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Historische Fluchtroute
Über die Pyrenäen in die Freiheit

Walter Benjamin floh einst vor Hitler über die Pyrenäen. Das Grenzgebirge zwischen Frankreich und Spanien war immer schon Schauplatz von Flüchtlingszügen. Der 95-jährige Paul Broué wird als Held des Chemin de la Liberté gefeiert. Im Gegensatz zu den Fluchthelfern von heute.

Von Birgit Kaspar |
Auf dem Chemin de la Liberté, im Hintergrund Pyrenäengipfel in der Nähe des Mont Valier
Die Pyrenäen waren während des Zweiten Weltkriegs für viele Flüchtlinge das Tor zur Freiheit und auch heute wagen viele die Strapaze (Deutschlandfunk / Birgit Kaspar)
Ein Strauß roter Plastikrosen auf Augenhöhe an einem Buchenstamm. An wen er erinnert, behält er für sich. Wärmend scheint die Sonne durch die hoch aufstrebenden Bäume. Der sogenannte Chemin de la Liberté klettert steil bergan bis zu einer Hütte, in der im Sommer ein Schäfer wohnt.
Kleine Bäche fließen von schroffen Felshängen. Die Hütte ist umgeben von einschüchternden Gipfeln. Diese wilden Steinwüsten mussten die Flüchtlinge überwinden, meist bei Nacht und Nebel. Oft mit Straßenschuhen und ohne angemessene Kleidung. Ein falscher Tritt, Erschöpfung oder Unterkühlung konnten den Tod bedeuten.
Historischer Fluchtweg durch die Pyrenäen
Ab 1943 war dieser steinige Pfad eine der wenigen Routen durch die Zentralpyrenäen, die noch als passierbar galten. Nicht nur die Flüchtlinge, auch die Fluchthelfer riskierten ihr Leben. Die Deutschen hatten im November 1942 auch den Süden Frankreichs besetzt und die Überwachung der Grenze zu Spanien intensiviert. Die Fluchtrouten durch die Pyrenäen sollten abgeriegelt werden. Wurde ein Passeur – also ein Fluchthelfer - entdeckt, wurde er meist sofort erschossen. Aber hoch oben im zerklüfteten Hochgebirgsterrain um den knapp 3.000 Meter hohen Mont Valier, dort waren keine Patrouillen mehr zu erwarten.
"Da muss man erst mal hochmarschieren! Manch einer behauptet, die Deutschen hätten bis zur Grenze patrouilliert, aber das stimmt nicht. Sie sind weiter unten geblieben. Denn diesen Weg muss man erst mal bewältigen!"
Der ehemalige Fluchthelfer Paul Broué in seiner Küche in Seix / Département Ariège
Der ehemalige Fluchthelfer Paul Broué (Deutschlandradio / Birgit Kaspar)
Paul Broué muss es wissen. Er war damals Fluchthelfer. Die Route über den 2.500 Meter hohen Col de Claouère war extrem schwierig: 2.650 Höhenmeter waren zu überwinden, in mehr als 20 Stunden reiner Gehzeit. Ohne einen Passeur, der sich auch bei Dunkelheit und schlechtem Wetter gut auskannte, war das unmöglich.
Paul Broué empfängt mich in seiner gemütlichen, rustikal eingerichteten Holzküche in Seix. Durch dieses kleine Bergdorf, das damals innerhalb einer Sperrzone lag, verlief ein wichtiger Fluchtweg nach Spanien.
"Wir hatten eine Familienpension. Einer unserer Gäste war ein deutscher Soldat. Dem durften wir die Unterkunft nicht verweigern, denn die Wachsoldaten, von denen es sechs oder sieben in der Gegend gab, hatten keine Kaserne. Also schliefen sie bei Anwohnern. Er war in Ordnung, glücklicherweise! Denn meine Mutter hat eine ganze Reihe Leute im Hinterzimmer versteckt, die auf eine Gelegenheit zur Flucht warteten. Und das mit dem Deutschen im Haus! Ich kann Ihnen sagen, meine Mutter hat einige Dinger gedreht."
