Zunehmend werden in den letzten Jahren Rundfunkarchive als Quellen künstlerisch wertvoller Aufnahmen wiederentdeckt und systematisch ausgewertet. Passionierte Radiohörer wissen nur zu gut, dass es dort noch viele Schätze zu entdecken gibt - Aufnahmen mit großen Orchestern, Dirigenten und Solisten, die manchmal nur ein einziges Mal gesendet wurden. In Zusammenarbeit mit Plattenfirmen machen Rundfunkanstalten diese vergessenen Einspielungen jetzt wieder zugänglich. Hervorgetan haben sich hier u.a. Labels wie "Orfeo", "Hänssler Classic" und "Audite" und seit vielen Jahren auch "ica classics". Dabei handelt es sich um das expandierende CD-Label der in London ansässigen Künstleragentur "International Classical Artists". Neben Neueinspielungen mit hauseigenen Künstlern veröffentlicht ica in großem Umfang historische Live- und Studioaufnahmen vor allem aus dem Archiv der BBC. Die 1998 aufgelegte Editon "BBC Legends" ist mittlerweile auf mehr als 250 Veröffentlichungen angewachsen. Hinzu gekommen sind in letzter Zeit auch Aufnahmen aus den Archiven deutscher Rundfunkanstalten. Aktuell hat "ica classics" seinen Katalog um ein ganzes Paket von Neuheiten erweitert: mit CD-Erstveröffentlichungen von Aufnahmen mit den Dirigenten Sir Adrian Boult, Sir John Barbirolli, Hans Rosbaud, Rudolf Kempe und Gennadij Roschdestwenskij. Und Klavier-Enthusiasten können sich über ein Live-Recital mit dem Pianisten Emil Gilels freuen:
Frédéric Chopin: Klaviersonate Nr. 3 h-Moll op. 58, 2. Satz (Scherzo: Molto vivace), Emil Giles (Klavier)
Emil Gilels war das mit dem Scherzo aus der dritten Klaviersonate von Frédéric Chopin. Der große russische Pianist spielte das Werk im März 1979 bei einem Soloabend in der Kapelle der Abbotsholme School in England. Außerdem standen Schumanns Klavierstücke op. 32, die Balladen op. 10 und Chopins Polonaise op. 40 auf dem Programm. Die Mikrofone der BBC haben dieses denkwürdige Konzert aufgezeichnet. Schumanns Klavierstücke op. 32 sind hier insofern eine Rarität, als dass Gilels sie erst sehr spät in seine Konzertprogramme aufnahm.
Sir Adrian Boult gehörte zu den markantesten Erscheinungen des englischen Musiklebens, mit ganzer Leidenschaft setzte er sich für die Musik seines Heimatlandes ein. Wegweisend waren besonders seine Interpretationen der Werke von Edward Elgar und Ralph Vaughan Williams. Wie prachtvoll der 88-jährige Boult Elgars zweite Sinfonie zum Klingen brachte, ist in einer Live-Aufnahme der BBC aus der Royal Albert Hall vom Juli 1977 zu hören:
Edward Elgar: Sinfonie Nr. 2 Es-Dur op. 63, 1. Satz (Allegro vivace e nobilmente), BBC Symphony Orchestra, Leitung: Adrian Boult
Wie Sir Adrian Boult machte sich auch Sir John Barbirolli sehr um die englische Musik verdient. Er leitete viele Uraufführungen, u.a. der "Sinfonia da Requiem" von Benjamin Britten und der Sinfonie Nr. 8 von Ralph Vaughan Williams, die ihm gewidmet ist. Häufiger dirigierte Barbirolli auch in Deutschland, regelmäßig u.a. die Berliner Philharmoniker. Im Februar 1969, ein Jahr vor seinem Tod, kam er noch einmal für eine Serie von Konzerten nach Stuttgart, Baden-Baden, Köln und Hamburg. Bei dieser Gelegenheit entstanden auch Aufnahmen im Hans-Rosbaud-Studio in Baden-Baden mit dem SWF-Sinfonieorchester, u.a. stand die Sinfonie Nr. 83 von Joseph Haydn auf dem Programm:
Joseph Haydn: Sinfonie Nr. 83 g-Moll Hob.I:83 "Die Henne", 4. Satz (Finale: Vivace), SWF Sinfonieorchester Baden-Baden, Leitung: John Barbirolli
