In die Verhandlungen über den Nichtangriffspakt hatte sich Stalin selbst eingeschaltet. Kurz nach ihrem Abschluss lobte Außenminister Wjatscheslaw Molotow: "Der Abschluss des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrags bezeugt, dass sich die historische Voraussicht des Genossen Stalin glänzend erfüllt hat."
Keine Kritik an Stalins Führung
Dieses Abstecken eigennütziger Interessen auf Kosten kleinerer Länder und ihrer Menschen, gemeinsam betrieben von zwei diktatorisch regierten Mächten, ist eines der Kapitel, das in die in Russland von der Führung gewollte Geschichtserzählung nur dann hineinpasst, wenn es umgedeutet wird.
Besonders seit Amtsantritt Präsident Wladimir Putins vor fast 20 Jahren wird die sowjetische, die russische Geschichte des Zweiten Weltkriegs praktisch ausschließlich vom Sieg im Mai 1945 her dargestellt: Eine Abfolge heroischer Opfer und Taten, die schließlich den Gegner im Westen niederrangen. Stalins Führung wird nicht kritisiert. Dass er mit Hitler paktierte, darf demzufolge kein Fehler gewesen sein.
Russische Lesart: Westmächte hätten versagt
Und so trifft die Schuld nach heutiger russischer Lesart die Westmächte, Frankreich und Großbritannien. Sie hätten mit ihrer Politik des Beschwichtigens gegenüber Hitler versagt, als sie die Aufteilung der Tschechoslowakei im Münchner Abkommen 1938 zugunsten des Deutschen Reichs geschehen ließen. Auf Paris und London habe sich die Sowjetunion nicht mehr verlassen können. Dass eine Allianz mit Frankreich und Großbritannien aber auch an Diktator Stalins Forderungen scheiterte, bleibt unerwähnt.
Wladimir Putin hat es im Jahr 2015 so formuliert: "Als der Sowjetunion klar wurde, dass sie gegen Hitler-Deutschland allein gelassen worden war, hat sie Schritte unternommen, um eine direkte Konfrontation zu verhindern, und der Molotow-Ribbentrop-Pakt wurde unterschrieben. So verstanden [...] ergibt der Pakt einen Sinn, um die Sicherheit der Sowjetunion zu gewährleisten."
Nun, im Erinnerungsjahr 2019, erscheinen wieder Bücher, die selbst das geheime Zusatzprotokoll rechtfertigen, also die Aufteilung Polens und der baltischen Staaten. Nach dem Angriff der Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 von Westen her überschritt die Rote Armee die polnische Ostgrenze gut zwei Wochen später. Oleg Nasarow, der Herausgeber eines historischen Sammelbands zum Nichtangriffspakt, meint, Moskau habe so die Menschen dort vor Massen- und Völkermord durch SS und Wehrmacht geschützt – jedenfalls bis zum Angriff Hitler-Deutschlands etwa zwei Jahre später: "Wenn die Sowjetunion ihre Soldaten nicht in den Ostteil Polens geschickt hätte, wäre dasselbe dort passiert, nur schon zwei Jahre früher. Der Völkermord hätte schon zwei Jahre früher begonnen, und er wäre noch rigoroser und massenhafter ausgefallen."
Wenig Aufmerksamkeit lenken die Historiker dagegen auf die Tatsache, dass Moskau in neu eroberten Territorien missliebige Personen erschießen ließ und Berlin und Moskau noch Ende September 1939 den deutsch-sowjetischen Freundschafts- und Grenzvertrag schlossen, in dem die neue gemeinsame Grenze auf einer Karte eingezeichnet wurde.
Eine Zeile im Schulbuch über den Pakt
Wie wird der Nichtangriffspakt in Schulen behandelt? Unterschiedlich, antwortet die Historikerin Tatjana Timofejewa, Geschichtsprofessorin an der Staatlichen Moskauer Universität. Letztlich hingen Art und Weise und Umfang vom Lehrer ab, aber das am weitesten verbreitete Schulbuch gebe eine Tendenz vor: "Im Geschichtsbuch steht nur eine Zeile einer Chronik über den Pakt, nämlich dass er abgeschlossen wurde. Punkt. Verstehen Sie? Das ist alles. Das alles ist zu einer Zeile geworden – in dem und dem Jahr wurde der Nichtangriffspakt geschlossen." Die Heroisierung der Vergangenheit lässt die Details unsichtbar werden – und hat mit der Wahrheit nur noch wenige Schnittmengen.