Maja Ellmenreich: Ein mögliches "Sprachverbot" sorgt international für hohe Wellen: Zu mitternächtlicher Stunde hat auch der polnische Senat seinen Segen zum umstrittenen "Holocaust-Gesetz" gegeben – nun fehlt lediglich noch die Unterschrift des polnischen Präsidenten: Der kündigte eine "gründliche Analyse" des Gesetzestextes an. Und der besagt: Wer von "polnischen Todeslagern" spricht, dem drohen, ob polnischer Bürger oder Ausländer, bis zu drei Jahren Haft. So also sieht es das Gesetz vor, in dem es außerdem heißt, "der polnischen Nation sei keine Verantwortung oder Mitverantwortung an Naziverbrechen zuzuschreiben". Die Reaktionen, wie gesagt, sind laut und heftig: Besonders in Israel, wo man sogar überlegt, den eigenen Botschafter aus Polen abzuziehen.
Peter Oliver Loew ist Historiker am Deutschen Polen Institut in Darmstadt - er forscht unter anderem zu den deutsch-polnischen Beziehungen, aber auch zur Erinnerungskultur. Herr Loew, wenn wir uns erst einmal nur die Formulierung anschauen - dann stimmt doch, was in der Gesetzesvorlage steht: Die Formulierungen "polnisches Todeslager" oder "polnisches Konzentrationslager" müsste man korrekterweise ändern in "deutsches Konzentrationslager auf polnischem Boden", oder?
Peter Oliver Loew: Ja. Die Verwendung des Ausdrucks "polnisches Konzentrationslager" ist, bezogen auf den Zweiten Weltkrieg, natürlich völlig falsch und kann tatsächlich bei Menschen im Westen oder auf der gesamten Welt, die die historischen Details nicht so kennen, falsche Vorstellungen hervorrufen.
"Regierung versucht, verschiedene Diskurse zu unterbinden"
Ellmenreich: Die Formulierungen sind aber ja häufig Stellvertreter für etwas deutlich Größeres. Worum geht es Ihrer Meinung nach im Kern dieses, ja mittlerweile internationalen Disputs?
Loew: Das beginnt schon dabei, wenn man sich anschaut, wie das Gesetz eigentlich heißt. Es heißt nämlich "Gesetz über das Institut für nationales Gedenken" und es geht nicht nur um den Holocaust, sondern es geht auch darum, dass man in Polen sich nicht mehr für ukrainische Nationalisten positiv aussprechen darf. Es geht also darum, dass die polnische Regierung versucht, verschiedene Diskurse zu unterbinden, die, so heißt es, den guten Namen Polens in der Welt beschädigen könnten.
"Opferrolle verwenden, um Feindbilder zu kreieren"
Ellmenreich: Polen möchte sich wenn, dann überhaupt in einer Opferrolle und nie in einer Täterrolle sehen?
!Loew:!! Man muss vorsichtig sein, wenn man hier sagt "Polen". Weil diejenigen Kreise, die das Ganze lancieren, sind nicht das gesamte Polen. Das ist ein Teil der polnischen politischen Öffentlichkeit und ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung, Menschen, die sich seit Jahrzehnten in so einer Art Opferrolle sehen. Das teilen sie mit vielen nationalistischen oder populistischen Bewegungen auf der gesamten Welt, die diese Opferrolle verwenden, um sich und ihre Anhänger emotional stärker zu binden und Feindbilder zu kreieren, und dazu dient eben auch dieses Gesetz.
Forderung von PiS und dem Parteivorsitzenden Kaczynski
Ellmenreich: Sprechen wir da namentlich von der PiS-Partei, die ja im polnischen Senat, der heute Nacht abgestimmt hat, derzeit die Mehrheit bildet, diese rechtskonservative Regierungspartei PiS?
