Regina Brinkmann: Die Abi-Noten werden immer besser, und ein ähnlicher Trend ist bei den Examensnoten zu beobachten – eine Entwicklung an den Hochschulen, die der Wissenschaftsrat schon seit Jahren kritisch beäugt und die sich zwei Wissenschaftler der Europauniversität Flensburg einmal sehr genau angesehen haben. Einer von ihnen ist der Bildungsforscher Professor Gerd Grözinger. Herr Grözinger, Ihre Studie ist die bisher umfassendste, Sie haben sich nämlich die Notengebungen über mehrere Jahrzehnte angeschaut, genauer gesagt von 1960 bis 2013. Was ist Ihnen bei der Untersuchung eines so langen Zeitraums besonders aufgefallen?
Gerd Grözinger: Also, besonders auffällig ist, es gibt Fachkulturen, das heißt, die einzelnen Fächer haben so etwas wie Niveaus, die sich oft auch wenig überschneiden. Ganz bekannt ist, dass Jura besonders schlechte Noten hat, Fächer wie Psychologie und Biologie besonders gute.
Brinkmann: Aber das wussten wir ja vorher eigentlich.
Grözinger: Das wusste man vorher auch, allerdings muss man sagen, die amtliche Statistik beginnt erst Mitte der 90er-Jahre und wir sind zurückgegangen bis in die 60er. Und das ist dann doch schon eine sehr lange Zeitreihe, wo man das feststellen kann. Das Zweite ist, für sehr viele Fächer sehen wir einen Zeittrend der Verbesserung, das ist allerdings auch vorwiegend auf die alten Abschlüsse Diplom und Magister zurückzuführen, bei den neueren Abschlüssen, Bachelor, sehen wir das noch nicht so deutlich. Wiederum sehen wir es aber bei den Masterabschlüssen.
"Im Prinzip haben wir einen Trend"
Brinkmann: Wie muss man sich denn generell so eine Verlaufskurve vorstellen? Wie und wann steigen die Noten?
Grözinger: Ja, steigen ist jetzt fast wieder der falsche Ausdruck, eigentlich fallen sie ja, weil wir die umgekehrte Skala haben. Da gibt es auch ganz unterschiedliche Bewegungen. Im Prinzip haben wir einen Trend und darauf liegt wiederum so etwas wie eine zyklische Schwankung in den meisten Fällen. Und das hat etwas mit Arbeitsmarktsituation zu tun beziehungsweise Überfüllung an Hochschulen oder entspanntere Zeiten. Die Lehrenden reagieren darauf, indem sie mehr oder weniger selektiv bewerten.
Brinkmann: Ist den Lehrenden das bewusst?
Grözinger: Das glauben wir wiederum nicht. Zumindest in den Gruppendiskussionen, die wir auch haben, ist das kein Thema gewesen. Wir haben sogar einen noch anderen Einfluss, dass die regionale Arbeitslosigkeit in fast allen Fällen einen Einfluss hat, und auch das ist sicher niemandem so richtig klar.
Brinkmann: In welchen Studiengängen haben sich denn die Noten am meisten verbessert?
Grözinger: Mittlerweile, also, bevor die Umstellung zu den B.A./M.A.-Werten kam, waren das eindeutig Psychologie und Biologie. Da waren sie besonders niedrig geworden, also sehr nah an der Einsergrenze schon heran. Diese beiden Fächer sind allerdings auch diejenigen, die am meisten die Umstellung auf den B.A genutzt haben, um dort die Noten dann ein Stück weit wieder zu verschlechtern.
Brinkmann: Also, das heißt, Sie können auch Tendenzen entdecken, wo Hochschulleitungen gemerkt haben: Oh, da müssen wir doch mal ein bisschen genauer hinschauen?
"Wir sehen eindeutig, dass die privaten Hochschulen bessere Noten vergeben"
Grözinger: Ich glaube nicht, dass Hochschulleitungen das im Blick haben, ich glaube, dass da ganz viel Unwissenheit herrscht. Es gibt praktisch überhaupt keine Transparenz dergleichen, sondern das sind dann die entsprechenden Fächer, also Institute, Fachbereiche, die wahrscheinlich festgestellt haben, dass sie nicht mehr gut differenzieren können, und dann etwas aufatmend, vermuten wir, diese Gelegenheit genutzt haben der B.A.-Umstellung, um dort mal wieder so Zwei und schlechter zu geben, anstatt bei Eins zu bleiben.
Brinkmann: Ja, wie könnte man denn so eine bessere Transparenz nun herstellen?
Grözinger: Wir haben einige Vorschläge gemacht. Also, einmal wäre es wichtig, dass wir so etwas am besten vom Statistischen Bundesamt eigentlich regelhaft, so etwas wie Durchschnittsnoten für Fächer veröffentlichen würden, sodass man schon mal sehen kann, dass bestimmte Fächer anders sind. Das ist ja heute, wo wir den Übergang zu dem Masterstudiengang oft sehr interdisziplinär angelegt haben, auch für die Zulassung sehr wichtig. Und das Zweite, das sollte eigentlich auf Hochschulebene passieren, möglicherweise müsste man auch die Zeugnisse anders ausgestalten und die Durchschnittsnote einer Jahrgangskohorte an einer Hochschule mitnennen, und eventuell dann noch einige Grobdifferenzierungen – die gehört zu den besten 50 Prozent, gehört zu den besten 25 Prozent – hinzuzufügen.
Brinkmann: Sie haben ja auch dargestellt in Ihrer Untersuchung, dass die Notenvergabe durchaus von Hochschule zu Hochschule sehr unterschiedlich sein kann. Konnten Sie da so was feststellen wie so einen Trend, dass Hochschulen um Studierende regelmäßig mit guten Noten buhlen?
Grözinger: Das ist sehr schwierig. Ich glaube auch, dass wir in der Regel bei den staatlichen Hochschulen das noch nicht so sehen. Was wir eindeutig aber sehen, ist, dass – und wir haben ja sehr viele Kontrollvariablen, also wie etwa das Betreuungsverhältnis, mitaufgenommen – die privaten Hochschulen bessere Noten vergeben. Also, da, würde ich schon sagen, findet so ein Tausch Studiengebühren gegen gute Noten statt. Es gibt eigentlich nur eine einzige Ausnahme, das ist bei Jura, da ist eine Verschlechterung zu sehen. Und genau da haben wir ja eine Fremdbegutachtung, weil es immer noch Staatsexamen ist.
Brinkmann: Bildungsforscher Gerd Grözinger von der Europauniversität Flensburg, er hat die Inflation der guten Noten in einer dreijährigen Studie analysiert.
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