"Die Natur", so heißt es in "Zum ewigen Frieden", "bedient sich zweier Mittel, um Völker von der Vermischung abzuhalten und abzusondern, der Verschiedenheit der Sprachen und der Religionen". Der Historiker Michael Wolffsohn greift diesen zentralen Gedanken Kants von 1795 auf und macht ihn zur Grundlage seiner eigenen Diagnose. Menschen, ist er überzeugt, streben nicht nur nach individueller, sondern auch nach kollektiver Selbstbestimmung.
"Sie wollen ihr, ihr ganz eigenes Leben leben, in ihrer, der eigenen Gemeinschaft. Gleichzeitig wollen sich viele Menschen auch abkapseln, abgrenzen gegen andere: ethnisch, sprachlich, kulturell, religiös oder national. Das mag man bedauern, aber auch das ist ein evolutionsbiologisches Grundmuster." (S. 8)
Geografie, Demografie und Theologie sind für Wolffsohn "Historische Urkräfte", die zu leugnen einer Realitätsverweigerung gleichkomme. Die stärkste Rolle spielt dabei die Demografie, denn sie ist die Grundlage für das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Wer dabei zum Demos, dem Volk, der Nation oder ganz allgemein der "Wir-Gruppe" gehört, lässt sich nicht allgemein festlegen - schon gar nicht von außen. Michael Wolffsohn:
"Entscheidend ist das jeweilige Subjekt, das individuelle und das kollektive. Es gab einen bekannten Franzosen, Ernest Renan, der gesagt hat, die Nation, das ist das tägliche Plebiszit, 'le plebiscite de tous les jours', das heißt nicht Sie oder ich können bestimmen, das ist eine Kommunikationsgemeinschaft, sondern wir müssen schauen, wo versteht sich wer als Kommunikationsgemeinschaft."
Und genau das tut Wolffsohn in "Zum Weltfrieden". Er schaut auf Kommunikationsgemeinschaften weltweit - er nennt das "demografisches Röntgen" - und vergleicht sie mit den Grenzen der derzeitigen Staatenwelt. Das Ergebnis seines Röntgenblicks ist ernüchternd: Egal ob im Baltikum oder auf dem Balkan, in Syrien oder im Sudan - die Liste lässt sich beliebig fortsetzen -, überall werden Kommunikationsgemeinschaften von anderen Kommunikationsgemeinschaften unterdrückt - im Namen des Selbstbestimmungsrechtes der jeweils dominanten Gruppe. Schuld daran ist das Konzept des Nationalstaats.
"Die meisten Staaten unserer Welt gelten als Nationalstaaten, in denen ein Volk beziehungsweise eine Nation ihr Gebiet beziehungsweise ihren Raum, ihr Territorium beziehungsweise ihren Staat hat. Recht besehen sind jedoch sehr viele, ja fast alle Staaten dieser Welt, Vielvölkerstaaten. In diese Vielvölkerstaaten wurde zusammengepresst, was nicht zusammengehört(e) und, noch wichtiger, im Sinne wahrer Selbstbestimmung auch gar nicht zusammenleben wollte oder will." (S. 30)
Beispiel Israel und Palästina
Wäre es also nicht sinnvoller, die Vielvölkerstaaten aufzulösen und homogenere Nationalstaaten zu schaffen? Der Historiker lässt keinen Zweifel daran, dass das in den seltensten Fällen eine Lösung ist: Die Auflösung des Osmanischen Reiches führte nicht zu wahrer Selbstbestimmung der dort lebenden Völker, sondern zum Genozid an den Armeniern. Die einzige Möglichkeit, zu einem friedlicheren Miteinander der konkurrierenden Selbstbestimmungsrechte zu gelangen, liegt für Wolffsohn in einer Föderalisierung der Staatenwelt. Was das im Konkreten heißen kann, macht er am Beispiel Israels und Palästinas deutlich.
"Wenn immer wieder gesagt wird, die Zweistaatenlösung, dann muss man wieder genau hinsehen, was heißt zwei Staaten, es gibt doch faktisch drei: Israel, dann Palästina 1 im Westjordanland, Palästina 2 im Gazastreifen und eigentlich noch Palästina 3, nämlich Jordanien, also wo ist da die Zweistaatenlösung?"