Loew: Ja. Es ist zurzeit tatsächlich in überwiegendem Maße die PiS, die das forciert, und auch die Person des Parteivorsitzenden Jaroslaw Kaczynski, der schon seit vielen, vielen Jahren genau dieses fordert, dass Polen nicht mehr ungestraft im Ausland beleidigt werden dürfe. Vor allem aber weist er darauf hin, dass man deutschen Versuchen, Schuld abzuweisen, an Polen zum Beispiel, entgegentreten müsse. Da gibt es in Polen eine ganz intensive Debatte darüber, dass die Deutschen ja seit Jahrzehnten durch ihre meisterliche Geschichtspolitik der Welt einzureden versuchen, dass sie nicht der Haupttäter im Zweiten Weltkrieg gewesen seien, sondern dass es viele andere Mittäter gegeben habe, um die eigene Schuld zu reduzieren. Und um dieser angeblichen deutschen Politik entgegenzutreten, werden unter anderem solche Gesetze wie dieses beschlossen.
"Es gab auch weniger positive Charaktere in Polen"
Ellmenreich: Dann blicken wir doch mal auf die Geschichtsschreibung im Jahr 2018. Was sagt die aus über die polnische Mitverantwortung an Verbrechen der Nationalsozialisten?
Loew: Man muss erst kurz sagen, dass alles, was während des Zweiten Weltkriegs im östlichen Europa geschah, eine Folge des deutschen Angriffs, des deutschen Terrors ist. Deutschland hat dadurch die gesamte Geschichte und auch die Geschichts- und Erinnerungskultur im östlichen Europa bis in die Gegenwart dramatisch belastet. Polen und die polnische Gesellschaft muss seit Jahrzehnten mit diesen Folgen von Holocaust und Vernichtung von polnischer Bevölkerung und vielen anderen Schändlichkeiten irgendwie zurechtkommen. Das ist ein Trauma, das ist eine erhebliche Belastung und Polen kann dafür nichts.
Fakt ist, dass es während des Zweiten Weltkriegs neben all dem Terror und Verbrechen und Holocaust durch Deutsche auch Mittäterschaften von Nichtdeutschen gegeben hat, unter anderem auch von einer Gruppe von Polen – sei es, dass sie aktiv sich beteiligten an der Verfolgung und Tötung von Juden, was in einigen polnischen Kleinstädten zum Beispiel der Fall gewesen ist - Stichwort Jedwabne. Das war so ein Ort in der Nähe von Warschau, wo nichtjüdische Polen ihre jüdisch-polnischen Nachbarn (*) verfolgt und ermordet haben. Oder sei es, dass sie während des Holocaust versucht haben, versteckte Juden zu erpressen und Geld von ihnen zu erpressen. Gleichzeitig aber gab es eine sehr beachtliche polnische Widerstandsbewegung, die versucht hat, polnische Juden zu retten, ihnen beim Überleben zu helfen. Es ist nicht so, dass man Polen generell jetzt Antisemitismus vorwerfen kann, sondern es ist so, dass in dieser dramatischen Situation des Zweiten Weltkriegs es auch weniger positive Charaktere gab in Polen, die die Situation benutzt haben, um materielle Vorteile für sich herauszuschlagen. Das ist normal, das sind Kriegszeiten, das sind keine normalen Geschehnisse.
"Das waren eigentlich gar keine Polen"
Ellmenreich: So differenziert, wie Sie jetzt die Lage geschildert haben, ist es nicht unbedingt im Sinne der Befürworter dieses Gesetzes. Der differenzierte historische Blick, der sagt, es gibt Opfer und Täter auf beiden Seiten, der ist genau das, was den Befürwortern des Gesetzes nicht schmeckt.
Loew: Das sehen wir bei den Populisten der Neuzeit, dass sie keine Lust an historisch komplexen Argumentationen haben, sondern es geht immer nur um die Guten und die Bösen, es geht um Weiß und Schwarz, die Schuldigen und die Täter. Insofern versucht man, sich gegen alle Versuche zu wehren, Polen oder einzelnen Polen eine gewisse Mitschuld zu geben. Und wenn man da nicht drum herumkommt und sagen muss, aufgrund der historischen Quellen und Beweise, dass es Polen gegeben hat, die da mitgewirkt haben, dann heißt es oft, das waren eigentlich gar keine Polen, sondern das waren Kommunisten oder das waren irgendwelche Angehörigen anderer Gruppen, die man aus der polnischen Nation quasi herausoperiert.
