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Historiker zu Geschichtsvergleichen
"Zukunft kann sich ganz plötzlich vollständig ändern"

"Wir haben heute in der EU ein Problem der Renationalisierung", sagte der Historiker Andreas Wirsching im Dlf. In den letzten Tagen der Weimarer Republik habe man noch gedacht, die Demokratie stabilisiere sich. Große Wendungen sind häufig vollständig unerwartet gekommen, das sei eine Mahnung an unsere Zeit.

Andreas Wirsching im Gespräch mit Michael Köhler |
    Tausende von Menschen stehen am 30.06.1931 vor dem Berliner Postscheckamt, um ihr Guthaben abzuheben. |
    Anfang des Jahres 1933 hätte man überwiegend noch geglaubt, die Demokratie stabilisiere sich. Plötzlich um die Ecke sei aber etwas völlig anderes gekommen, so Wirsching. (picture-alliance / dpa / dpa - Fotoreport)
    Michael Köhler: Historische Vergleiche werden gern und rasch bemüht, um Größe oder Abgrund einer geschichtlich-politischen Situation zu beschwören und um mit Emotionen Politik zu machen. Auch gegenwärtig passiert das. Zu hören etwa ist: Die Krise der EU ähnele den letzten Tagen der Römische Republik, ihrem Untergang kurz vor Errichtung des Kaiserreichs und der Machtübernahme autokratischer Herrscher.
    Demographische Verwerfungen, Globalisierung, Traditionsbrüche, Bindungsverluste, Völkerwanderung, Sezessionstendenzen, fundamentalistische Weltanschauungen und anderes seien ähnliche Vorgänge. Damals wie heute.
    Andreas Wirsching, Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, habe ich gefragt, warum hält sich der Wunsch nach teils irrigen historischen Vergleichen so hartnäckig?
    Andreas Wirsching: Dieser spezielle Vergleich, die Geschichte der EU praktisch in ihrer krisenhaften Gegenwart und der Untergang der Römischen Republik, ist natürlich schon ein sehr spezieller Vergleich, ich finde auch ein sehr gewagter Vergleich. Grundsätzlich wird man natürlich klar sehen: In dem Augenblick, wo unklar ist, wohin geht es, wo das Wohin eine offene Frage ist, da fragt man nach dem Woher, und da bietet die Geschichte natürlich ein unerschöpfliches Anschauungsmaterial für mögliche Vergleiche. Insofern ist das, glaube ich, ein völlig normaler Prozess für Situationen, in denen die Zukunft dunkel und offen zu sein scheint, wie wir es ja gegenwärtig erleben.
    Was jetzt die Römische Republik betrifft, muss ich sagen, da hätte ich schon ein paar deutliche Fragezeichen. Mir würde es mehr einleuchten, ehrlich gesagt, wenn man den Untergang des Römischen Reiches im fünften Jahrhundert nach Christus als einen Vergleichspunkt nimmt mit einem römischen Großreich, auch einer vielleicht überdehnten Größe des Römischen Reiches, was ja damals mehr oder minder den ganzen Mittelmeer-Raum beherrscht hat, und einem Verlust der Integrationskraft seiner Institutionen, einer Individualisierung auch einzelner Akteure, und dann natürlich dem Druck durch die Völkerwanderung, die ja dann praktisch mehr oder minder direkt mit verschiedenen Hin und Hers dieses erodierte Institutionengefüge des Römischen Reiches dann auch zum Einsturz gebracht hat. Da könnte man meines Erachtens stärker noch drüber nachdenken.
    Mit der Römischen Republik leuchtet es mir, ehrlich gesagt, nicht so ganz ein, denn man kann sagen, es gibt natürlich in der späten Römischen Republik die starke Cleavage zwischen einer, sagen wir mal, Aristokratie, die überwiegend ihre eigenen Ziele verfolgt, auch einzelnen Akteuren, die dann auch ihren Bürgerkrieg gegeneinander führen, und dem, was man damals den Plebs nannte, dem Volk, was sich dann irgendwo nicht gut aufgehoben fühlt bei seinen Führern. Aber die Analogie leuchtet mir, ehrlich gesagt, nicht so ganz ein, denn wir haben ja nicht diese Nationen.
