Archiv

Rezivilisierung
Historiker Paul Betts über die Wiedergeburt Europas nach 1945

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lagen nicht nur Städte und Industrie in Trümmern, sondern auch Mitmenschlichkeit und Moral. Paul Betts arbeitet in seinem Buch heraus, wie sich Zivilisation nach 1945 entwickeln konnten, aber auch wie der Begriff nach wie vor missbraucht wurde beziehungsweise wird.

Von Otto Langels |
Paul Betts: „Ruin und Erneuerung. Die Wiedergeburt der europäischen Zivilisation 1945", im Hintergrund ist die Ruine der Frauenkirche Dresden zu sehen.
Paul Betts: „Ruin und Erneuerung. Die Wiedergeburt der europäischen Zivilisation 1945" (Hintergrund: imago images/Sylvio Dittrich, Buchcover: Propyläen Verlag)
„Es waren Vorkehrungen getroffen, die sie darüber im Zweifel ließen und bei ihnen nicht den Verdacht erregen konnten, dass sie in den Tod gehen sollten. So waren überall an den Türen und an den Wänden Schriften angebracht, die darauf hinwiesen, dass dies eine Entlausung bzw. eine Badevorkehrung sei.“
Rudolf Höss, mehrjähriger Kommandant des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, beschrieb vor dem Internationalen Militärgerichtshof, wie ankommende Häftlinge auf ihrem Weg in die Gaskammer getäuscht wurden. Höß sagte 1946 als Zeuge im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess aus und wurde später in Polen zum Tode verurteilt.
Die SS ermordete in Auschwitz über eine Million Menschen. Der Ortsname steht für den industriellen Massenmord durch die Nationalsozialisten; ein einzigartiger Zivilisationsbruch, ein Tiefpunkt europäischer Geschichte. Das Konzept der Zivilisation war 1945 „beschädigt“, schreibt Paul Betts. Der gebürtige US-Amerikaner lehrt Moderne Europäische Geschichte an der Universität Oxford.
„Der Kontinent, nach eigener Auffassung seit Langem der weltweite Maßstab der Zivilisation, hatte seine Ansprüche in ihr barbarisches Gegenteil verkehrt. Die internationale Gemeinschaft sah sich verpflichtet, neue rechtliche Begriffe wie ‚Völkermord‘ und ‚Verbrechen gegen die Menschlichkeit‘ zu formulieren, um den deutschen Untaten gerecht zu werden.“

Materieller und moralischer Neuanfang

Das Ende des NS-Regimes ermöglichte zugleich einen Neuanfang und ermunterte Politiker und Intellektuelle, den zerrütteten Kontinent materiell und moralisch wiederzubeleben. Davon handelt Paul Betts Buch „Ruin und Erneuerung“, eine inspirierende, bereichernde Lektüre.
“Ich habe für dieses Buch einen ungewöhnlichen Ansatz gewählt. Zunächst wollte ich Themen berücksichtigen, die oft vernachlässigt werden: Religion, Imperialismus, Dekolonisierung, Rassismus, kulturelles Erbe. Aber es ging nicht allein darum, diese Themen zu ergänzen, sondern die Situation Europas nach dem Krieg im globalen Kontext zu überdenken.”
Paul Betts liefert keine klassische Erzählung der europäischen Geschichte nach 1945, wie sie etwa Tony Judt, Ian Kershaw oder Konrad Jarausch vorgelegt haben. Seine Darstellung kreist um den Begriff der Zivilisation als Ausgangs- und Bezugspunkt für seine Überlegungen. Da keine einheitliche, verbindliche Definition von Zivilisation existiert, eröffnet ihm dies die Möglichkeit, ganz unterschiedliche Aspekte wie Menschenrechte, Hilfsbereitschaft, Wohlstand oder Kolonialismus zu behandeln. Der Autor bedient sich gewissermaßen eines Tricks, unter dem dehn- und formbaren Begriff Zivilisation eine Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg zu entwickeln. Eine originelle Herangehensweise. Der Titel des Buches „Ruin und Erneuerung“ klingt im Vergleich zum englischen „Ruin and Renewal“ etwas sperrig, wie überhaupt die deutsche Übersetzung nicht immer sprachlich überzeugend ausfällt. Doch das schmälert das Lesevergnügen keineswegs.

