Corona, Klimawandel, Wirtschaft, Rassismus, Bedrohung der Demokratie: das sind einige Baustellen des neuen US-Präsidenten. Joe Biden hat wesentliche Entscheidungen seines Vorgängers bereits rückgängig gemacht. Die USA sind in das Pariser Klimaabkommen und die Weltgesundheitsorganisation zurückgekehrt. Die Mauer zu Mexiko wird nicht weitergebaut. Und der Präsident hob den Einreisestopp für Besucher aus mehreren muslimisch geprägten Ländern auf. Die politischen Weichenstellungen sind das eine.
Darüber hinaus werden sich Historikerinnen und Historiker noch lange mit den Jahren 2016-2020 beschäftigen – und mit dem 6. Januar 21, dem Sturm auf das Kapitol.
Professor Timothy Snyder lehrt Geschichte an der Yale Universität in New Haven im US-Bundesstaat Connecticut. Er ist Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaft vom Menschen in Wien. 2017 erschien sein Buch "Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand". In seinem jüngsten Buch aus dem vergangenen Jahr beschäftigt er sich mit dem Gesundheitssystem in den USA während der Pandemie.
Christoph Heinemann: Welche dauerhaften Folgen bleiben von Donald Trumps Präsidentschaft?
Timothy Snyder: Lassen Sie mich eins erwähnen, was in dem allgemeinen Lärm schnell übersehen wird: die Erderwärmung. Die Vereinigten Staaten haben vier Jahre damit zugebracht, die Erderwärmung zu beschleunigen. Die Trump-Regierung hat vier Jahre lang versucht zu leugnen, dass die Erderwärmung ein Problem bildet. Also eine der dauerhaften Folgen für die ganze Welt dieser Regierung besteht darin, dass es schwieriger sein wird, das Problem des Klimawandels zu lösen.
Für die Vereinigten Staaten besteht das größte unmittelbar spürbare Problem - oder das Erbe der Trump-Regierung - in der großen Lüge: Herrn Trumps große Lüge, mit der er behauptete, er habe die Präsidentschaftswahl gewonnen, dass unser Wahlsystem nicht funktionieren würde und es sich um Betrug handeln würde. Diese Lüge war groß genug, um die amerikanische Gesellschaft zu spalten. Und sie führte einige Amerikanerinnen und Amerikaner dazu, Gewalt auszuüben. Damit wird man sich in den kommenden Jahren auseinandersetzen müssen.
"Die Lüge erfordert Gewalt"
Heinemann: Sie sehen einen Zusammenhang zwischen Lügen und Gewalt?
Snyder: Das würde ich sagen, aber viele kluge Menschen vor mir haben das schon gesagt. Das Problem bei einer großen Lüge besteht darin, dass es einen in eine Sonderrolle versetzt. Es entwickelt sich zu einer Glaubensangelegenheit. Wenn alle Fakten und alle Behörden gegen einen gerichtet sind, dann steckt Verschwörung dahinter. Und wenn sich die große Lüge auf etwas Wichtiges bezieht, wie etwa eine Wahl, dann lohnt es sich, dafür zu kämpfen. Die letztgültige Logik der großen Lüge besteht darin, wie Hannah Arendt es schon erklärt hat, dass Gewalt benötigt wird, um die Welt mit dieser großen Lüge in Übereinstimmung zu bringen. Wir haben gesehen, dass sich das in den Vereinigten Staaten wieder ereignet hat.
Heinemann: Der Schrecken Trump ist also nicht wirklich weg?
Snyder: Das Problem besteht weniger in ihm, sondern in der Lüge selbst: Da ist das Misstrauen vieler Amerikaner Wahlen und der Demokratie gegenüber. Die Möglichkeit, dass ein anderer Politiker diese große Lüge aufgreifen könnte und dann die Amerikaner zu den Opfern erklärt, und nicht Herrn Trump. Das langfristige Problem, das ich auch für Europäer für wichtig halte, ist das Fehlen lokaler Nachrichten und lokaler Medien. Normale, den Alltag betreffende Fakten werden nicht mehr zusammengetragen. Weil dies den Amerikanern fehlt, bekamen große Lügen und Verschwörungstheorien einen so breiten Raum zur Entfaltung in unserer Gesellschaft.
Heinemann: Wie wirkt es sich auf die Demokratie aus, wenn es keine lokale Berichterstattung mehr gibt?