    Wir haben heute in der Europäischen Union ein Problem der Renationalisierung, das ist ganz offenkundig, eine Wiederankunft oder auch Neukonstruktion des Nationalismus, und das ist etwas, was in der Form jedenfalls nach meiner Kenntnis - ich bin kein Althistoriker - in der Spätphase der Römischen Republik diese Rolle nicht spielt.
    Nationalismus, Imperialismus - ein historisches Novum
    Michael Köhler: Das EU-Brüssel von heute kann man nicht mit dem alten Rom vergleichen. Wo das vielleicht - Sie haben es angedeutet - auf Expansion begründet war, ist die EU als größtes Friedensprojekt nach dem Zweiten Weltkrieg - daran müssen wir uns auch mal erinnern - auf Integration aus, selbst wenn es da kriseln sollte.
    Sie haben selbst in einem Beitrag am Ende einer Serie über die Weimarer Verhältnisse in der "FAZ" letztes Jahr eingeräumt, dass es ja oberflächlich durchaus Ähnlichkeiten geben mag: ökonomische Unsicherheiten, veränderte Weltordnung, Umformung im Parteiensystem, ein gewisser Autoritarismus und so weiter. Das ist dann doch nicht ganz von der Hand zu weisen, oder?
    Wirsching: Ja! Aber meine Vergleichsebene wäre dann schon sehr viel näher gelegen. In dem Fall ging es um die Weimarer Republik oder, allgemeiner gesagt, um die Zwischenkriegszeit. Meines Erachtens: Bei historischen Vergleichen kann man fragen nach analogen Potenzialen, nach Bekannten aus der Geschichte, bekannten Potenzialen, die sich dann aber natürlich doch immer sehr individuell ausprägen. Die Geschichte ist eine Geschichte auch der Individualität, der historischen Individualität, sodass mehr oder minder formale Vergleiche in der Regel, glaube ich, nicht funktionieren.
    Was vor allem für mich ein großes Problem ist, wenn man Vergleiche aus wirklich sehr viel früheren Epochen - die frühe Neuzeit wird auch häufiger da zitiert - versucht, dass man schwer über die Tatsache hinweg kommt, dass mindestens jetzt in der europäischen Geschichte seit dem 19. Jahrhundert die Nationen und ihre Übersteigerung in Form des Nationalismus, Imperialismus und so weiter einfach ein historisches Novum sind. In dieser Form hat es das in der Vergangenheit nicht gegeben. Auch die antiken, wenn man so will, ethnischen Bildungen folgen doch anderen Logiken. Es sind keine Massenbewegungen in dem Sinne, wie wir sie seit dem 19. Jahrhundert kennen, und da tritt etwas Neues in die Geschichte ein, was dann auch eine Strecke weit die Folgen davon inkommensurabel macht. Insofern würde ich nach analogen Potenzialen dann doch eher - aber ich bin halt Neuzeitler - in der Geschichte der Massengesellschaften suchen, wie sie, sagen wir mal, wenn man großzügig ist, seit dem späten 18. Jahrhundert, in gewisser Weise seit der Französischen Revolution sich entwickeln.
    Nationalismus als bedeutendste partikulare Kraft
    Köhler: Es stehen diesen Vergleichen doch einige massive Neuerungen des 20. Jahrhunderts im Wege. Ich denke, dass unsere Identität in der Durchsetzung individueller Freiheiten besteht, des Gewaltverbots, der Entfaltung des Menschenrechtsdiskurses, dass es eine aufsteigende Linie vielleicht gibt vom Versailler Vertrag übers Nürnberger Kriegsverbrecher-Tribunal, die UN-Charta bis zur Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs vor 20 Jahren. Das ist ja eine ganz andere Linie.
