Manfred Götzke: Kiel Ende Oktober 1918: Vor ziemlich genau 100 Jahren hatten junge Männer, Matrosen - Soldaten, um genau zu sein - den Mut, unter Gefahr für Leib und Leben für eine damals radikale Idee zu meutern. Für den Frieden und die Demokratie. Der Kieler Matrosenaufstand war der Auslöser für eine deutschlandweite Massenbewegung: Er leitet das Ende des Ersten Weltkriegs ein. Kaiser Wilhelm II. muss abdanken, am 9. November ruft der Sozialdemokrat Philip Scheidemann vom Balkon des Reichstags die Republik aus - die dann Weimarer wurde. Ich sag mal so: Wir haben schon 100-Jahres-Jubiläen gehabt, die bedeutungsloser waren.
Trotzdem scheint diese demokratische Revolution vom Oktober /November derzeit keine besonders große Rolle zu spielen. Warum das so ist, möchte ich mit dem Historiker Martin Sabrow besprechen. Herr Sabrow sie haben kürzlich einen Essay zur Novemberrevolution so betitelt: "Verhasst, verehrt, vergessen". Warum ist die Novemberrevolution, die mit der Matrosenrevolte begann, eine vergessene?
Martin Sabrow: Das ist in der Tat die Grundauffassung, die wir in den letzten Jahrzehnten eigentlich zur Novemberrevolution gewonnen haben, dass sie eine verschämte Revolution war, sogar, wie Alexander Gallus gesagt hat, eine vergessene Revolution.
Götzke: Warum verschämt?
Sabrow: Na ja. Arthur Rosenberg, der große deutsche Historiker der Weimarer Republik, hat einmal gesagt, dass es eine paradoxe Revolution war, weil die Massen gegen sich selbst revoltierten. Denn tatsächlich war ja schon die Reichskanzlerschaft auf Friedrich Ebert und damit auf die Sozialdemokratie übergegangen und das Ziel der Revolution, wie es zumindest aus mehrheitssozialdemokratischer Sicht interpretiert wurde, war eigentlich schon erreicht, bevor die Revolution ausbrach. Wie verschämt diese Revolution ist, lässt sich am besten am Beispiel der Kieler Ereignisse am 3., 4. November 1918 erörtern.
"Eher Ordnungsbewahrung statt Ordnungsauflösung"
Götzke: Vielleicht können Sie das kurz erläutern.
Sabrow: Die Revolution beginnt als ein Matrosenaufstand gegen einen Flottenbefehl vom 24. Oktober 1918, der in Wilhelmshaven ausgegeben wird und der den Kampf der Marine und den ehrenvollen Untergang gegen die Royal Navy vorsieht.
Am 29. Oktober, abends auf Schillig Reede bei Wilhelmshaven, kommt es zu einer Meuterei, die Feuer werden unter den Kesseln herausgerissen und diese Meuterei wird niedergeschlagen und die Truppen, die Marine wird auseinandergezogen. Das dritte Geschwader dampft nach Kiel. Kiel gilt als sicher, als zuverlässiger Standort der Marine. Als aber tatsächlich am 1. November dann die Holtenauer Schleuse passiert wird von dem Dritten Geschwader und die Matrosen arrestiert werden, die gemeutert haben, macht die Runde, was dagegen zu tun ist, und die Matrosen kommen zusammen auf Exerzierplätzen und an der Waldwiese und tatsächlich bricht dann so etwas wie eine Protestwelle sich Bahn, die zur Arrestanstalt führt, und da kommt es zu einer Schießerei am 2. November. Die lässt Tote zurück und daraus ergibt sich dann der revolutionäre Umbruch, der aber schon am 4. November wieder eigentlich fast, ich will nicht sagen, erstickt ist, aber zurückgenommen ist, als Gustav Noske von Berlin kommend in Kiel eintrifft und dann das Amt des Gouverneurs in Kiel übernimmt - mit dem Ziel, Ruhe und Ordnung zu schaffen. Damit ist eigentlich die Revolution, kaum dass sie begonnen hat, schon wieder zu Ende.
Insoweit ist das ein Geschehen, das eigentlich eher von Ordnungsbewahrung als von Ordnungsauflösung bestimmt ist. Und selbst die Massen, die am 9. November 1918, an diesem Sonnabend in Berlin am Schloss und am Reichstag zusammenlaufen, sie wollen eigentlich gar nicht die Revolution; sie wollen die Sicherheit, dass nicht auf sie geschossen wird. Deswegen stürmt Scheidemann ans Fenster und ruft an diesem 9. November aus, dass das alte Morsche zusammengebrochen sei und das Neue da ist und dass nichts zu befürchten ist, und damit proklamiert er dann die Republik.
"Eine verschämte, erstickte Revolution"
Götzke: Die SPD hat die Revolution aus Angst vor Chaos, aus politischer Verantwortung eingedämmt?
