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Hochstapler mit falscher jüdischer Identität
Das seltsame Leben der "Fake"-Juden

Immer wieder präsentieren sich Betrüger als Juden, die keine Juden sind oder waren. Jahrelang täuschen sie die Öffentlichkeit mit einer jüdischen „Fake-Identität“. Ein Syndrom, das vor allem in Deutschland auftritt. Was bewegt diese Hochstapler? Und warum suchen sie sich jüdische Identitäten für ihren Betrug aus?

Von Jens Rosbach |
Die Hall of Names in der Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem.
Mit einer erfundenen jüdischen Familiengeschichte Eindruck schinden - das schadet dem Andenken an die echten Shoah-Opfer (dpa/picture-alliance/Michael Kappeler)
"Ich bin gefoltert worden, ich bin missbraucht worden, ich bin vergewaltigt worden. Ich wurde ein menschlicher Sklave. "
Moshe Peter Loth wurde im Konzentrationslager Stutthof geboren, in der Nähe von Danzig. So jedenfalls berichtete es der Holocaust-Überlebende, der in den USA lebt, über Jahrzehnte hinweg.
"Sie haben Kinder-Experimente mit uns gemacht. Sie haben uns Grippeviren oder Drogen injiziert. Wir wussten nicht, was es war. Aber heute habe ich am ganzen Körper Schmerzen – und weiß nicht warum."
Im vergangenen November sorgte der jüdische Zeitzeuge weltweit für Schlagzeilen: Im Hamburger Landgericht versöhnt sich der 76-jährige Nebenkläger mit einem angeklagten, ehemaligen KZ-Aufseher. Zahlreiche Medien berichten über die bewegende Szene.
"Moshe Peter Loth ist einer der Zeitzeugen, doch Rache ist seine Sache nicht…" - "Nach seiner Aussage ging der 76-Jährige auf den im Rollstuhl sitzenden Angeklagten zu und sagte: Ich werde ihm vergeben." - "Ich bekomme so Frieden, meinen Frieden…"
Hochstapler mit Pseudo-Identität
Alles Lüge. Moshe Peter Loth ist kein Jude. Seine Mutter, eine Protestantin, war nur kurze Zeit im KZ – und zwar als sogenannte "Reichsdeutsche" in "Erziehungshaft". Dies deckte der Spiegel im Dezember auf. Warum sich Menschen eine jüdische Schein-Identität zulegen, weiß der Berliner Psychiater Professor Hans Stoffels. Er hat rund 50 Hochstapler aller Couleur therapiert und Fachartikel darüber publiziert. Bei vielen Patienten entdeckte er schwere Kindheits-Defizite.
Das Judentum in Schulbüchern
Fotos zeigen Männer mit Schläfenlocken und Hut– die Darstellung des Judentums in Schulbüchern ist oft problematisch. Der Zentralrat der Juden in nimmt sich gemeinsam mit dem Verband Bildungsmedien des Themas an.
"Sie haben keine Zuwendung bekommen, sie haben Eltern gehabt, die sich nicht um sie gekümmert haben, sie mussten manchmal sogar ins Kinderheim gegeben werden. Also sie hatten sehr schmerzhafte Kindheitserlebnisse. Und da zeigt sich bei diesen Hochstaplern, dass sie eine Fähigkeit dann entwickeln – mit Hilfe ihrer Phantasie – in eine neue Identität zu fliehen, die sie eben anhebt in ihrem Selbstwertgefühl."
Doch warum suchen sich Hochstapler ausgerechnet eine jüdische Pseudo-Identität? Hans Stoffels:
"Ich sage häufig, dass die Rollen, die heute jemand erfindet, dass das ein Spiegelbild ist dessen, was in unserer Gesellschaft Anerkennung und Wertschätzung erfährt."
"Ich denke, sie haben plötzlich diesen Opferstatus."
Fügt der Berliner Rabbiner Walter Rothschild hinzu.
Jude sein, irgendwie sexy
"Und es ist interessant, wie die Leute suchen einen bestimmten Opferstatus – und welchen nicht. Keiner möchte hier ein syrischer Flüchtling aus dem Mittelmeer sein. Keiner möchte hier aus Belarus oder vom Balkan sein. Aber Jude sein – das ist irgendwie … naja … irgendwie - sexy ist das Wort, das man denkt."
Der jüdische Seelsorger, der selbst mit einem "Fake-Juden" zu tun hatte, analysiert: In bestimmten Kreisen, bei vielen Medienmachern, Bildungsbürgern, Israelfreunden oder Philosemiten, könne man mit einer jüdischen Vita Eindruck schinden. Vor allem mit einer Shoah-Geschichte. Walter Rothschild:
"Man ist plötzlich irgendwie etwas Exotisches: Oh, waren Sie auch dann ein Opfer oder ist Ihre Familie auch dann… ohh! Oh, Du Armer! Kann ich Dich umarmen, küssen, Geld schenken? Was auch immer."
