Kiron hilft Menschen, die sonst ohne Weiteres keinen Zugang zu Hochschulbildung bekommen würden, weil ihnen die Papiere fehlen, weil ihr Aufenthaltsstatus nicht geklärt ist, weil die Sprachbarriere vielleicht noch zu groß ist. Geschäftsführer Tobias Ernst kann auf viele Erfolge in den vergangen fünf Jahren verweisen.
Benedikt Schulz: Erklären Sie uns vielleicht mal ganz kurz, wie das Studium auf Ihrem sozusagen virtuellen Campus funktioniert und wie Studierende bei Ihnen später dann sozusagen zu Studierenden auch an einer richtigen Hochschule werden und dann auch einen richtigen Abschluss da machen können.
Tobias Ernst : Die Grundidee – und das haben Sie ja auch schon zutreffend beschrieben – ist, dass wir versuchen wollen, mit digitalen Mitteln Bildungsbarrieren zu überwinden. Da gibt es ja verschiedene, das fängt mit finanziellen, räumlichen Grenzen an, technischen Grenzen oder auch dem Aspekt des Zugangs, also dass ich noch nicht die formalen Voraussetzungen habe.
Die Idee von Kiron war und ist, sozusagen im digitalen informellen Lernen eine Möglichkeit zu geben, ein Hochschulstudium aufzunehmen oder fortzusetzen, wenn ich es beispielsweise in Syrien schon angefangen habe und abbrechen musste, und dann die Gewissheit zu haben, dass das, was ich digital gelernt habe auf unserem Campus, später auch anrechnen lassen kann, wenn ich denn später zum Beispiel auch mich bewegen darf, keine Residenzpflichten mehr habe, dann vielleicht auch die sprachlichen Voraussetzungen habe, andere formelle Voraussetzungen erbracht habe und dann an eine Universität wechseln kann, dass da dann auch eine Anrechnung der vorangegangenen erbrachten Lernleistungen möglich ist.
Vereinbarungen mit Hochschulen
Schulz: Das heißt, es geht auch ein bisschen darum, die Zeit, die, warum auch immer, durch Verwaltungsgründe, einen sozusagen zum Nichtstun zwingt, trotzdem zu nutzen und nicht zu vertrödeln oder zu vergeuden.
Ernst: Unbedingt, und in dem Sinne kann man das auch nicht nur als sozusagen Effizienzgewinn oder Zeitgewinn sehen, sondern intern bezeichnen wir uns manchmal selbst auch ein bisschen als Hope University, mit der Idee, dass die Möglichkeit, wieder in die Zukunft zu investieren, nicht mehr nur Geflüchteter zu sein, sondern auch Student zu sein, dass das auch etwas ist, was Menschen Hoffnungen gibt, was sie empowert, was auch vielleicht ganze Familien sozusagen unterstützt und was dann am Ende des Tages natürlich auch wirklich Integration über das Technisch-Formale hinaus erleichtert.
Schulz: Sie haben gerade den Begriff informelles Lernen benutzt. Trotzdem werden die Leistungen oder werden die Lerngewinne, die an Ihrer Einrichtung erzielt werden, ja trotzdem später anerkannt. Wie funktioniert das, warum werden die anerkannt? Weil es sind ja in dem Sinne keine offiziellen Universitätsleistungen.
Ernst: Genau. Also wir sind keine Universität, wir sind in dem Sinne privat und unabhängig, können also direkt keine Credit Points, die sozusagen universal gültig sind, vergeben. Was wir aber tun, ist, auch gerade durch ein sehr gutes Qualitätsmanagement, dann einzelne Verträge mit Hochschulen abzuschließen, die dann uns garantieren, dass die Lernleistungen, die bei uns erbracht werden, später im Rahmen der Freiheit der Hochschule anerkannt werden.
Also da gibt es die entsprechenden Büros an den Hochschulen, die dann die Anerkennungsentscheidung treffen, und wir wissen sozusagen vorher, wie die für bestimmte Lernleistungen ausgehen, und insofern können wir quasi bilateral da eine gewisse Sicherheit herstellen. Darüber hinaus hat sich aber gezeigt, dass die Hochschulen sich insgesamt stark geöffnet haben und die Anerkennung von digitalen Lernleistungen durch die Hochschulen immer leichter wird, auch von solchen Hochschulen, mit denen wir jetzt nicht direkte Verträge haben, was uns natürlich auch sehr freut.
