, den sie verehren können?
    Wolffsohn: Nun gut! Sie erwähnen die gestrige Tagesschau und die wirklich bewegende Zeremonie in Frankreich. Aber wir haben gestern, Spitzenmeldung der Tagesschau, auch die Umbenennung einer Kaserne gesehen und gehört. Die ist nach einem in Afghanistan gefallenen Bundeswehrsoldaten umbenannt worden. Da haben Sie durchaus die Parallelität. Und ich würde auch der These nicht zustimmen, dass andere Staaten bezüglich ihrer Streitkräfte ein ungebrochenes Verhältnis haben. Wir haben vor einigen Wochen das Gedenken an My Lai gehabt, das schreckliche Massaker der US-Armee in Vietnam. Die Haltung der französischen Armee im Kampf gegen die Unabhängigkeitsbewegung in Algerien 1954 bis 1962 war alles andere als ethisch sauber. Ich könnte das durchdeklinieren in Bezug auf viele andere Staaten.
    "Tradition heißt Grundwerte"
    Müller: Gut. Das sollte auch kein Plädoyer dafür sein, das genauso zu tun. Aber dennoch spielt ja diese Symbolik, wie wir das gestern auch erlebt haben in Frankreich, auch in Großbritannien, wir sehen das immer wieder, vor allem auch in den Vereinigten Staaten, immer wieder eine große Rolle. Da hat man grundsätzlich ein positives Verhältnis zu den aktuellen Streitkräften. Ist das in Deutschland inzwischen auch so geworden, positives Verhältnis zu den deutschen Soldaten?
    Wolffsohn: Lockerer ja. Aber ich will das mal mit einer Formel ausdrücken: "Die Bundeswehr", so die allgemeine Wahrnehmung, gesichert durch viele, viele Umfragen jahrelang, "die Bundeswehr ist okay, aber nicht für mich, danke schön."
    Müller: Liegt das auch daran, dass es immer wieder rechtsextreme Tendenzen, Vorfälle, Aspekte gibt?
    Wolffsohn: Nein! Das wird in der öffentlichen Diskussion meistens so argumentiert. Aber vergessen Sie bitte nicht, dass jedes Militär und jeder Angehörige eines Militärs in ein lebensgefährliches Berufsverhältnis eintritt. Und wenn Sie sich die Militärgeschichte der Menschheit ansehen, werden Sie feststellen: Die Tendenz bestand immer und überall zu allen Zeiten, sich, wenn man konnte, vorm Militär zu drücken - es sei denn, man bekam den Anreiz Nummer eins, Macht, Machtbeteiligung, oder gute Bezahlung. Beides gibt es in der Bundeswehr, in demokratischen Streitkräften nicht. Das heißt, es muss andere Motive geben, und da kommen wir auf die Tradition. Tradition heißt Grundwerte und die Grundwerte kann man nicht einfach im Sinne von Gebrauchsanweisungen präsentieren. Daher meine Kritik, dass man mehr fundamentalethische Fragen allgemeinverständlich in den Traditionserlass hätte einbauen müssen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.