Sabrow: Ja, so kann man es sagen, wobei die SPD zerfällt natürlich auch in sehr verschiedene Gruppen, zunächst einmal die Mehrheits-Sozialdemokratie und dann die unabhängigen Sozialdemokraten unter Hugo Haase, die sehr viel radikaler sind. Unter der SPD sammeln sich auch revolutionärere Stimmen wie die der Obleute, aber natürlich gerade in der Elite der SPD vor allem die staatstragende Verantwortung. Man ist im Krieg, noch ist der Waffenstillstand gar nicht abgeschlossen, das erfolgt erst am 11. November. Und diese Suche, die Ordnung gegenüber dem Chaos zu wahren, das ist die dominante Sicht der Protagonisten dieser Revolution aufseiten der Mehrheitssozialdemokraten, während die Spartakus-Gruppe, die Unabhängigen mit Karl Liebknecht und dann Rosa Luxemburg an der Spitze, die Revolution weitertreiben wollen. Aber sie unterliegen zum Teil in blutigen Kämpfen, dann mit der Ermordung von Liebknecht und Luxemburg und dann mit den Kämpfen um und gegen die Räterepubliken bis hin nach München. Insoweit ist diese Revolution einmal eine Revolution, die gar nicht hätte sein müssen, eine verschämte, erstickte Revolution. Zum anderen war es eine weitergetriebene Revolution, die blutig niedergeschlagen wurde, und das Ergebnis ist die fortwährende Spaltung der Arbeiterbewegung unter anderem, die sich auch selbst angesichts des aufkommenden Nationalsozialismus dann nicht mehr überwinden ließ.
"Der Tradition der deutschen Geschichte stärker nachgehen"
Götzke: Lassen Sie uns über die Bedeutung der Revolution für die Demokratie sprechen. Kann man sagen, dass die deutsche Demokratiegeschichte ein Stück weit auch eigentlich mit diesem Kieler Matrosenaufstand beginnt?
Sabrow: Die Demokratie hat in Deutschland viele Wurzeln, aber natürlich ihre staatsrechtliche Wurzel ist der 9. November 1918, ist dann der 11. August 1919, als die Weimarer Reichsverfassung in Kraft tritt, und damit ist auch für uns jetzt zum hundertjährigen Jubiläum die Möglichkeit gegeben, diesen Wurzeln einer erfolgreichen oder zumindest einer interessanten, einer wichtigen Tradition der deutschen Geschichte stärker nachzugehen, auch wenn diese Tradition dann 1933 oder seit 1930 so brutal durchbrochen wurde.
Götzke: Sehen Sie da jetzt auch die Chance für eine Neuinterpretation dieser Ereignisse?
Sabrow: Ja, insgesamt gerät die Weimarer Republik weit über die Novemberrevolution hinaus jetzt in eine neue deutende Bewegung. Das hat zum einen natürlich mit dem Jubiläumszirkus zu tun. Das hundertjährige Jubiläum, das vor vier Jahren den Beginn des Ersten Weltkriegs traf, letztes Jahr die Oktoberrevolution, dieses Jahr die Novemberrevolution, wird in den nächsten Jahren, ja sogar zwei Jahrzehnten weitergehen, den Fokus verändern und damit Ereignisse beleuchten, die die Geschichte der Weimarer Republik betreffen. Darin kommt aber zum zweiten auch eine neue Betrachtungsweise hinein, die nicht mehr so sicher ist, wie das René Fritz Allemann 1956 sagte, Bonn beziehungsweise Berlin ist nicht Weimar. Als Historiker würden wir schon noch auf der Richtigkeit dieses Satzes beharren, aber die Frage nach möglichen Parallelen und der Gemeinsamkeit einer, früher nicht so empfundenen Fragilität der deutschen Demokratie, das schlägt eine neue Brücke von Berlin und Bonn nach Weimar.
"Sorge vor der Wiederkehr alter Schlachtordnungen"
Götzke: Diese Parallelen, die werden ja gerade in diesen Wochen, in diesen Monaten immer wieder gezogen. Stimmen diese Vergleiche der jetzigen Spaltung auch unserer Gesellschaft mit der Weimarer Republik? Kann man diese Parallelen ziehen, oder sind die aus Ihrer Sicht alle falsch?
Sabrow: Parallelisierungen dienen ja dazu, neben Gemeinsamkeiten auch Unterschiede deutlich zu machen. Zum einen finde ich in der Tat bemerkenswert, wie eng verkettet die einzelnen Phasen der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert doch tatsächlich sind, und es gibt auch Weimars Wirkung in der Bundesrepublik. Es gibt auch die Sorge vor der Wiederkehr alter Schlachtordnungen, wenn Sie daran denken, dass etwa die Demonstration "unteilbar", diese großartige Demonstration, die Fahne Schwarz-Rot-Gold eher vermieden hat, weil das heute schon ein Symbol der Rechten geworden ist. Etwas Ähnliches erlebten wir in der Weimarer Zeit im Flaggenstreit und mit der Deutschlandhymne, mit dem Deutschlandlied, und hier gibt es in der Tat auch zu untersuchende Parallelen.
