Jeder, der diesen Test schon einmal gemacht hat, kennt das mulmige Gefühl: 20 lange Minuten, bis das Ergebnis des HIV-Schnelltests da ist.
"Okay, es piekt jetzt mal kurz."
"Ich hab' immer so eine Rest-Unsicherheit."
"Also, ich habe jetzt kein Erlebnis gehabt, aber es ist immer wichtig für mich zu wissen."
Der 31-jährige Ronald kommt regelmäßig in die Praxis von Heiko Jessen in Berlin-Schöneberg, um sich testen zu lassen.
"Ich weiß im Prinzip um alle Risiken Bescheid. Ich weiß, welche Risiken ich eingehe, wenn ich sie eingehe. Ich bin aufgeklärt. Ich praktiziere Safer Sex zu 90 Prozent. Aber nicht zu 100 Prozent."
Die Praxis liegt mitten im Schwulen-Kiez am Nollendorf-Platz – an jedem dritten bis vierten Tag müsse er einem Patienten sagen, dass sein Testergebnis positiv ist, sagt Heiko Jessen:
"Wir sehen häufig, dass sich Menschen, häufig auch junge Menschen, mit HIV anstecken, und bei manchen ist es vorauszusehen. Dabei ist es völlig egal, wie man dazu steht, es ist eine Realität. Die Moral spielt da keine Rolle. Es ist eine Realität. Und es ist sehr frustrierend, das zu sehen. Und wenn wir dann als Ärzte etwas hätten, was das verhindern kann, dann ist das großartig."
Heiko Jessen hofft deshalb, dass für diese Gruppe von schwulen Männern die sogenannte Präexpositions-Prophylaxe, kurz PrEP bald auch in Deutschland zugelassen wird. Ein Schutz vor HIV durch das Medikament Truvada. Vorreiter für diese neue Strategie ist New York – auf Plakaten hatte die Gesundheitsbehörde in diesem Jahr offensiv für PrEP geworben.
"Ich war sehr skeptisch, dass es funktioniert. Es klang einfach zu gut, um wahr zu sein. Ich konnte es mir einfach nicht vorstellen."
Phil ist 35 und seit einem halben Jahr ist er auf PrEP. Jeden Morgen nimmt er eine Truvada – ein HIV-Medikament, dass jahrelang ausschließlich in der Therapie von HIV-Positiven eingesetzt wurde. Doch genau diese Wirkstoff-Kombination kann – bei richtiger Anwendung - auch zuverlässig vor einer Infektion schützen.
"Ich brauche mir jetzt keine Sorgen mehr zu machen – das ist das Wichtigste überhaupt. Ich habe Sex und kann es einfach geschehen lassen. Vorher war da immer die Sorge, ob das Kondom vielleicht reißt. Da waren all diese Stimmen in meinem Kopf – die sind jetzt weg. Das ist aufregend, damit habe ich nicht gerechnet."
"Wir hatten lange Zeit keinen Beweis dafür, dass Truvada auch vorbeugend wirkt"
In Deutschland und in Europa ist Truvada als Schutz vor einer HIV-Infektion noch nicht erlaubt, der Hersteller hat hier noch keinen Antrag auf eine Zulassung gestellt. Und bis vor Kurzem habe es auch noch gute Gründe dafür gegeben, skeptisch zu sein, sagt Holger Wicht von der Deutschen Aids-Hilfe:
"Wir hatten lange Zeit keinen Beweis dafür, dass Truvada auch vorbeugend wirkt, also dass es Menschen wirklich vor einer HIV-Infektion schützt. Das hat sich jetzt geändert. Es gibt mittlerweile zwei Studien, die belegt haben, dass für Menschen mit einem hohen HIV-Risiko, diese Schutzwirkung von Truvada also wirklich da ist, also dass das funktioniert. Und seitdem haben wir unsere Meinung geändert und sagen: Den Menschen, denen es helfen kann, HIV-negativ zu bleiben, denen wollen wir es auch zugänglich machen."
Trotzdem sind auch mit Truvada Risiken verbunden. Da sind zum einen mögliche Nebenwirkungen – wer Truvada nimmt, muss regelmäßig seine Nierenwerte kontrollieren lassen. Außerdem schützt es nicht vor anderen sexuell übertragbaren Krankheiten. Und es muss genau nach Plan eingenommen werden, sagt der Infektiologe Olaf Degen vom Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf:
"Grundsätzlich ist die Therapie-Treue natürlich extrem wichtig. Um sie zum einen effektiv zu machen. Und das zweite wichtige Thema: Um eine Resistenz-Entwicklung zu verhindern. Das heißt, dass derjenige sich trotzdem mit HIV ansteckt und das Virus im Rahmen dieser akuten Infektion mutiert und zukünftige Therapie-Möglichkeiten deutlich limitiert."