Die Nazis wurden ausgetrickst
Der 95-Jährige lacht. Wie viele sie gemeinsam versteckt und an Passeure weitergeleitet haben, kann Paul nicht sagen. Sie kannten nicht mal ihre Namen.
"Combien comme ça sont passés à la maison, on n’en sait rien. On ne leur demandait meme pas leurs noms."
Der heute gebrechliche Mann in Schafsfellweste und grau-kariertem Hemd erinnert sich mit leuchtenden Augen, wie er und seine Kameraden die Nazis ausgetrickst haben. Er sei Teil eines komplizierten Geflechts von Helfern, Hirten der hoch gelegenen Sommerweiden und der eigentlichen Passeure gewesen. Dazu gehörten auch professionelle Schmuggler, einfache Bauern, Lehrer, Geistliche, Waldarbeiter, Ärzte oder Geschäftsleute. Sowie der örtlichen Bürgermeister, denn der wusste natürlich, was in seinem Dorf vor sich ging. Aber es waren die Passeure, die den gefährlichsten Job hatten: Sie brachten die Fliehenden, darunter Familien mit Kindern, bis hinauf an die Grenze.
"Von dort aus gingen sie alleine auf gut Glück runter ins Tal. Man muss nur dem Wasser folgen, es fließt immer bergab."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Grenzerfahrung Pyrenäen - Neue und alte Fluchtrouten zwischen Spanien und Frankreich" in der Sendung "Gesichter Europas".
Das ging alles eine Weile relativ gut. Bis die Deutschen Wind davon bekamen, dass ihren Bemühungen zum Trotz einigen die Flucht gelang. Jetzt wurde die Sache brenzliger. Zudem drohte dem jungen Automechaniker Paul nun altersbedingt die Einberufung zur Zwangsarbeit in Deutschland. Deshalb beschloss auch er, sich von seinem Kameraden, dem Passeur Etienne, über die Pyrenäen bringen zu lassen. Denn er selbst kannte sich oben in den Bergen nicht aus.
"Alors ils nous ont mis dans une cabane, ils nous ont dit qu’Etienne viendra vous chercher. »
Paul und einige weitere Fluchtbereiter warteten in einer kleinen Hütte auf Etienne. Der brachte noch zwei Flüchtlinge aus einem Gefangenenlager nahe Toulouse mit. Paul war sehr nervös, erzählt er, hatte Angst vor den schwierigen Felspassagen.
"Ich sagte Etienne, dass mir schwindelig werde und ich Angst habe. Er antwortete, mach dir keine Sorgen, wenn ich einen Fuß hebe, hebst Du deinen auch.
Ein Plastikblumenstrauß erinnert an die Opfer auf dem Chemin de la Liberté
Ein Plastikblumenstrauß erinnert an die Opfer auf dem Chemin de la Liberté (Deutschlandradio / Birgit Kaspar)
Endlich erreichte die kleine Gruppe die Grenze. Nun musste der Passeur bezahlt werden.
"Moi j’ai donné 2000 Francs – oui, ça faisait un bon mois. Mais vous savez les gars comme lui, il avait six enfants, il fallait monter et il fallait revenir. Les risques qu’ils prenaient et la fatigue. On a beau être entrainé mais il fallait le faire."
Er habe 2.000 Francs, also ein gutes Monatsgehalt, bezahlt, sagt Paul. Das sei angemessen angesichts der Strapazen und Risiken. Dann habe er noch 1.000 Francs gegeben für einen mittellosen Flüchtling aus dem Lager. Im Tal in Spanien wurde Paul gleich von der spanischen Polizei festgenommen. Das war normal. Ein paar Monate mussten fast alle Flüchtlinge in spanischen Gefängnissen verbringen. Als er freikam, machte er sich auf den Weg nach Casablanca, um sich der "Armee des freien Frankreich" anzuschließen.
Heute wird Paul Broué in der Region als einer der wenigen noch lebenden Helden des Chemin de la Liberté gefeiert. Im Gegensatz zu jenen, die jetzt Flüchtlingen und Migranten bei der Überwindung der Pyrenäengrenze helfen. Sie werden als Kriminelle gesucht.