Die Wirkung der Nürnberger Prozesse

„Die Untaten, die wir verurteilen und bestrafen wollen, waren so ausgeklügelt, so bösartig und so verheerend, dass die zivilisierte Welt sie nicht ignorieren kann, weil sie ihre Wiederholung nicht überleben würde.“
Robert H. Jackson war US-amerikanischer Hauptankläger beim Nürnberger Prozess gegen Nazi-Größen wie Hermann Göring, Rudolf Heß, Wilhelm Keitel und Albert Speer. Die führenden Repräsentanten eines Staates mussten sich für ihre Untaten vor dem Tribunal persönlich verantworten.
„Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher war auch ein Versuch, der brutalen, spontan verübten ‚Gerechtigkeit‘ ein Ende zu setzen und auf dem Kontinent Recht und Ordnung wiederherzustellen“, schreibt Betts und fährt fort:
„Jackson fasste dies in bald berühmt gewordene Worte: ‚Dass vier große Nationen, erfüllt von ihrem Siege und schmerzlich gepeinigt von dem geschehenen Unrecht, nicht Rache üben, sondern ihre gefangenen Feinde freiwillig dem Richtspruch des Gesetzes übergeben, ist eines der bedeutsamsten Zugeständnisse, das die Macht jemals der Vernunft eingeräumt hat.‘“
Der Autor zitiert die Ausführungen des amerikanischen Chefanklägers als Beleg für eine Rückbesinnung auf die Grundlagen der Zivilisation. Zum ersten Mal in der Geschichte saßen die Vertreter eines souveränen Staates auf der Anklagebank, verantwortlich für Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord; ein Meilenstein in der Geschichte des Völkerstrafrechts.
Was Paul Betts nur am Rande erwähnt: Der Prozess der juristischen Rezivilisierung, wie er sich ausdrückt, geriet schon bald ins Stocken. Die Entnazifizierung wurde nur halbherzig durchgeführt, verurteilte Kriegsverbrecher kamen bald wieder frei, Alt-Nazis kehrten in Ämter und Behörden zurück, der Kalte Krieg relativierte die Untaten der Vergangenheit und machte Gegner zu Verbündeten.
Kurz vor Kriegsende sah das noch anders aus. Da waren etwa der Bürgermeister von Celle und weitere Stadtoberhäupter von britischen Militärs in das befreite Konzentrationslager Bergen-Belsen bestellt worden, um sie mit den Gräueltaten des NS-Regimes zu konfrontieren. Über Lautsprecher bekamen sie zu hören:
„Was Sie hier sehen, ist eine solche Schande für das deutsche Volk, dass sein Name aus der Liste der zivilisierten Nationen gestrichen werden muss.“

Eine neuartige Zivilisierungsmission

Doch neben die erschreckenden Aufnahmen aus Bergen-Belsen, Buchenwald und Auschwitz, die auch im Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozess gezeigt wurden - ein Novum in der Justizgeschichte -, drangen ins öffentliche Bewusstsein bald schon Bilder von den Trümmerfeldern deutscher Städte, von Flüchtlings-Trecks aus dem Osten, von abgerissenen und hungrigen Displaced Persons in Notunterkünften.
“Dies ist nicht eine Geschichte abgehobener, elitärer Debatten, sondern wie Zivilisation als praktische Hilfe Europa und die Europäer wiederbelebt hat. Humanitäres Handeln, internationale Gerechtigkeit und militärische Okkupation waren von fundamentaler Bedeutung, um Deutschland und die Deutschen nach 1945 wieder aufzurichten.“
Die Bilder von notleidenden Menschen, abgedruckt u.a. in auflagenstarken amerikanischen Zeitschriften, verfehlten nicht ihre Wirkung und lösten schon bald nach Kriegsende eine ungewöhnliche Hilfs- und Spendenbereitschaft aus.
“If You like to order a CARE-package, just send ten Dollars to CARE, New York. Give Your name and specify to whom You are sending the package.”
Ein Aufruf von CARE, einer im Herbst 1945 in den USA gegründeten Hilfsorganisation, Geld zu spenden, um damit Lebensmittelpakete für die notleidende Bevölkerung in Europa zu finanzieren. Private Organisationen und die UNRRA, die Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen, entfalteten eine eindrucksvolle Tätigkeit. Freiwillige Pflegekräfte, Krankenschwestern, Ärzte und Sozialarbeiter standen Kriegsopfern bei. Bis Ende 1946 brachten 6.000 Schiffe über 25 Millionen Tonnen Güter nach Europa und Asien, mehr als dreimal so viel wie nach dem Ersten Weltkrieg.
Das Jahr 1945 war ein Jahr fieberhafter Zerstörung und ebenso fieberhaften Wiederaufbaus, schreibt Paul Betts.
„An die Stelle der Kriegsgegnerschaft trat eine neuartige Zivilisierungsmission, die von Fürsorge, Mitgefühl und dem Wunsch, die Kriegswunden unzähliger Displaced Persons überall in Europa zu verbinden, angetrieben war. Eine internationale Hilfeleistung in beispielloser Dimension wurde im Namen des Humanitarismus auf die Beine gestellt.“

