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Historiker: Novemberpogrom war auf dem Land schlimmer als in der Stadt

In den Großstädten waren die Angriffe auf Juden 1938 oft anonym, so Hans-Dieter Arntz. Auf dem Land sei das anderes gewesen, dort habe man sich gekannt, es sei persönlicher gewesen, oft brutaler, erklärt der Historiker.

Hans-Dieter Arntz im Gespräch mit Martin Zagatta |
    Martin Zagatta: Synagogen standen in Flammen, Schaufenster wurden eingeschlagen, die Geschäfte jüdischer Mitbürger geplündert, genauso wie ihre Wohnungen. Ausschreitungen, Morde, Misshandlungen. Das Novemberpogrom, die sogenannte Reichskristallnacht vom 9. auf den 10. November, heute also 75 Jahre her, gehört zu den dunkelsten Kapiteln der deutschen Geschichte. Die Nationalsozialisten hatten damals das von einem Juden verübte Attentat auf einen deutschen Diplomaten zum Vorwand genommen, um im ganzen Reich gegen die jüdische Bevölkerung vorzugehen. Nicht nur in den großen Städten, sondern auch in der Provinz, in Kleinstädten und Dörfern, das hat der Historiker Hans-Dieter Arntz besonders anschaulich gemacht in seinem Buch "Reichskristallnacht. Der Novemberpogrom 1938 auf dem Lande". Arntz, der den Terror in der Eifel und der Voreifel untersucht hat, kommt darin zu dem Ergebnis, dass die Ausschreitungen dort auf dem Land oft noch viel brutaler waren als in vielen rheinischen Großstädten.

    Hans-Dieter Arntz: Ich bearbeite das Thema ja seit ungefähr 35 Jahren, bin spezialisiert auf den Bereich Bonn-Köln-Aachen, hauptsächlich auf die Voreifel und Eifel, und habe von Anfang an gemerkt, das wird aber wahrscheinlich auch in anderen Landstrichen gewesen sein, dass, wenn eine Gegend überschaubarer ist, dass dann die Angriffe intensiver, persönlicher, verletzender, schlimmer, diskriminierender sind oder gewesen sind als in der Stadt selber. Man kannte sich persönlich.

    Zagatta: Haben Sie da ein Beispiel aus dieser Nacht, 9. auf 10. November damals, 1938?

    Arntz: Ja, das beginnt im Grunde genommen schon mit dem 1. April 1933, dem sogenannten Boykotttag. Da ist ein Mädchen, Jenny Mayer aus Euskirchen, braves Mädchen, weiß Gott, was alles, allerdings irgendwie durch Asthma gehandikapt, und die wird nun an diesem Tag, diesem ersten April 1933, diesem Boykotttag, wird die nun von zehn Klassenkameraden angeschrien, angegriffen, du alte Juden…, und da kommt noch dahinter, was ich jetzt nicht aussprechen möchte. Und dieses Mädchen ist so kaputt gewesen, psychisch und so was, dass sie nach kurzer Zeit mit Atemanfällen und so weiter gestorben ist. Das wäre in einer Stadt, die anonym ist, wo fremde Leute hinkommen, wahrscheinlich nicht so möglich gewesen.

    Zagatta: Wie war das da in der Nacht jetzt, wenn wir auf den 9. und 10. November kommen, 1938, wie war es da in der Region?

    Arntz: Das ist auch wieder interessant. Während in den Großstädten viel anonym war, es heißt dann immer, es kamen die Leute im Räuberzivil und haben zerstört, und das war da auch das Schlimme, man wusste gar nicht, an wen man sich da richten soll, wo man um Hilfe bitten konnte. Das war auf dem Lande anders, weil man sich kannte. Ich kann also Beispiele nennen aus der Kreisstadt Euskirchen zum Beispiel, da stand einer, jetzt im positiven Sinne, vor der Haustüre und ließ seine SA-Leute nicht herein, weil man befreundet war durch den Sportverein. So was gab es zum Beispiel. Umgekehrt war es dann besonders schlimm, wenn dann, wie gesagt, man jahrelang sich kannte als Nachbarn, so was alles, wurde schon diskriminiert. Aber an diesem Tag, wo also wirklich dieser 9. November, wo es wirklich losging, da konnte derjenige, wie man in der Eifel so originär sagte, jetzt konnte man richtig die Sau rauslassen.

    Zagatta: Lässt sich das denn so verallgemeinern? Sie sagen das ja, in Großstädten war man anonym, auf dem Dorf kennt man sich, da hätte doch die Hemmschwelle eigentlich viel höher sein müssen, dann auch gegen jüdische Nachbarn so brutal vorzugehen?

    Arntz: Der Fanatismus und der Rassismus, der schon seit Anfang des letzten Jahrhunderts in Deutschland, ganz besonders in Österreich gewesen ist, der war nur unterschwellig auf dem Lande. Da hieß es immer, de Jüdde jehören zu uns, die sprachen Platt, die waren integriert, die waren Viehhändler, auf dem Markt kannte man sich und die waren also mehr integriert, ich sage es mal ganz deutlich, als die Protestanten zum Beispiel. Die Kreisstadt Euskirchen hatte prozentual bis zu dieser Zeit mehr Juden als Protestanten. Die Juden waren vollkommen integriert. Und deswegen dieses Schlimme, dass jetzt nach dieser Diskriminierung in der Presse, da gab es den Judenspiegel, der jeden Tag in der Zeitung erschien, so was alles. Jetzt war man vorbereitet und jetzt passierte etwas. Und wenn Sie mir erlauben, noch etwas zu erwähnen, was ich für sehr wichtig halte: Die Nationalsozialisten schienen wohl auf ein solches Ereignis gewartet zu haben. Denn im Jahr 1936 gab es schon mal ein Attentat von einem Juden auf einen Nationalsozialisten, allerdings in der Schweiz. Das war Gustloff. Da hat kein Mensch groß drüber gesprochen, Angriff der Juden auf den Nationalsozialismus, wie es dann heute, am 9. November 1938 geschehen ist. Das heißt, da hatte sich jahrelang etwas aufgespeichert und diese Explosion war jetzt mit dem Mord am Botschaftsrat vom Rat, wo man nun intensiv sein Mütchen kühlen wollte, in Anführungszeichen.

