Auch 24 Stunden nach dem verheerenden Großfeuer im Grenfell Tower ist unklar, wieviele Menschen zum Zeitpunkt des Feuers in dem Gebäude waren. Dutzende, darunter ganze Familien, werden noch vermisst. Das Gebäude hat 120 Wohnungen, dort lebten britischen Medienberichten zufolge zwischen 400 und 600 Menschen. Nach offiziellen Angaben wurden 65 Menschen von der Feuerwehr gerettet, wievielen anderen die Flucht selbst gelang, ist unklar. 78 Menschen liegen mit zum Teil schwersten Verletzungen im Krankenhaus.
Die Feuerwehr hat die Suche nach Vermissten in den oberen Stockwerken eingestellt. Der Kern des Gebäudes sei strukturell sicher - gefährlich sei es am Rand der oberen Etagen, sagte Feuerwehrchefin Dany Cotton. Bisher konnte die Feuerwehr die 24 Stockwerke des Gebäudes nur kurz durchsuchen, für eine gründlichere Suche müssen vor allem die oberen Stockwerke erst gesichert werden.
Cotton kündigte an, mit einem Spezialteam und mit Hunden in das Gebäude zu gehen - weil Hunde leichter sind. Die Rettungskräfte gingen nicht davon aus, noch jemanden lebend zu finden.
Hunderte Londoner spendeten inzwischen Decken, Kleider oder Babynahrung für die Bewohner. Auch mehr als eine Million Pfund Geldspenden wurden gesammelt. Promi-Koch Jamie Oliver bot freies Essen für Überlebende in einem seiner nahegelegenen Restaurants an.
"Unfall wie in der 'Dritten Welt"
Unklar ist, wie es zu der Katastrope kommen konnte. Zur Brandursache kann die Feuerwehr noch keine Angaben machen, dafür sei es zu früh, erklärte Feuerwehrchefin Dany Cotton. Es mehren sich Anschuldigungen, dass Brandschutzrichtlinien nicht eingehalten worden seien.
Londons Bürgermeister Khan versprach umfassende Auflärung, Premierministerin May kündigte eine "sorgfältige Untersuchung" an.
Königin Elisabeth die Zweite drückte den Betroffenen ihre Anteilnahme aus. Der britische Brandschutz-Experte Jon Hall nannte den Brand im Grenfell Tower einen Unfall, wie er in der "Dritten Welt" vorkomme. "Alle Bestandteile der Feuersicherheit und des Gebäudemanagements" müssten versagt haben, vermutete er auf Twitter.
Das Gebäude wurde 1974 erbaut und von 2014 bis 2016 saniert. Zu den Renovierungsarbeiten gehörten unter anderem Reparaturen bei der Außenverkleidung, der Doppelverglasung von Fenstern sowie am Heizungssystem.
Hinweise auf Brandschutzmängel
Eine Gruppe von Bewohnern hatte sich über Jahre hinweg über die schlechten Brandschutzvorkehrungen und das Risiko eines Feuers beschwert. Aktivisten einer Gemeindegruppe schrieben in Blogeinträgen, sie hätten mehrmals seit dem Jahr 2013 Brandschutzbedenken geäußert - doch dies sei stets auf "taube Ohren" gestoßen.
Videoaufnahmen zeigen, dass die Flammen außen am Gebäude mit einem hohen Tempo empor kletterten. Ein solches Feuer habe er noch nie in einem Wohnblock gesehen, sagt Joe Ruane, der frühere stellvertretende Feuerwehrchef für US-Luftwaffenstützpunkte in Großbritannien. Aus seiner Sicht spricht die Geschwindigkeit, mit der sich das Feuer ausbreitete, für mehrere Pannen im Zusammenhang mit dem Gebäude.
Die Mieterverwaltung von Kensington und Chelsea erklärte, sie arbeite mit den Ermittlern zusammen und sei sich der Beschwerden der Bewohner bewusst; diese würden nun auch Gegenstand der Untersuchungen.
Herrmann: Gebäudesanierung überprüfen
Wegen des Feuers will Bayerns Innenminister Herrmann die energetische Gebäudesanierung in Deutschland auf den Prüfstand stellen. Er halte einen vergleichbaren Brand wie in London hier für so gut wie ausgeschlossen, sagte Herrmann den Funke-Zeitungen. Allerdings sollten energetische Gebäudesanierungen auf Brandschutzmaßnahmen überprüft werden.
Die Berliner Feuerwehr verlangte schärfere Vorschriften auch für niedrigere Gebäude. Branddirektor Gräfling sagte im RBB-Inforadio, bei Häusern mit einer Höhe von weniger als 22 Metern sei brennbares Dämmmaterial erlaubt. Die Feuerwehr versuche deshalb, den Gesetzgeber dazu zu bewegen, nur noch mineralisches, nicht brennbares Dämmmaterial zuzulassen. Europäisches Recht spreche jedoch dagegen.
Nach Angaben des Eigentümerverbands Haus und Grund gibt es schon seit längerem Hinweise, "dass polystyrolhaltige Dämmungen im Brandfall extrem gefährlich sind". Der Verband verlangte, den Einsatz von Polystyrol zur Dämmung von Gebäudefassaden "sofort auszusetzen".
(rm/tep)