Zivilisation und Wohlstand

Zivilisation versteht sich in diesem Sinn als Hilfsbereitschaft und Wohltätigkeit. Doch Paul Betts geht weiter. Er dehnt den Begriff auch auf Phänomene wie Wohlstand, Mode und Wohnkultur aus und verweist auf die mächtige amerikanische Konsumgüterindustrie seit den späten 1950er Jahren. Viele kriegsgeplagte Westeuropäer orientierten sich an transatlantischen Vorbildern und sahen in Badewannen und Kühlschränken einen Maßstab für zivilisatorischen Fortschritt.
Jugendmode und -getränke, Haushaltsgeräte, Jazz, Rock ‘n‘ Roll und Filmstars galten als Inbegriff der Zivilisation westlicher Prägung. Bei dem Besuch einer amerikanischen Ausstellung in Moskau 1959 betonte US-Vizepräsident Richard Nixon gegenüber dem sowjetischen Partei- und Regierungschef Nikita Chruschtschow, die amerikanische Überlegenheit beruhe nicht auf Waffen, sondern auf dem sicheren, üppigen Familienleben in modernen Vorstadt-Heimen.
Was Paul Betts allerdings ausblendet, ist der hohe Preis, den die Menschheit für Wohlstand und Konsum zahlt. Führt ungebremstes Wirtschaftswachstum nicht zu Umweltzerstörung, Klimawandel, Artensterben und Naturkatastrophen und untergräbt die Fundamente jeglicher Zivilisation?
Den Konsumgütern schreibt der Autor eine geradezu erlösende Kraft zu, um etwa in Deutschland einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit ziehen zu können. Zur Illustration führt er ein Beispiel aus Essen an.
„Die zerstörte Synagoge wurde einer neuen Nutzung zugeführt und 1961 als ‚Haus Industrieform‘ wiedereröffnet, das stolz die glitzernden Konsumartikel der gesundeten westdeutschen Wirtschaft präsentierte. Zu diesem Anlass sagte Oberbürgermeister Wilhelm Nieswandt: ‚Die Widmung der geschändeten ehemaligen Synagoge zu einem würdigen Zweck muss uns zum Nachdenken und zu dem Vorsatz veranlassen, dass derartige Geschehnisse verblendeter Intoleranz sich in einem freien und demokratischen Deutschland nie wiederholen.‘“
Zivilisation als rhetorische Allzweckformel.
Während die Bundesrepublik Deutschland sich auf Toleranz, Freiheit und Demokratie berief, um die Schrecken der Vergangenheit zu bannen, strapazierten die europäischen Kolonialmächte den Begriff der Zivilisation, um ihre imperiale Präsenz in Afrika oder Asien zu rechtfertigen.   
Insofern weist Paul Betts Darstellung über Europa hinaus. Er nimmt die Herrschaftsgebiete Frankreichs, der Niederlande oder Belgiens in Übersee in den Blick.