    Zagatta: Lässt sich das verallgemeinern, wie sich die Bevölkerung da verhalten hat? Also, dass da Schlägertrupps der Nazis am Werk waren, das wissen wir. Wie hat sich die Bevölkerung in den Dörfern da allgemein verhalten, hat die teilweise auch weggesehen, hat die sich beteiligt, hat die da mitgemacht? Lässt sich das verallgemeinern, lässt sich da was sagen?

    Arntz: Man meint ja jetzt immer, alle waren erschüttert, ich höre auch heute immer wieder in den Interviews, alle waren erschüttert und dachten, wie konnte das sein! Im Prinzip stand man desinteressiert da, man war nicht informiert, um was es ging, und teilweise haben auch Leute gesagt, das geschieht denen recht. Und wenn ich jetzt an die Stadt Euskirchen wieder denke, da hatte der Bäckermeister gegenüber der Synagoge drei Nazi-Fahnen herausgehängt und sagte ganz laut zu allen Leuten, jetzt geht es den Juden an den Kragen! Das heißt, da waren gar nicht so unheimlich viele dagegen und überrascht, man gaffte, man guckte und viele waren fanatisch und ließen es geschehen.

    Zagatta: Herr Arntz, Sie haben ja nicht nur Gerichtsakten ausgewertet, sondern auch Zeitzeugen befragt. Wie offen waren denn die Menschen, Ihnen da zu erzählen, was sie erlebt haben? Haben Sie jemanden gefunden, der eingestanden hat, dass er an diesen Ausschreitungen und Misshandlungen dabei war?

    Arntz: Ich habe in diesen 35 Jahren, wo ich also tätig bin, bestimmt 600 bis 700 Zeitzeugen, die wirklich dabei gewesen sind, nicht sogenannte Knallzeugen, die dann Rauch gesehen haben, gesprochen. Das waren jetzt nicht nur die gaffenden Zuschauer aus der Umgebung, sondern das waren auch die Juden selber, mit denen ich heute sehr viel Kontakt habe. Viele Leute, die also heutzutage interviewt werden, die nehme ich persönlich gar nicht mehr ernst, weil die Zeit vorbei ist und alles wird nachgeplappert, was gesagt worden ist. Für mich waren wichtig die Akten aus der Zeit 1945, am Anfang, 1946, 47 und 48. Das waren die Synagogenbrandprozesse, da haben Amerikaner und Engländer entsprechende Prozesse geführt, da wurde man vereidigt, da hatte man als Zeuge auch Angst, unter Eid etwas Falsches zu sagen. Und mit diesen Akten habe ich am meisten anfangen können, wesentlich mehr als bei diesen Erzählungen von Zeitzeugen, die im Prinzip alle das Gleiche gesehen haben.

    Zagatta: Sie haben auch erwähnt jüdische Zeitzeugen. Wie ist das heute in der Region, in der Eifel und der Voreifel, gibt es da überhaupt noch jüdische Gemeinden, gibt es da jetzt noch jüdisches Leben?

    Arntz: Das jüdische Leben ist im Grunde genommen erloschen. In Euskirchen selber wohnen vielleicht zwei Juden, in Düren versucht man zaghaft, die 30 bis 40 jüdischen Menschen, die verstreut, aber unorganisiert dort wohnen, zusammenzufassen, da gibt es also einen Plan, wo man eventuell eine kleine Synagoge wieder bauen möchte. Die nächsten Stationen für unsere Region wären Synagoge in Köln, Synagoge in Bonn und Synagoge in Aachen. Und da möchte ich ergänzen, dass auch hier meiner Meinung nach – keiner möge bitte böse sein – ein anderes Klima herrscht, weil 80 bis 90 Prozent nicht deutschstämmige Juden dort sind, und es gibt sehr viele Spannungen meiner Meinung nach, meiner Meinung nach, in diesen Synagogengemeinden, wo auch der Novemberpogrom vom 9. November 1938 anders bewertet und berücksichtigt wird.

    Zagatta: Wie gehen diese Städte, diese Gemeinden, die Sie untersucht haben, wie gehen die heute mit dieser Vergangenheit um? Wird da an den 9. November, an den 10. November 1938 in irgendeiner Form erinnert, wird an diese Verbrechen zumindest noch erinnert?

    Arntz: Ja. Die Lehrer und Pädagogen sind seit 20 Jahren sehr aktiv in der Schule. Manche Schüler sagen zwar inzwischen, das ist zu viel, aber es wird dort viel getan. Die Gemeinden sind tätig, es gibt in Euskirchen kleinere Veranstaltungen, aber auch in Mechernich, in Zülpich, in Hellenthal, in Kall und so weiter, wo Gedenkmärsche stattfinden, wo inzwischen Mahntafeln errichtet worden sind. Das Gedenken an den 9. November 1938 ist sehr lebendig, um zu mahnen und zu erinnern.

    Zagatta: Der Historiker Hans-Dieter Arntz, mit dem wir vor der Sendung über seine Nachforschungen über sein Buch "Reichskristallnacht. Der Novemberpogrom 1938 auf dem Lande" gesprochen haben.


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