Ernst Nolte hatte 1986 in einem Artikel für die FAZ die Frage nach der Einzigartigkeit des Holocaust gestellt und danach, ob die Judenvernichtung nicht eine Reaktion der Nationalsozialisten auf Stalins "Gulag-System" gewesen sei - eine "asiatische Tat" nannte Nolte das. Der Historiker Dan Diner meint, damit habe Nolte Gedanken aus der extremrechten Szene der Zwischenkriegszeit aufgenommen: Nämlich dass hinter dem Bolschewismus "die Juden" als singuläres Kollektiv stünden und dass man sich dagegen wehren müsse.
"Die Diskussion war aber weniger eine Auseinandersetzung um historische Faktizität oder Interpretation", so Diner. Es sei die erste Selbstverständnisdebatte der Bundesrepublik gewesen. Drei Jahre vor der Wiedervereinigung sei eine vorweggenommene Diskussion darüber geführt worden, was gelten solle und was die Grundlage dessen sein solle, worauf sich das deutsche Gemeinwesen gründe. Die Debatte sei als Debatte der politischen Kultur noch nicht ausgedeutet. "Nolte führte etwas ein, das in der Vorbereitung vielleicht schon von Helmut Kohl gewollt gewesen war: jene Wende, die herbeigeführt werden sollte gegen die alte Bundesrepublik im Sinne der Interpretation, wie sie vornehmlich mit dem Jahr 1968 in Verbindung stand. Also ein Kampf um die Seele der alten/neuen Bundesrepublik."
Im späteren Verlauf seiner Karriere sei Nolte immer esoterischer und exzentrischer geworden, so Diner. "Von der Historikerzunft wurden seine Bücher im engeren Sinne nicht mehr aufgenommen." Die Bücher hätten sich mit Fragen des Geschichtsdenkens, der historischen Existenz und auch mit dem Islamismus beschäftigt, "den er als die dritte radikale Widerstandsbewegung bezeichnet hat gegen das, was wir vielleicht heute als den liberalen Westen verstehen könnten."
Dan Diner lehrt an der Hebräischen Universität Jerusalem forscht über das Verhältnis von Geschichte und Gedächtnis.
Das Gespräch in voller Länge:
Stefan Koldehoff: Es war eine Debatte, die dieses Land vor 30 Jahren führte, in der es um nicht mehr und nicht weniger als um das grundlegende Selbstverständnis dieses Landes und um sein historisches Bewusstsein ging. 1986 war das - knapp zwei Jahrzehnte nach der 68er-Bewegung und knapp drei Jahre vor dem Ende der DDR und der Wiedervereinigung. Die Debatte, die damals geführt wurde, ist als der Historikerstreit in die deutsche Geschichte eingegangen, und ausgelöst hatte sie der Historiker Ernst Nolte, der in einem Artikel für die "FAZ" die Frage nach der Einzigartigkeit des Holocaust und danach stellte, ob die Judenvernichtung nicht eine Reaktion der Nationalsozialisten auf Stalins Gulag-System gewesen sei - eine "asiatische Tat" nannte Nolte das. Im Alter von 93 Jahren ist der Geschichtsprofessor heute in Berlin gestorben. Gegen den Vorwurf der Gleichsetzung von Stalinismus und Nationalsozialismus hatte er sich Zeit seines Lebens verwahrt.
Ernst Nolte: Man sollte Massenmorde unter moralischen Gesichtspunkten verurteilen, ob sie von den Nationalsozialisten oder von den Kommunisten kamen oder von irgendjemandem anders, was nicht eo ipso bedeutet, dass man beides gleichsetzt. Ich habe immer Gulag und Auschwitz sehr klar unterschieden - das eine zu den sozialen Vernichtungsvorgängen, mindestens der Idee nach, gerechnet, das andere zu den biologischen und metabiologischen Vernichtungsvorgängen. Also die Behauptung, ich hätte gleichgesetzt, ist eine falsche Behauptung.
Koldehoff: Trotzdem war Noltes Karriere durch den Historikerstreit schwer angeschlagen: Er wurde nicht mehr eingeladen, er wurde ausgeladen, sogar tätlich angegriffen und ging schließlich ins Exil nach Italien.
Nolte: Denkverbote und Frageverbote ist zu viel gesagt, ich konnte mich ja äußern. Aber es gab sozusagen unausgesprochene Frageverbote. Gewisse Entwicklungen, gewisse Diskurse, gewisse Gedankengänge wie meine waren von Anfang an mit einem negativen Akzent versehen, weil sie eben unter diesen Begriff Relativierung und Verharmlosung gebracht wurden, der natürlich ein sehr negativer und absprechender Begriff ist.