Snyder: Erstens: Ohne die Darstellung der realen Welt können die Institutionen, die man für die Demokratie benötigt, nicht arbeiten. Es ist sehr schwierig, dass eine Zivilgesellschaft auf lokaler Ebene besteht, die sich mit lokalen Themen beschäftigt, ohne den Zugang zu grundsätzlichen Fakten.
Zweitens: Lokale Berichterstattung ermöglicht Vertrauen in alle Medien. Wenn es das nicht gibt, wenn man Berichterstatter nicht persönlich kennt, dann bekommt das Wort Medien etwas Negatives, Entferntes und Abstraktes. Und vielleicht sogar etwas Feindliches.
Drittens: die Darstellung der realen Welt eröffnet die Möglichkeit, dass Menschen verschiedene Themen finden, bei denen sie mitarbeiten möchten. Es ist normal, dass wir über unterschiedliche Gefühle und Werte verfügen. Aber wenn es auch unterschiedliche Fakten oder überhaupt keine Fakten gibt, dann wird es für die Menschen schwierig zu glauben, dass sie Bürgerinnen und Bürger einer Republik und desselben Landes sind. Und es ist mühsam für sie, ihre Plätze für eine fruchtbare Mitarbeit zu finden. Und ohne das wird Demokratie sehr schwierig.
"Für die Demokratie muss man Ressourcen für lokale Berichterstattung bereitstellen"
Heinemann: In Europa stehen die öffentlichen Medien unter Druck: Sie leben in den Vereinigten Staaten und in Wien. Welche sind Ihre Erfahrungen mit Blick auf die Medienlandschaft?
Snyder: Das weltweit wichtigste Thema, in unterschiedlichen Ausformungen, besteht in der Zentralisierung von Medien. Und die wichtigste Notwendigkeit besteht in einer Rückkehr und einem Bekenntnis zu einer vielseitigen Medienlandschaft. Wenn Demokratie einen Wert darstellt, dann muss man Ressourcen bereitstellen, damit lokale Berichterstattung aufrechterhalten werden kann. Entweder durch direkte Finanzierung, wie die Norweger das tun. Oder indem man die Unternehmen der sozialen Medien besteuert. Das muss sein. Nach meiner Erfahrung besteht eine der Stärken einer Demokratie wie Deutschland darin, dass es dort noch regionale Radiosender und regionale Zeitungen gibt. Sie haben immer noch eine ordentliche Anzahl politischer Gespräche über das Leben am Ort oder in der Region. Als Gegensatz dazu, dass alles nur noch als nationale Politik, als Fiktion oder Abstraktion stattfindet. Dorthin hat sich leider die Gesprächskultur in Amerika entwickelt.
Heinemann: Und diese Vielfalt steht für vertrauenswürdige Quellen?
Snyder: Gute Frage. Denn hier kommen wir zur Frage der Ethik. Es geht um die Verpflichtung zur Wahrheit. Wir glauben, dass Berichterstattung zur Wahrheit führt. Vertrauenswürdige Quellen bedeutet für mich vor allem: Berichterstatter. Reporter sind ein Element einer gesunden Zivilgesellschaft. Medien ohne den nachhaltigen und wertgeschätzten Beruf des Berichterstatters kann man nicht haben.
Heinemann: Wie haben die Institutionen und das System der Gewaltenteilung, der checks and balances, während Donald Trumps Amtszeit funktioniert?
Snyder: Relativ schlecht. Hätten sie gut funktioniert, hätten wir nicht gesehen, dass das Kapitol der Vereinigten Staaten von bewaffneten Protestlern besetzt wird und dass fünf Menschen sterben. Ich kann keine Geschichte über die Vereinigten Staaten mit funktionierenden Institutionen erzählen, die mit Blut auf den Stufen des Kapitols endet. Niemand kann das. 2016 wurde in den Vereinigten Staaten weitgehend erwartet, dass die Institutionen Herrn Trump Beschränkungen auferlegen würden. Das war die allgemeine Erwartung. Wir haben stattdessen eine langsame Auflösung dieser Institutionen gesehen. Wir mussten erkennen, dass das Justizministerium, das eigentlich für eine unabhängige Anwendung der Gesetze des Landes sorgen sollte, korrumpiert werden konnte und dies auch war. Wir haben gesehen, dass der Kongress der Vereinigten Staaten nur sehr selten seine Kontrollfunktion gegenüber der Macht der Exekutive wahrgenommen hat. Nach weiteren vier Jahren mit diesem Präsidenten hätten die Institutionen sehr schlecht ausgesehen. Aber man muss den Amerikanerinnen und Amerikanern zugutehalten, dass sie das erkannt haben.
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