    Wirsching: Ja! Wir haben eine aufsteigende Linie eines, auf individuellen Freiheiten beruhenden Universalismus. Die Europäische Union ist auf der einen Seite natürlich ein in gewisser Weise integriertes Gebilde, ein Staatenverbund, aber auf der anderen Seite hat sie auch eine ganz klare Wertebasiertheit, und der ganze Acquis Communautaire beruht darauf. Dieser Wertehaushalt ist universal gedacht. Das sind die Menschenrechte, das ist eine universal gedachte Demokratie, das ist auch eine letztlich universal gedachte freie oder sozial gebändigte Marktwirtschaft mit internationalem Freihandel und so weiter. Das ist eine universal gedachte aufsteigende Linie. Aber das kann man nun in der Tat aus der Geschichte lernen und da gibt es auch dann viele Vergleiche, dass Universalismen in der Geschichte sich dann auch immer wieder brechen an partikularen Kräften. Sicherlich die bedeutendste partikulare Kraft des 19., 20. Jahrhunderts ist die Nation, der Nationalismus. Der kann sich in Regionalismus, in Rassismus, auch in verschiedenen ethnischen Konstellationen, die konstruiert sind, niederschlagen, aber das ist eine partikulare Kraft, von der wir gedacht haben, in den 90er-, frühen 2000er-Jahren vielleicht, dass sie sich einfügt in so ein universales Bild, in eine weltumspannende demokratische Ordnung, und da müssen wir heute feststellen, dass das in gewisser Weise eine Illusion war.
    Da finde ich, das kann man auf einer formalen Ebene vielleicht tatsächlich mit dem späten Römischen Reich vergleichen, weil das ja auch universal gedacht war - mit der Basis des römischen Bürgerrechtes, was dann auch peu à peu an die verschiedenen Reichsteile und an ihre Bürger vergeben wurde. Natürlich reden wir, wenn wir über das Römische Reich sprechen, nicht von einer modernen Demokratie und auch keiner individuellen, mit Freiheitsrechten versehenen Massengesellschaft, sondern das ist natürlich eine, letztlich auf unfreier Arbeit beruhende Elitenherrschaft. Das ist ganz klar. Aber formal kann man, wenn man will, da einige Vergleiche ziehen.
    Gefahr, einen verborgenen Sinn in die Geschichte zu lesen
    Köhler: Ich habe ja den Verdacht, dass das Ganze auch kulturelle Tiefenschicht hat, nämlich den hundertjährigen Geist Oswald Spengler ein bisschen herbeizurufen, was ja im Moment sehr en vogue ist. Diese Vergleiche hat es immer gegeben. Selbst Thomas Mann hat in seinem Essay "Friedrich und die Große Koalition" von 1915 das Preußen am Vorabend des Siebenjährigen Krieges, Mitte 18. Jahrhundert, mit dem Deutschland von 1914 verglichen.
    !Wirsching:!! Ja.
    Köhler: Analogien - ich glaube, bis hierhin gehen Sie mit, wenn ich sage - sind Unsinn.
    Wirsching: Ja.
    Andreas Wirsching, Leiter des Instituts für Zeitgeschichte, blickt am 06.03.2017 im Anschluss einer Pressekonferenz zum Projekt "Demokratische Kultur und NS-Vergangenheit" im Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München (Bayern) in die Kamera
    Andreas Wirsching, Leiter des Instituts für Zeitgeschichte (Matthias Balk / dpa)
    Köhler: Wenn - und das waren Ihre Worte eben -, man kann Potenziale freilegen. Wenn der Vergleich einen Sinn hat, dann doch vielleicht nur den, das Einzigartige und nicht das Ähnliche im Unvergleichlichen freizulegen.
    Wirsching: Das kann man so formulieren. Das leuchtet mir ein. Und man muss auch immer fragen, was will man eigentlich erklären. Und wenn wir zum Beispiel heute eine neue politische Unsicherheit erklären wollen, die zweifellos besteht, dann muss man danach fragen, in welchen Kontexten hat es das in der Geschichte schon mal gegeben. Dann wird aber auf diese Art und Weise doch sehr schnell die Möglichkeit des Vergleichs auch eingeschränkt.