"Zwischen Bundesrepublik und DDR bestand eine Art von Bürgerkriegsverhältnis"
Koldehoff: Ich habe mit dem Münchner Historiker Dan Diner gesprochen, der an der Hebräischen Universität Jerusalem lehrt und viel über das Verhältnis von Geschichte und Gedächtnis geforscht hat. Zu den großen Verdiensten von Ernst Nolte zählt sein 1963 erschienenes Buch "Der Faschismus in seiner Epoche", in dem er die Totalitarismustheorie der 1920er-Jahre ja noch sehr stark differenziert.
Dan Diner: Keine Frage, das war eine große Differenzierung und im Übrigen das erste Buch, das erste deutschsprachige große Buch, das sich mit dem Faschismus in weitestem Sinne beschäftigt hat. Es ging ja nicht nur um den Nationalsozialismus, es ging um die französischen Ausformungen der Action française, natürlich über den italienischen Faschismus, und auch dann natürlich die faschistischen Anteile im deutschen Nationalsozialismus, der ja eigentlich über den Faschismus hinausgegangen ist. Aber es war insofern ein grundlegendes Buch, gar keine Frage, 1963, als es dann erschienen war. Aber was die Frage des Totalitarismus angeht, da hat Nolte ja selbst - zwar später - eine Korrektur angebracht. Er meinte, dass dieses Buch die Unterscheidung zwischen Faschismus und Antifaschismus keineswegs aufhebt, aber wie Sie bereits gesagt haben, Differenzierungen einlegt. Man darf ja nicht vergessen, dass damals in Deutschland ja zwei Staaten bestanden, die DDR, deren Selbstverständnis ja ein antifaschistisches war - das war das einzige Gemeinwesen im damaligen Ostblock, das ja auf ideologischer Grundlage, allein auf ideologischer Grundlage existierte und dann mit dem Ende der Ideologien auch zerfiel im Unterschied, sagen wir, zu Polen, zu Ungarn, zu allen anderen Staaten - und die Bundesrepublik, die sich zwar eben doch aufgrund ihres liberalen demokratischen Selbstverständnisses ja auch als antitotalitär begriff. Also zwischen Bundesrepublik und DDR, und das galt ja auch für die 80er-Jahre, bestand ja so eine Art von Bürgerkriegsverhältnis untereinander, also eine Kategorie und ein Begriff, der ja auch für Noltes Geschichtsverständnis grundlegend sein soll.
"Er nahm einen Gedanken der extremen Rechten auf"
Koldehoff: Den er dann 1986 spätestens noch mal aufgegriffen hat, als er davon sprach, dass es ja einen Bürgerkrieg von 1917 bis '45 gegeben habe. 1986 im Juni erscheint in der "FAZ" sein Artikel mit der Überschrift "Vergangenheit, die nicht vergehen will", mit Sätzen wie oder Fragen wie: War nicht "Der Archipel Gulag" ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der "Klassenmord" der Bolschewiki das logische und faktische Prius, also eine Art Voraussetzung des "Rassenmords" der Nationalsozialisten?" Es entspann sich sofort eine heftige Auseinandersetzung darüber. Jürgen Habermas hat in der "Zeit" geantwortet, Nolte vorgeworfen, er beteilige sich an einer Umdeutung der deutschen Geschichte, die Singularität des Holocaust werde nun eben doch infrage gestellt, vielleicht sogar gerechtfertigt. Trafen diese Vorwürfe zu, die Nolte sich da anhören musste?
Diner: Im Prinzip schon, aber ich würde mich erst mal an der Überschrift aufhalten wollen, eine "Vergangenheit, die nicht vergehen will". Das war ja eine diagnostische Aussage über den Holocaust gewesen. Es ist in der Tat so, dass dieses Ereignis ja weit über seine Zeit hinaus strahlt und nicht nur das Selbstverständnis in Deutschland, sondern auch das Selbstverständnis in Europa grundiert und inzwischen ja auch Teil einer globalen Debatte geworden ist. Also, eine Vergangenheit, die nicht vergeht, das mochte Nolte unter Umständen damals nicht gefallen haben, aber diagnostisch war das durchaus richtig gewesen.
Nun, die Frage mit dem logischen und faktischen Prius, nämlich der Gulag sei oder ist Auschwitz vorausgegangen, und darüber ja auch so etwas wie einen kausalen Zusammenhang zu konstruieren, das war ja die Absicht von Nolte gewesen. Er meinte ja, dass der Nationalsozialismus mit dem Judenmord, das heißt also mit dem Holocaust, mit Auschwitz auf etwas Vorausgegangenes, nämlich eine Bedrohung durch den Bolschewismus, reagiert habe. Damit nahm er natürlich den Gedanken auf, der in der extremen Rechten in Deutschland, aber auch in Europa in der Zwischenkriegszeit gang und gäbe war, dass hinter dem Bolschewismus die Juden stünden, sozusagen als Kollektivsingular, wo man sich jetzt zu erwehren habe, um die weitere Ausweitung des Bolschewismus und den damit verbundenen Klassenmord zu verhindern. Das war natürlich eine starke, eine skandalisierende These gewesen, auf die reagiert wurde.