"Nicht jeder Studierende möchte die Anrechnung"
Schulz: Wie hat sich denn Ihr Konzept, Onlinestudium für Flüchtlinge, wie hat sich das in den vergangenen Jahren verändert oder entwickelt und warum?
Ernst: Da gibt es natürlich über die fünf Jahre jetzt sehr, sehr viele Entwicklungen. Eine ist, dass wir festgestellt haben, dass gar nicht jeder Studierende dann wirklich die Anrechnung möchte. Also es gibt auch viele, die dann sagen, ich möchte gerne im ersten Semester anfange, ich möchte gar nicht irgendwie im zweiten Semester anfangen, sondern ich möchte normal sein, ich möchte ein normales Studium aufnehmen und nicht schon wieder was Besonderes sein. Also das war eine interessante Erkenntnis.
Ansonsten studieren die wenigsten sozusagen in Vollzeit auf Jahre bei uns durch, sondern die meisten fangen quasi an und machen die Einführungskurse, machen sozusagen das, was man in den ersten zwei Semestern macht und nicht unbedingt das, was wir auch angeboten haben, was in einem dritten, vierten, fünften Semester passiert, sodass wir jetzt gerade sehr stark dabei sind, auch die Angebote mehr auf diese Vorbereitungs- und Einführungsphase zu reduzieren.
Das ist dann auch motivierender, wenn man nicht irgendwie denkt, oh Gott, da warten noch 90 Credit Points auf mich, und ich bin gerade ganz vorne. Das heißt, wir machen es ein bisschen mehr sozusagen auf die Einführung, auf den Übergang, auf den Anfang eines Studiums, weil das auch mehr den Bedürfnissen der Studierenden entspricht.
"Fokus mehr Richtung Jordanien und Libanon"
Schulz: Wie viele Studierende haben Sie denn inzwischen oder derzeit auf Ihrem virtuellen Campus?
Ernst: Aktuell zählen wir 7.500 ungefähr, die dort aktiv sind, und wenn man quasi alles zusammenrechnet der letzten viereinhalb Jahre, dann sind es gut 20.000.
Schulz: Lassen Sie uns auch kurz über die aktuelle Lage reden an der türkisch-griechischen Grenze, beziehungsweise lassen Sie uns darüber reden, wie Europa mit dieser Lage umgeht. Während es vor fünf Jahren kurzzeitig mal hieß, wir schaffen das, heißt es jetzt vor allem, wir schotten uns ab. Wie nehmen Sie das wahr, dass sozusagen jetzt wieder nur die Abschottung das Thema ist und nicht so sehr, dass man in den vergangenen fünf Jahren auch viele Erfolgsgeschichten hatte. Ihre ist ja nur eine, es gibt ja noch andere Geschichten, Erfolgsgeschichten, was die Integration in Bildung und Arbeitsmarkt angeht.
Ernst: Also ich glaube, was jetzt die unmittelbare Situation angeht, sind wir uns da wahrscheinlich alle einig, dass es schwer erträglich ist, die Bilder, die Nachrichten, und auch als Kiron sind wir gerade intern sehr am diskutieren, was heißt das eigentlich für uns. Beispielsweise die Nachfrage nach unseren Angeboten ist in Deutschland gerade durchaus zurückgegangen in den letzten vier Jahren, dementsprechend ist unser Fokus auch mehr Richtung Jordanien und Libanon gewandert. Müssen wir uns jetzt darauf vorbereiten, dann doch wieder mehr Studierende auch in Deutschland zu haben.
Das diskutieren wir gerade intern. Das ist dann auch die Herausforderung. Ansonsten sehen wir uns sehr stark auch als Ausdruck der 2015 ja durchaus gelebten Willkommenskultur und leiden insofern auch sehr darunter, dass die Politik der EU und auch damit Deutschlands in der jetzigen Form sehr, sehr repressiv ist und fragen uns auch, was können wir vielleicht tun, um es auch der Politik sogar leichter zu machen, da an der Stelle wieder eine offenere Politik, eine humanitärere Politik zu machen und letztlich auch über geordnete Migration vielleicht auch wieder mehr humanitäre Migration zu ermöglichen, aber das ist alles sehr schwierig, da habe auch ich keine besseren Angebote und Antworten.
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