Europas Machtstreben unter dem Deckmantel der Zivilisation

“Ich habe in meinem Buch Ost- und Westeuropa und auch Afrika zu integrieren versucht. Ein Kapitel handelt z.B. von Ghana, Algerien and Senegal, wie diese Länder die europäisch-afrikanischen Beziehungen aus einer post-imperialistischen Perspektive heraus umgestalten wollen.”
Der Zusammenbruch des nationalsozialistischen Imperiums leitete nicht zugleich das Ende des westeuropäischen Kolonialismus ein. Immerhin vier von sechs Gründungsmitgliedern der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, dem Vorläufer der heutigen EU – Frankreich, Belgien, die Niederlande und Italien – besaßen noch zum Teil bis in die 1960er Jahre Kolonien. Und sie waren keineswegs bereit, ihre Herrschaftsansprüche ohne Weiteres aufzugeben, wie Betts nachzeichnet. Frankreich sah sich als Vorhut der freien Welt und erklärte den Krieg gegen Algerien kurzerhand zu einem Kampf der Demokratie gegen Anarchie und Diktatur.
„Die französische Aufstandsbekämpfung wurde in die Begriffe einer neuen Zivilisierungsmission in Algerien gekleidet. In diesem Zusammenhang benutzte man die Werte der Zivilisation, um militärische Brutalität und existenzielle Erfordernisse des französischen Imperialismus zu rechtfertigen.“
Der Imperial- bzw. Bürgerkrieg um die Unabhängigkeit Algeriens kostete bis zu einer halben Million Algeriern das Leben. Das offizielle Frankreich sprach von einer „Polizeiaktion“ bzw. „Befriedungsoperation“. Das heutige Russland ist nicht der erste Staat, der sich verschleiernder Bezeichnungen bedient, um das brutale Vorgehen in einem Krieg zu kaschieren.  
Das drohende Ende der Kolonialherrschaft schürte vor allem in konservativen Kreisen Ängste vor einer angeblichen Zivilisationskrise.
“Auf der einen Seite finden Sie die Rezivilisierung Europas, verknüpft mit Frieden und linken politischen Vorstellungen von Pazifismus, Wohlfahrtsstaat, Antikolonialismus und Multikulturalismus. Aber andererseits wurde Zivilisation auch häufig assoziiert mit konservativen und reaktionären Gegenreaktionen wie der Rechtfertigung des Imperialismus, militantem Christentum, Rassismus und Abwehr von Migration. Ich wollte beide Aspekte dieses Prozesses berücksichtigen: Zivilisation und Gewalt als Zwillinge des europäischen Erbes.“
Dieser Antagonismus führte zu einer „Korruption des Zivilisationsbegriffs“, so Paul Betts. Ein Resultat waren fragwürdige Kulturerzeugnisse wie der italienische Pseudodokumentarfilm Africa Addio aus dem Jahr 1966.
„Afrika, Land der großen Forschungsreisen mit seinen gewaltigen Jagdgebieten, das Afrika geheimnisvoller Abenteuer. Dieses Afrika ist für immer verschwunden. Ein neues Afrika ersteht aus den Verwüstungen, wenn es überhaupt wiederersteht. Denn die Freiheit und die Zivilisation brachten Elend, Qual und Massaker über Menschen und Tiere.“
Der für ein europäisches Publikum konzipierte, durchaus erfolgreiche Film zeigt mordende Mau-Mau-Rebellen in Kenia, Massengräber von Arabern in Sansibar, Söldnerexekutionen im Kongo. Die Plakate kündigten einen Film an, der ungeschminkt zeige, wie der „schwarze Kontinent“ in Grausamkeit, Unmenschlichkeit und Brutalität versinke. 20 afrikanische Botschaften reichten in Rom eine formelle Beschwerde bei der italienischen Regierung ein, ohne Erfolg. – Dies in einer Zeit, in der zugleich Zehntausende Demonstranten im Namen der Zivilisation in den europäischen Städten gegen den Vietnamkrieg auf die Straßen gingen; ein Aspekt, auf den der Autor allerdings nicht eingeht.     
„Von heute an müssen wir unsere Vorstellungen ändern,“ erklärte Kwame Nkrumah, der erste Premierminister Ghanas, bei der Unabhängigkeitsfeier des Landes. Am 6. März 1957 wurde in der Hauptstadt Accra der britische Union Jack eingeholt. „Wir müssen realisieren, dass wir von nun an keine Kolonie mehr sind, sondern ein freies und unabhängiges Volk. Unsere Unabhängigkeit ist ohne Bedeutung, wenn sie nicht die völlige Freiheit für den afrikanischen Kontinent nach sich zieht.“
Paul Betts merkt an, dass Gratulanten die Unabhängigkeit als Geburt einer neuen Zivilisation feierten, frei vom Erbe der Kolonialherrschaft und der kapitalistischen Ausbeutung. Auch dies ist eine bemerkenswerte Qualität der Darstellung, dass der Autor Zivilisation nicht einseitig aus eurozentrischer Sicht beleuchtet. Betts lenkt das Augenmerk auf National- und Befreiungsbewegungen, die die Sprache der Zivilisation für ihre antikoloniale Agenda umdeuteten und das Verhältnis zwischen Europa und Afrika neu definierten.