"Eine vorweggenommene Debatte über das Selbstverständnis Deutschlands"
Nur war die Diskussion um den sogenannten Historikerstreit ja weniger eine Auseinandersetzung, sagen wir, um historische Faktizität oder Fragen der historischen Interpretation, sondern es war ja eine selbstverständliche Debatte um die Bundesrepublik Deutschland gewesen. Wir dürfen ja nicht vergessen - und vielleicht wird es in zehn oder 20 Jahren deutlicher werden - dass ja 1986, in dem diese Debatte ja losgetreten wurde, lag ja, drei Jahre vor der Vereinigung und vor 1989, wenn man so will, im Nachhinein gesehen so etwas wie eine vorweggenommene Debatte über das Selbstverständnis Deutschlands. Also, was soll jetzt gelten, was soll jetzt die Grundlage dessen sein, worauf sich das deutsche Gemeinwesen gründet.
Insofern ist diese Debatte als eine Debatte der politischen Kultur meines Erachtens noch nicht zur Gänze ausgedeutet, also wichtig, und insofern sind die Namen Nolte und Habermas mit diesem Ereignis verbunden.
Man darf noch eine Sache nicht vergessen: Die Bundesrepublik Deutschland, die alte Bundesrepublik, war ja reine Gesellschaft gewesen. Es galt sozusagen die soziale Deutung der Wirklichkeit. Nolte führt jetzt etwas ein, was in der Vorbereitung vielleicht sogar von Kohl gewollt gewesen war, Anfang der 80er-Jahre, jene Wende, die herbeigeführt werden sollte gegen die alte Bundesrepublik im Sinne der Interpretation, wie sie auch vornehmlich mit dem Jahre 1968 in Verbindung stand - also ein Kampf, wenn man so will, um die Seele der alten/neuen Bundesrepublik, die mit dem Historikerstreit ausgetragen wurde.
Koldehoff: Zumal ja im Jahr davor, Herr Diner, 1985, Richard von Weizsäcker seine große Rede zu 40 Jahre Kriegsende gehalten hatte und da auch noch mal neue Pflöcke eingeschlagen hat.
Diner: Nicht nur neue Pflöcke. Wir dürfen nicht vergessen, dass bis zu dieser Zeit ja eher von der Kapitulation am 8. Mai 1945 die Rede war, und jetzt sollte es als Tag, wenn man so will, der Befreiung angesehen werden, also eine völlige, wenn man so will, Verkehrung im deutschen Bewusstsein von einem alten deutschen in ein neues deutsches Selbstverständnis. Das war natürlich etwas Gewaltiges und von den älteren Generationen oder von den Kriegsteilnehmern und dieser Generation kaum hinnehmbar. Und insofern dürfte auch die Reaktion beziehungsweise der Artikel Noltes auf diesem Humus gewachsen sein.
"Seine Bücher wurden immer esoterischer und exzentrischer"
Koldehoff: Wie ging es ihm nach dem Historikerstreit, war er isoliert, hat er noch wesentliche Beiträge zur deutschen Geschichtsforschung geleistet?
Diner: Er hat mehrere Bücher geschrieben, aber die immer esoterischer und exzentrischer wurden, das heißt von der Historikerzunft im engeren Sinne nicht mehr aufgenommen worden waren. Also Bücher, die sich mit Fragen des Geschichtsdenkens, der historischen Existenz und nicht zuletzt im Übrigen auch mit dem Islamismus beschäftigt haben, den er als die dritte radikale Widerstandsbewegung bezeichnet hat gegen das, was wir vielleicht heute als den liberalen Westen verstehen könnten. Das heißt der Faschismus, der Bolschewismus und der Islamismus als antiwestliche Reaktion - heute würden wir vielleicht das Wort vom Atlantismus verwenden. Insofern sind die Ideen und Überlegungen Noltes, die ich eben als esoterisch und exzentrisch bezeichnet habe, vielleicht haben sie in gewisser Hinsicht, was nicht angenehm wäre, noch eine Zukunft vor sich, wenn man sich die Entwicklungen heute in Europa anschaut. Und wenn man sieht, wie stark ethno-nationalistische Bewegungen werden und geworden sind und auch die Rolle Russlands in den Blick nimmt - das natürlich ein anderes Russland ist als jenes bolschewistische Russland, das Nolte im Blick hatte, sondern ein Russland, das sich eher auf Bezüge des 19. Jahrhunderts zurückzieht und sich dann mit Nolte, in Anführungsstrichen, insofern trifft, als er eben auch in einer ähnlichen Weise, man könnte sagen antiwestlich argumentiert hat.
Koldehoff: Der Historiker Dan Diner zum Tod seines Kollegen Ernst Nolte.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.