Auf der anderen Seite haben wir es mit starken Kontrasten zu tun. Die Herausforderungen, vor denen die Weimarer Republik stand, sind unendlich viel stärker gewesen als unsere heutigen, und die Vertrauenskrise der Demokratie, die revolutionär ins Leben getreten war, ist seinerzeit viel größer gewesen als heute. Heute haben wir eine starke demokratische Mitte, die uns die Ränder besonders aufmerksam betrachten lässt, – gewiss – und an diesen Rändern wiederholen sich Denkmuster, die wir schon überwunden glaubten. Auch das gewiss, aber dann im ganz anderen Verhältnis, meine ich. Einer der stärksten Kontraste ist zum Beispiel die Suche nach einem charismatischen Messias, die die Weimarer Republik begleitet. Das fehlt dem heutigen autoritären Rechtspopulismus Gott sei Dank in starkem Maße und zeigt auch, dass die Möglichkeiten, in die Mitte der Gesellschaft vorzudringen, dann vielleicht doch nicht so stark sind, wie es in der Weimarer Zeit war, ganz bestimmt nicht so stark sind, wie es in der Weimarer Zeit war, aber doch stark genug, um uns mit Sorge zu erfüllen und mit Interesse auf eine Weimarer Republik zu schauen, der der Untergang nicht ins Stammbuch geschrieben war, die ihre Chancen hatte, die ihre enormen Leistungen hatte, Leistungen, die wir in den nächsten Jahren vielleicht genauer in den Blick nehmen werden und die nicht zwangsläufig auf das Jahr 1933 zulief, ebenso wenig wie die heutige Demokratie auf ihre Infragestellung hinauslaufen muss.
Volkspädagogische Zäsur schafft keine neue Ordnung
Götzke: Viele haben ja auch in den letzten Jahrzehnten in Bezug auf die Novemberrevolution von einer Revolution der verpassten Chance gesprochen. Würden Sie da zustimmen?
Sabrow: Ja, das ist die retrospektive Sicht von Historikern, die gehofft hätten, oder im Rückblick dann schauen, ob man nicht doch etwas weiter hätte gehen können, ob der Elitenaustausch nicht hätte stärker sein können, ob die Demokratisierung in der Verwaltung, in der Wirtschaft, in den Behörden nicht weiter hätte vorangehen können, ein stärkeres Spirit des Neuen erzeugen können.
Das sind Hoffnungen, die nicht aus der Situation und aus der Zeit heraus stammen, einer Zeit, die ja von Tag zu Tag auch denken musste. Auch die Bundesrepublik hat mit der Integration der nationalsozialistischen Ex-Eliten nach dem 131er-Gesetz ja ein Maß von Integration bewiesen, so wie es auch in der Weimarer Zeit notwendig war, die alten Eliten zu integrieren.
Man hätte im Labor der Geschichte gerne eine etwas stärkere Zäsur gewünscht. Auf der anderen Seite ist es vielleicht ein sehr naiver Glaube zu denken, man könne durch eine geradezu volkspädagogische politische Zäsur eine neue kulturelle Ordnung schaffen. Nein! Unterhalb der Wahrnehmung, unterhalb der Oberfläche hätte sich im Denken des Alltags dieselbe Staatsferne zur neuen Demokratie vermutlich durchgesetzt wie unter einer etwas weitergehenden Revolution – es sei denn, man versteht politische Umbrüche als Erziehungsdiktaturen, und das würde dann aber wiederum dem demokratischen Gedanken enorm widersprechen.
Immer neu zur Demokratie bekennen
Götzke: Ich möchte doch noch mal ganz kurz auf diese Parallelen kommen, die jetzt immer gezogen werden in Bezug auf Weimar. Inwieweit sehen Sie denn unsere Demokratie in Gefahr?
Sabrow: Das ist eine Frage, die man als Historiker nicht aus dem unmittelbaren Erleben heraus kompetent beantworten kann. Ich meine aber doch, dass die jetzige Infragestellung unserer demokratischen Ordnung durch die Lockerung etwa der Sagbarkeitsregeln zwar eine unerwartete und auch schockierende Wende bedeutet hat, auch eine Orientierungskrise selbst für die Historiografie, aber dass doch die Unterschiede zur Weimarer Zeit deutlich hervorstechen, zumal die wirtschaftlichen Verhältnisse ganz anders sind, als es zur Weimarer Zeit war, zumal auch die soziale Sicherung in einer ganz anderen Stärke heute existiert, als zur Zeit der Weimarer Republik. Insoweit sehe ich die Fragilität einer Demokratie, zu der wir uns immer neu zu bekennen und zu verhalten haben, aber ich würde die Parallelisierung zur Weimarer Zeit nicht so weit treiben.
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