"Man wird vermeiden, über diese Dinge zu sprechen"
Ellmenreich: Nun wissen wir, dass sich polnische Künstler, Politiker, Journalisten und insbesondere auch Historiker vehement gegen das Gesetz ausgesprochen haben. Was bedeutet das, Herr Loew, für die Geschichtsschreibung, für Ihre Profession, für den Diskurs oder auch für den Austausch unter Historikern, wenn jetzt Formulierungen unter Strafandrohungen verboten werden, wie es sein könnte, wenn auch der polnische Präsident sein Okay zu der Gesetzesvorlage gibt?
Loew: Laut Gesetz sind wissenschaftliche Dispute, Diskurse, Publikationen ausgenommen von der Strafverfolgung, ebenso wie künstlerische Äußerungen. Aber es wird in Polen zurzeit darüber diskutiert, was bedeutet das eigentlich genau und wo endet Wissenschaft und wo beginnt zum Beispiel Journalismus. Da gibt es keine festen Grenzen, sondern das würde dann irgendwie aufgrund unklarer Kriterien eingeschätzt werden und verurteilt werden. Davor haben natürlich viele Leute Angst und sie sagen, dass das eine Schere im Kopf sein wird. Man wird vermeiden, über diese Dinge zu sprechen, weil man ja möglicherweise einer Strafverfolgung nicht entgehen kann.
Es wird also durchaus Auswirkungen haben, sollte dieses Gesetz durchkommen. Es gibt ja Widerstand, aus Israel, aber auch aus Amerika. Die Regierung in Washington hat heute vehement gesagt, ändert das Gesetz. Der Präsident sollte ein Veto einlegen. Sonst sehen wir hier wirkliche Gefahr für die wissenschaftliche Freiheit und auch für die Meinungsfreiheit in Polen.
"Auf mittlere und längere Frist katastrophale Folgen"
Ellmenreich: Und wenn dieses Gesetz durchgehen sollte, wie an vielen Stellen befürchtet wird, wäre das ein großer Rückschritt, was die Erinnerungskultur, was die Erinnerungspolitik und die Beziehungen zwischen Polen und Deutschland angeht?
Loew: Auf der einen Seite ja, natürlich, weil dadurch ganz klar wird, dass die regierende Gruppe in Polen überhaupt nicht an der wissenschaftlichen und sinnvollen Aufarbeitung von bestimmten Tabus oder weniger angenehmen Teilen der Vergangenheit interessiert ist. Paradoxerweise führt dieses Gesetz aber genau zum Gegenteil, dass nämlich im Ausland und auch in einem kritischen Teil der Gesellschaft in Polen genau darüber wieder diskutiert wird. Die Welt wird ja geradezu darauf hingestoßen, auf dieses Thema polnische Mittäterschaft oder polnische Mitverantwortung für einen Teilbereich dessen, was im Zweiten Weltkrieg geschehen ist. Dieser Versuch, den guten Namen Polens in der Welt durchzusetzen, hat genau zum Gegenteil geführt – völlig absurd. Aber das ist populistische Politik, die nicht bedenkt, was man im Ausland anrichtet mit dem, was man tut, sondern die nur auf die innenpolitische Szene blickt, und da hat man vielleicht erst mal ein bisschen Erfolg, wenn man die eigenen Scharen eint und mit nationalistischen Diskursen versucht, die Anhängerschaft der PiS zu einen. Aber auf mittlere und längere Frist wird das katastrophale Folgen haben.
Ellmenreich: Das sagt der Historiker Peter Oliver Loew vom Deutschen Polen Institut in Darmstadt, dem ich ganz herzlich danke für dieses Gespräch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
(*) Der Interviewpartner hat darauf hingewiesen, dass es an dieser Stelle präzise um "jüdisch-polnische" Nachbarn geht. Wir haben die Abschrift des Interviews entsprechend korrigiert.