    Wo Sie Spengler erwähnen: Es gibt natürlich zwei Versuchungen, würde ich sagen, im Denken von Geschichte. Das eine ist ein lineares Geschichtsmodell, dass es immer irgendwie weitergeht, und fortschreitet mit meinetwegen Rückschlägen, die dann aber doch teleologisch auf ein bestimmtes Ziel hin orientiert sei.
    Köhler: Hegelsche Geschichtsphilosophie ist das.
    Wirsching: Genau, ein bisschen dialektisch angetrieben. Das ist zweifellos eine Gefahr des Geschichtsdenkens, einen verborgenen Sinn in die Geschichte zu lesen. Aber es gibt auch die andere Gefahr, das ist das zyklische Denken nach dem Motto, es fängt wieder an, und da kommen dann natürlich die Vergleiche sehr schnell auch in den Sinn.
    Kurzschrittige Vergleiche, keine Gesetzmäßigkeit
    Köhler: Der Schrei nach Führern. Entschuldigung, aber das haben wir ja gerade ganz massiv.
    Wirsching: Der Schrei nach Führern ist aber, glaube ich, dann eher in einer demokratischen Massengesellschaft adäquat zu analysieren, die ihre Orientierung droht zu verlieren, wo es eine ganze Menge von Identitäts- und Statusunsicherheiten gibt und wo man in einer überkomplexen Welt Orientierung haben will, Orientierung und auch, sagen wir mal, dem eigenen Ich, dem eigenen Willen irgendeinen politischen Ausdruck jenseits der normalen verfassungsgemäßen Willensbildung geben will. Da gibt es dann tatsächlich, wenn man so will, analoge Potenziale, und die findet man ganz klar in der Zwischenkriegszeit - nicht nur in Deutschland, sondern international in Europa -, und ich bin schon der Meinung, dass wir in einer Zeit gegenwärtig leben, wo sich die politische Sprache und auch diese Form des Ausdrucks von politischer, sozialer, kultureller Identitätsunsicherheit in gewisser Weise etwas ähnelt mit dem, was wir aus der Zwischenkriegszeit kennen, wobei das darf man nun wirklich auch nicht übertreiben in dem Sinne, als ob sich die Geschichte wiederholen würde. Wiederholen tut sie sich nicht, höchstens, um mit Karl Marx zu sprechen, als Farce, aber dann ist sie auch etwas anderes.
    Insofern würde ich die Vergleiche dann kurzschrittiger und nicht mit dem Anspruch versehen, dass sie jetzt eine Gesetzmäßigkeit gewissermaßen erklären können, nach der unsere Gegenwart folgt. Das wäre ein Irrweg.
    Plötzlich um die Ecke kann etwas völlig Unerwartetes sein
    Köhler: Lässt sich abschließend vielleicht immerhin das aus Vergleichen lernen, Professor Wirsching: Es soll keiner sagen, das kann nicht mehr passieren?
    Wirsching: Da haben Sie recht. Und ein Vergleich, der mir selber immer recht eindrucksvoll ist, ist der, dass die Zukunft sich ganz plötzlich vollständig ändern kann. Das kennen wir zum Beispiel auch aus den letzten Tagen der Weimarer Republik, wo man am Anfang des Jahres 1933 an Neujahr noch ganz überwiegend dachte, na ja, die nationalsozialistische Gefahr und Bedrohung, die hat sich jetzt überlebt und die Demokratie stabilisiert sich. Das heißt: Plötzlich um die Ecke kann etwas völlig Unerwartetes sein, und die großen Wendungen in der Geschichte sind häufig vollständig unerwartet gekommen. Das kann eine wirkliche Mahnung an unsere Zeit sein, dass wir auch über das Unerwartete möglicherweise versuchen müssen nachzudenken.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.