Neben diesen medizinischen Fragen spielt aber auch der Preis von Truvada eine Rolle – eine Monatspackung kostet schließlich rund 800 Euro, die Krankenkassen werden sich schwer tun, diese Kosten zu übernehmen. Doch die Debatte, sie wird sich kaum noch aufhalten lassen, sagt Heiko Jessen:
"Noch im Sommer - würde ich sagen – bei uns in der Praxis war es einmal in der Woche Gesprächsthema. Jetzt ist es drei bis fünf Mal am Tag ein Thema."
Jessen ist davon überzeugt, dass es neben der Kondom-Strategie eine weitere Strategie braucht, um die Ausbreitung von HIV gerade unter schwulen Männern zu stoppen. Der erhobene Zeigefinger helfe da nicht weiter:
"Das funktioniert nicht. Das funktioniert genauso wenig, wie wenn Eltern oder Lehrer einem ins Gewissen reden. Das wird nicht angenommen. Und ja, kann man ja auch verstehen, dass ein erhobener Zeigefinger nicht zu einer Verhaltensänderung führt."
Trotzdem spricht auch er sich klar dafür aus, dass Truvada nur von Schwerpunkt-Praxen verschrieben wird. Dadurch könnte sichergestellt werden, dass es eine umfangreiche medizinische Kontrolle gibt – auch auf andere sexuell übertragbare Krankheiten. Der 31-jährige Ronald, der in der Praxis von Heiko Jessen auf sein Testergebnis wartet, würde es jedenfalls sofort nehmen.
"Ich glaube, Sexualität ist eines der Felder, die wirklich jeder für sich bestimmt, ohne was ein anderer sagt. Ein Fahrlehrer kann mir sagen, wie ich beschleunigen oder bremsen soll. Aber bei Sexualität, da kann man gute Ratschläge hören, man wird immer das tun, was man selber in dem Moment... was man selber will."
Und dann, nach langen Minuten des Wartens, ist sein Testergebnis da.
"Ich hab die gute Nachricht für Dich und da freuen wir uns beide drüber, dass Dein HIV-Test heute negativ ist."
"Gott sei Dank! Es ist wirklich eine Erleichterung. Ich gehe immer davon aus, aber ich habe ehrlich gesagt auch immer ein bisschen Angst... ich hab manchmal auch immer den Gedanken, du wirst es irgendwann haben."
Und genau dieses Gefühl könnte es sein, warum Truvada in Deutschland genauso populär werden könnte, wie in New York. Das Bundesgesundheitsministerium will sich zu der Debatte allerdings nicht äußern. Schließlich sei Truvada zur HIV-Prophylaxe noch nicht zugelassen, heißt es auf Nachfrage.
HIV/Aids in Deutschland*:
• In Deutschland leben zurzeit rund 83.000 Menschen mit HIV oder Aids
• Die Zahl der jährlichen Neuinfektionen ist seit 2006 weitgehend stabil und liegt bei etwa 3.200 Menschen
• Bezogen auf das inländische Infektionsgeschehen sind Männer, die Sex mit Männern haben (MSM) mit geschätzten 53.800 derzeit lebenden Infizierten nach wie vor die Hauptbetroffenengruppe. Die Zahl der Neuinfektionen bei MSM ist in den letzten zehn Jahren jedoch leicht zurückgegangen.
• Geschätzte 13.200 der 83.400 Menschen mit HIV/AIDS wissen noch nichts von ihrer Infektion
"Im Osten Europas sind zwei Prozent der Infizierten schwul [...] Zwei Drittel stecken sich beim Sex zwischen Männern und Frauen an", heißt es in einem Deutschlandfunk-Kommentar von Björn Dake
Quelle: Robert-Koch-Institut
• In Deutschland leben zurzeit rund 83.000 Menschen mit HIV oder Aids
• Die Zahl der jährlichen Neuinfektionen ist seit 2006 weitgehend stabil und liegt bei etwa 3.200 Menschen
• Bezogen auf das inländische Infektionsgeschehen sind Männer, die Sex mit Männern haben (MSM) mit geschätzten 53.800 derzeit lebenden Infizierten nach wie vor die Hauptbetroffenengruppe. Die Zahl der Neuinfektionen bei MSM ist in den letzten zehn Jahren jedoch leicht zurückgegangen.
• Geschätzte 13.200 der 83.400 Menschen mit HIV/AIDS wissen noch nichts von ihrer Infektion
"Im Osten Europas sind zwei Prozent der Infizierten schwul [...] Zwei Drittel stecken sich beim Sex zwischen Männern und Frauen an", heißt es in einem Deutschlandfunk-Kommentar von Björn Dake
Quelle: Robert-Koch-Institut