Zivilisation als globaler Kampfbegriff

Am Rande verweist Betts darauf, dass Zivilisation im Sinne von Freiheit und Gleichberechtigung auch im angeblich so vorbildlichen Westen ein noch nicht eingelöstes Versprechen war.
„Ein Empfang in Accra zwei Tage vor der Unabhängigkeitszeremonie brachte die erste Begegnung zwischen Martin Luther King Jr. und dem damaligen Vizepräsidenten Richard Nixon mit sich und wurde untermalt von Kings bissiger Bemerkung: ‚Ich freue mich sehr, Sie hier zu treffen, aber ich möchte, dass Sie uns in Alabama besuchen, wo wir die gleiche Freiheit anstreben.‘“
Die Sowjetunion sah in den Unabhängigkeitsbestrebungen der Kolonien ein „Erwachen der Völker Afrikas“, so Partei- und Regierungschef Nikita Chruschtschow 1961. Es sei eine „historische Mission des Weltkommunismus“, Befreiungskriege überall auf der Welt zu unterstützen. US-Präsident John F. Kennedy erklärte im gleichen Jahr die „gesamte südliche Hälfte des Globus zum bedeutendsten Schlachtfeld für die Verteidigung und Ausweitung der Freiheit“. 
Zivilisation war zu einem globalen Kampfbegriff geworden, wie der Autor ausführt.
„Was mich überrascht hat, war, wie häufig sich Osteuropäer auf Zivilisation berufen. Jahrzehntelang galt der Begriff als westlich und imperialistisch und wurde von Lenin, Trotzki und Stalin rundweg abgelehnt. Aber dann tauchte der Begriff insbesondere in den 1960er Jahren in Osteuropa sowie in den dekolonisierten Staaten Asiens und Afrikas wieder auf, häufig im Namen einer sozialistischen Zivilisation.”  
Dass Putin als Epigone Lenins und Stalins den Überfall auf ein Nachbarland als Befreiungsaktion inszeniert und trotz aller offenkundigen Kriegsverbrechen propagandistisch als zivilisatorischen Akt zu rechtfertigen versucht, zeigt, wie problematisch die Verwendung des Begriffs ist und wie verwundbar die Zivilisation selbst – auch im 21. Jahrhundert.
„Ein neues Gespenst geht um in Europa, und es trägt den alten Namen Zivilisation,“ schrieb Paul Betts noch vor Putins Krieg gegen die Ukraine. „Die Verknüpfungen der frühen Fünfzigerjahre von Zivilisation mit Wissenschaft, Wohlstand, Rechten und dem Schutz der Zivilbevölkerung in Kriegsgebieten sind längst dahingeschwunden. […] Stattdessen wird sie nun eng umrissen als Geschichte religiöser Identität, kultureller Verteidigung und manchmal militärischer Expansion. Letztlich sind potenziell universale Begriffe wie Zivilisation – oder Menschlichkeit, ihre ebenso angeschlagene Variante – möglicherweise die einzigen sprachlichen Mittel, die uns bleiben, wenn wir uns die Aussicht auf Frieden und internationale Zusammenarbeit erhalten wollen.“
Dies schrieb Paul Betts wohlgemerkt 2020. Seitdem hat sich der Blick auf die europäische Zivilisation weiter verdüstert. Möglicherweise bleibt nur die Hoffnung auf eine neuerliche Wiedergeburt, wie sie Paul Betts in seiner beeindruckenden Darstellung für die Zeit nach 1945 beschrieben hat.
Paul Betts: „Ruin und Erneuerung. Die Wiedergeburt der europäischen Zivilisation 1945“
Aus dem Englischen von Jan Martin Ogiermann und Bernd Rullkötter
Propyläen Verlag, Berlin. 624 Seiten, 39 Euro.