Hauke Stichling-Pehlke führt den Reporter auf die grüne Wiese. Wilde Kräuter und Sträucher, wohin das Auge blickt. Hummeln summen, Grillen zirpen hier vor den Toren der Stadt Hitzacker. Stichling-Pehlke, lang gewachsen, schwarzes Hemd, gestreifte Stoffhose, hat an diesem Morgen kaum Muße für die Naturidylle. Er will endlich loslegen mit den Bauarbeiten:
"Man sieht jetzt im Augenblick natürlich noch nicht so viel - wobei, man kann jetzt schon hier die Dorfstraße erahnen, die haben wir da mal reingemäht, um eine Vorstellung davon zu kriegen: Wo geht die denn längs?"
Initiator Stichling-Pehlke und seine Projekt-Genossen bauen an einer gemeinsamen Vision: Wo andere das Sterben der Dörfer beklagen, wollen sie aus dem Nichts ein interkulturelles Mehrgenerationendorf errichten, in dem alle Platz finden: Alte und junge Menschen, Deutsche und Zugewanderte, Menschen, die Unterstützung im Alltag brauchen, gut Situierte und jene, die sich keine teuren Mieten leisten können. Insgesamt 100 Wohneinheiten für 300 Menschen sollen auf einer Fläche von fünf Hektar quasi aus dem Nichts entstehen:
"Hier wollen wir in wenigen Wochen anfangen, das erste Haus zu bauen. Dieser Punkt ist der schwierigste Punkt, wo man eigentlich in den Startlöchern steht. Die Vorbereitungen sind getroffen, die Pläne sind gezeichnet, man hat viel darüber geredet, wie es aussehen soll. Und jetzt möchte man es natürlich sehen! Begreifbar machen ist das Stichwort, weil - so wie eigentlich überall auf dem Land - ist es für junge Menschen schwierig, sich ein modernes Leben hier vorzustellen."
Schwache Infrastruktur
So schön die Natur, so hart das Auskommen: "Land unter!", hieß es in der schwach besiedelten Region an der Elbe an bis zu 150 Tagen im Jahr. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg investierten Bund und Land massiv in Kanäle und Deiche, um die Fluten zu zähmen. Ein weiteres Manko: Vier Jahrzehnte lang war das sogenannte "Zonenrandgebiet" an drei Seiten von der DDR umschlossen. Während jenseits der Elbe viele der einst so mausgrauen Dörfer aufblühten, blieb das Wendland auch nach dem Fall der Mauer abgehängt. Der Aufschwung ging an Land und Leuten vorbei, sagt Landrat Jürgen Schulz. Das Amt bekleidet der Parteilose seit 2006:
"So eine gewisse Versorgungsmentalität, die war schon da. Das Bejammern der Situation und die Aussage ‚Bund und Land, gib mir!‘, die war schon stark vertreten. Es hat in die Irre geführt. Wir haben bis heute die wirtschaftliche Entwicklung nicht. Wir haben keine Infrastruktur oder viel zu schwach, insbesondere die Bahnverbindung wird für die Zukunft ganz wichtig sein. Ich persönlich werde die - zumindest dienstlich - vermutlich nicht mehr erleben."
40 Jahre Widerstand gegen Gorleben
1976 präsentierte die damalige CDU-geführte Landesregierung unter Ministerpräsident Ernst Albrecht ihr Konzept eines nuklearen Entsorgungszentrums am Standort Gorleben. Dahinter stand auch die Idee einer Industrialisierung des ländlichen Raums, also gleiche Lebensverhältnisse in Stadt und Land zu schaffen:
"Ich kann's nicht mal übel nehmen, weil es war der Versuch, irgendwie wirtschaftliches Leben in diesen Landkreis zu führen. Wir wissen heute, dass diese 40 Jahre Widerstand gegen Gorleben den Landkreis stark geprägt haben."
Hippies aus Hamburg, schwer Erziehbare aus Berlin: Die Anti-Atomproteste lockten auch kreative Querdenker wie Michael Seelig herbei. Seelig streichelt den stolzen Hahn, den er auf Bitten des Reporters mühsam gefangen hat - und erinnert sich: 1974 ließ sich der Kunst- und Werklehrer aus Hamburg im Wendland nieder:
"Als wir hierher kamen, war es ja eine richtig schwarze Region! Das muss man ganz deutlich sagen. Es gab 76 Prozent CDU, der Rest NPD und ein bisschen SPD an der Elbe entlang. Das hat sich durch Gorleben im Grunde genommen vollständig gedreht. Der Bruch ging durch alle Familien, durch alle Vereine, Kollegien. Die einen waren dafür, die anderen dagegen, weil eben mit den Atomanlagen blühende Landschaften versprochen wurden."