Wolffsohn selbst kommt zu einem ganz anderen Ergebnis: Über kurz oder lang wird Jordanien zu einem palästinensischen Staat, weil die Palästinenser dort drei Viertel der Bevölkerung ausmachen. Das Westjordanland könnte zu einer Bundesrepublik Palästina/West-Jordanien werden mit einer jüdischen Minderheit, der weitgehende Selbstbestimmungsrechte eingeräumt werden - analog zu den Rechten, die Israel schon heute den israelischen Palästinensern gewährt.
"Wenn also die jüdische Minderheit Straßen beantragt, dann wird sie das nicht in einer jüdischen Behörde machen müssen, sondern in einer palästinensischen Behörde, und wenn die palästinensische Behörde nein sagt, dann wird es einen ganz normalen Verwaltungskonflikt geben und noch keinen bewaffneten Kampf, und so werden sich dann allmählich diejenigen, die im Westjordanland als Juden leben, entscheiden müssen, bleibe ich da, oder ziehe ich nach Tel Aviv oder Jerusalem."
Eine schöne, aber realitätsfremde Vorstellung - und Wolffsohn als exzellenter Israel-Kenner sollte das wissen. Die jüdische Minderheit im Westjordanland, also die heutigen Siedler, wird dort noch lange derart verhasst sein, dass sich kaum eine palästinensische Behörde für ihre Selbstbestimmungsrechte stark machen wird. Und kaum ein Jude im Westjordanland wird sich darauf verlassen, dass ihn die palästinensische Regierung schützen wird.
Muslime in Westeuropa
Ein weiteres Kapitel seiner Reise durch die Krisenregionen der Welt hat Wolffsohn den Muslimen in Westeuropa gewidmet. Sie, so seine Diagnose, bilden in vielen Großstädten längst eine eigene Kommunikationsgemeinschaft, die sich von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzt.
"Es ist doch unbestreitbar, dass es ein starkes Wir-Gefühl innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gibt in Westeuropa und auch in der Bundesrepublik, und umgekehrt gibt es das Wir-Gefühl der traditionellen Bevölkerung. Und wenn wir die innere Stabilität, den inneren Zusammenhalt, bewahren wollen, friedlich, dann muss man sich Mittel und Wege überlegen, wie man diese historische Urkraft des jeweiligen Wir-Gefühls organisiert, ohne dass es zu Blutvergießen kommt, und die Zeichen stehen leider auf Sturm."
Vorboten dafür sind die Aufstände junger Muslime in den französischen Banlieues wie die islamistischen Anschläge in verschiedenen europäischen Großstädten - aber auch die Taten des "Nationalsozialistischen Untergrunds". Dass ein wirklicher Sturm bislang noch nicht losgebrochen ist, liegt am wirtschaftlichen Wohlstand, aber das kann sich schnell ändern:
"Solange die Migranten gebraucht werden, ist das friedliche Neben- und Miteinander gesichert. Wehe, wenn Krisen drohen oder auch ausbrechen. Dann kann, selbst nach Jahrhunderten friedlichen Zusammenlebens, 'der Teufel los sein'."
Ob muslimische Parteien, wie Wolffsohn vorschlägt, zum Erhalt des inneren Friedens in Europa beitragen können, indem sie eine Brücke innerhalb der Gesellschaft schlagen, ist allerdings fraglich. Sie könnten die Spaltung auch vertiefen. Doch trotz manch zweifelhafter Therapievorschläge ist "Zum Weltfrieden" ein wichtiges Buch: weil es deutlich macht, welche Bedeutung nationale oder kollektive Identitäten weltweit nach wie vor haben - auch in Westeuropa, selbst wenn hierzulande viele der Meinung sind, dass wir diese Phase doch längst überwunden hätten.
Michael Wolffsohn: "Zum Weltfrieden: Ein politischer Entwurf", 216 Seiten, 14,90 Euro; dtv. ISBN-13: 978-3-423-26075-6