Im Gegensatz zu Sir John Barbirolli hinterließ der Dirgent Hans Rosbaud nur wenige kommerzielle Schallplatteneinspielungen. Rosbaud ist vor allem als Vorkämpfer der Musik des 20. Jahrhunderts in Erinnerung geblieben ist. Seine Lebensstellung trat er als Chefdirigent des SWF-Sinfonieorchesters in Baden-Baden an, wo das Werk von Arnold Schönberg einen Schwerpunkt seiner Arbeit bildete. Doch legte Rosbaud stets Wert darauf, nicht als ein Spezialist für zeitgenössische Musik zu gelten, souverän beherrschte er nämlich die gesamte Bandbreite der Orchesterliteratur. So machte er sich im deutschen Sprachraum bald nach dem Zweiten Weltkrieg als einer der Ersten für Jean Sibelius stark, dessen Reputation nicht zuletzt wegen der vernichtenden Kritik von Theodor W. Adorno und René Leibowitz schwer beschädigt war. Historisch bedeutend ist daher auch seine Aufnahme der sechsten Sinfonie von Sibelius mit dem Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester von 1952, die jetzt bei "ica classics", zusammen mit Orchesterwerken von Claude Debussy, als CD-Erstveröffentlichung erschienen ist.
Jean Sibelius: Sinfonie Nr. 6 d-Moll op. 104, 3. Satz (Scherzo: Molto vivace), Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester, Leitung: Hans Rosbaud
Ein Dokument von historischem Rang ist auch die Einspielung der vierten Sinfonie von Gustav Mahler mit dem BBC Symphony Orchestra unter der Leitung von Rudolf Kempe aus dem Jahre 1957. Zu dieser Zeit hatte die große Mahler-Renaissance noch nicht eingesetzt, damals waren nur drei kommerzielle Aufnahmen der Sinfonie auf Langspielplatte erhältlich. Kempe hatte gerade als Gastdirigent beim BBC Symphony Orchestra debütiert, als man ihm die Aufnahme der Vierten in Vertretung für den erkrankten Mahler-Spezialisten Bruno Walter anvertraute:
Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 4 G-Dur, 1. Satz (Heiter, bedächtig. Nicht eilen), BBC Symphony Orchestra, Leitung: Rudolf Kempe
Eine der aktuellen Veröffentlichungen auf dem Label "ica classics" ist dem russischen Dirigenten Gennadij Roschdestwenskij gewidmet, der das BBC Symphony Orchestra mehrere Jahre als Chefdirigent leitete. Roschdestwenskij war, wie wohl jeder russische Dirigent, ein passionierter Interpret der Werke von Peter Tschaikowsky. Er hatte seine Karriere am Moskauer Bolschoi Theater begonnen und dort sehr oft Tschaikowskys Ballette aufgeführt. Aber auch die Sinfonien gehörten zu seinem festen Repertoire, die letzten drei spielte er mit dem London Symphony Orchestra für die Schallplatte ein. Wie leidenschaftlich und euphorisch, aber auch ganz natürlich sich Roschdestwenskij der fünften Sinfonie näherte, kann man jetzt in einer Live-Aufnahme vom Flandern Festival 1978 hören, die aus dem Archiv der BBC stammt und jetzt zum ersten Mal auf CD erschienen ist.
Peter Tschaikowsky: Sinfonie Nr. 5 e-Moll op. 64, 4. Satz (Finale: Andante maestoso – Allegro vivace), BBC Symphony Orchestra, Leitung: Gennadij Roschdestwenskij
Die Neue Platte im Deutschlandfunk. Heute stellten wir Ihnen Veröffentlichungen aus dem Bereich "Historische Aufnahmen" vor: Sechs CDs mit Einspielungen aus den Rundfunkarchiven der BBC, des WDR und des SWR, die jetzt auf dem Label "ica classics" erschienen sind. Die Sendung ging zu Ende mit einem Ausschnitt aus dem Finale der Sinfonie Nr. 5 von Peter Tschaikowsky, Gennadij Roschdestwenskij leitete das BBC Symphony Orchestra in einer Live-Aufnahme von 1978.