Gemeinsam mit seiner Frau kaufte Seelig den brachliegenden Bauernhof, wo die beiden bis heute ihr Konzept vom Leben und Arbeiten mit Freunden in die Tat umsetzen. Heute ist der Werkhof Kukate eine viel besuchte Bildungsstätte für handwerkliche Tätigkeiten: Es wird getischlert, gewebt und Gold geschmiedet:
"Wir haben versucht, dieser Strategie einfach die positiven Kräfte entgegenzusetzen. Wie kann ich einen ganz persönlichen Beitrag dazu leisten, dass die Region lebensfähig ist und lebensfähig bleibt? Und, ich meine, dass das eben durch Kunst und Kultur möglich ist. Wir haben da gute Hoffnung, weil wir erleben: Das Wendland ist Sehnsuchtsland!"
Klingt nach kollektiver Harmonie. Ist es denkbar, dass die Stimmung kippt?
"Man sagt ja den Menschen hier nach, wir sind erst mal gegen alles. Also, wenn sich irgendetwas tut, ist man erst mal dagegen. Und dann guckt man genauer hin. Also dass irgendwie mit Populismus hier argumentiert werden kann, kann ich mir überhaupt nicht vorstellen! Natürlich gibt es hier, so wie überall eine rechte Szene, aber sie tritt nicht in Erscheinung. Und wenn sie in Erscheinung tritt, dann wird sie ans Licht gezerrt, wie ich immer sage."
Attraktiv für junge Kreative
Das stete Rebellentum, die vielen Initiativen - sie haben das Wendland für junge Kreative zu einer bärenstarken Marke gemacht. Seelig und seine Mitstreiter im Verein "grüne Werkstatt Wendland" organisieren Workshops und Design Camps für Studierende. Eng verwoben mit der lokalen Wirtschaft entstehen neue Produkte und Geschäftsmodelle.
Zwei Minuten mit dem Auto sind es von Kukate hinüber zur kleinen Künstlerwerkstatt, wo die Textildesignerin Michele Mohr aus gefilzter Wolle flauschige Teppiche knüpft:
"Das ist Wolle vom Coburger Fuchsschaf. Das ist ein Schaf, das auf der Roten Liste steht und was auch goldenes Vlies genannt wird."
Studiert hat die gebürtige Mainzerin in der Kreativmetropole Berlin, im Wendland fand sie ihren Seelenfrieden:
"In Berlin war ja früher sehr viel möglich, sehr günstig auch als Künstler zu leben. Das ist nicht mehr ganz so der Fall wie es damals mal war. Und das ist hier einfach ganz anders. Ich bin hier mit offenen Armen aufgenommen worden und habe sehr viel Unterstützung bekommen. Und es gibt auch weitaus mehr jüngere Leute auch jetzt hier. Der einzige Faktor ist das Internet, was hier teilweise wirklich zu langsam oder noch nicht mal verfügbar ist. Das ist wirklich abgehängt sein, das fühlt sich dann so an."
Bruttoinlandsprodukt seit der Wiedervereinigung verdoppelt
Daran arbeitet Jürgen Schulz, der Landrat, gerade. Noch immer ist die Gruppe der 18 bis 25-Jährigen in der Region schwach vertreten. Wer höhere Bildung anstrebt, wandert ab, dorthin wo es Kitas gibt, Kinos und Kneipen. Doch im Kleinen greift das Konzept einer Willkommenskultur für Macher und Gestalter bereits:
"Viele Jahre war es so, dass jeder gerne zurückgekommen wäre, aber die Arbeitsplätze nicht da waren. Auch das hat sich ein wenig gewandelt. Ich kann stolz sagen, dass der Landkreis Lüchow-Dannenberg seit der Wiedervereinigung bis heute sein Bruttoinlandsprodukt verdoppelt hat. Das heißt schon was. Wir haben für uns klein und fein durchaus eine ausgeprägte Wirtschaft. Wir haben mittlerweile über 100 hochattraktive Ausbildungsberufe im Landkreis und wir suchen im Moment in vielen Branchen Fachleute."
Zurück in Hitzacker. Hier, im alten Bahnhof, der Ideen-Schmiede, gibt es das Dorf der Zukunft bereits - als Miniaturmodell. Die neue Dorfgemeinschaft hat eine Genossenschaft gegründet. Die Geschäftsanteile der Mitglieder sollen dem Projekt das Eigenkapital beschaffen. Manche Leute haben über die Ersteinlage von rund 15.000 Euro hinaus genug Geld, um es in einen Solidaritätsfonds einzuzahlen - damit auch Flüchtlinge im Dorf leben können. Den Löwenanteil der nötigen 15 Millionen Euro sollen Banken finanzieren. Baukosten will man sparen, indem alle mit anpacken. Klingt verwegen? Sorgen, dass der Traum noch platzen könnte, plagen den Pionier Hauke Stichling-Pehlke nicht:
"Es wird hier im vorderen Teil einen großen Bereich geben, wo viel Gemeinschaft ist: Café, Restaurant, Laden, Werkstätte, die auch verkaufen. Wir wollen hier im Prinzip so ein Cluster bilden aus kreativen Menschen, die gute Bedingungen kriegen hier was die Räumlichkeiten angeht. Und dann ist natürlich ein riesengroßer Vorteil: In dem Augenblick, wo eine Region als abgehängt gilt, entstehen auf einmal Freiräume. Und in diesen Freiräumen kann mit viel weniger Gegendruck Neues wachsen!"