Rothschild, ein gebürtiger Brite, beobachtet, dass in der deutschen Bevölkerung mitunter Schuldgefühle von Generation zu Generation weitergegeben werden – teils auf neurotische Weise: So freuten sich Nichtjuden, wenn sie einen "echten" Juden treffen, den man irgendwie um Verzeihung bitten kann. Rothschild:
"Beispiel: 'Ach, es tut mir so leid, was mein Großvater Deinem Großvater angetan hat!' Und irgendwie ist man dann auf einer moralisch hohen Ebene."
Gesellschaftliche Aufwertung
Auf diese Weise werden die Betrüger, die angeblich jüdische Wurzeln haben, aufgewertet - bilanziert der Rabbiner.
"Und das bedeutet: Was auch immer man sagt, was man auch immer tut, kann man sagen: Naja, ich bin Jude, ich darf das!"
Walter Rothschild hat viele Jahre in Schleswig-Holstein gearbeitet. Hier lernte er Wolfgang Seibert kennen, der 15 Jahre lang als Vorsitzender der jüdischen Gemeinde von Pinneberg gearbeitet ist. Seibert war gut vernetzt in der Lokalpolitik und klagte sogar über Morddrohungen.
"Angst hat meine Familie gehabt, massiv. Weil die gesagt haben: Mensch, Du weißt ja gar nicht, was passiert. Die könnten Dich irgendwo … irgendwo einen Anschlag auf Dich machen. Das haben mir viele Leute gesagt, dass diese Gefahr ganz realistisch besteht."
Auschwitz-Gedenken
Für junge Jüdinnen und Juden in Deutschland ist die Schoah allgegenwärtig. Gegen Antisemitismus helfe jedoch kein Weinen und kein Händchenhalten, sagt der jüdische Aktivist Michael Groys, sondern nur konkretes Handeln.
Allerdings: Auch Seibert ist kein Jude, auch er Sohn evangelischer Eltern. Nach seiner Enttarnung im Oktober 2018 musste der Pinneberger Gemeindechef, der mehrfach vorbestraft war wegen Betrugs und Unterschlagung, zurücktreten.
Die prominenteste Hochstaplerin war wohl Marie Sophie Hingst, die deutsche "Bloggerin des Jahres 2017". Sie engagierte sich für türkische Dissidenten und textete – von ihrer Wahlheimat Irland aus – über ihre jüdischen Vorfahren sowie über Judenfeindschaft.
"Also, ich habe einen Text geschrieben über Walther Rathenau."
Berichtete Hingst etwa in einem Radio-Interview über den jüdischen Reichsaußenminister, der 1922 ermordet wurde.
"Da kamen sehr viele Rückmeldungen von Leuten, die gesagt haben: Ja, irgendwie müssen wir über dieses Thema reden. Wie sich das verhält mit dem Antisemitismus, dem neuen, dem alten. Und dem, was Deutschland, aber auch Judentum in Europa bedeutet."
Im Mai vergangenen Jahres wurde bekannt: Die Protestantin hatte überhaupt keine jüdische Familiengeschichte; und als der Spiegel ihr auf die Schliche kam, nahm sich Marie Sophie Hingst das Leben.
Zwischen Gutgläubigkeit und Vorwurfsangst
Ob angeblicher Holocaust-Überlebender, Gemeindechef oder Bloggerin: Alle Pseudo-Juden konnten jahrelang öffentlich wirken. Professor Hans Stoffels, der einst die Psychiatrie der Berliner Schlosspark-Klinik geleitet hat, bilanziert:
"Man muss sehen, dass das immer ein Zusammenhang ist zwischen dem, der schwindelt und dem, der zuhört und diese Schwindelgeschichten aus irgendeinem Grund auch gerne glauben will. Es kommt da zu einem pathologischen Bündnis zwischen beiden – und beide halten eben an der erfundenen Wirklichkeit fest."
Der Experte sieht nicht nur in deutschen Schuldgefühlen – bzw. in einem Philosemitismus – den Grund für die Gutgläubigkeit. Denn ein falscher Verdacht könne verletzen. Wer eine echte jüdische Opfergeschichte hinterfrage, laufe Gefahr, einen Betroffenen erneut zu traumatisieren.
"Auch gibt es ja Holocaust-Leugner. Wir haben vielleicht auch Sorge, dass wir dann, wenn wir etwas kritisch hinterfragen, wir in die Nähe von solchen verleugnenden Menschen kommen. Und das hemmt uns vielleicht auch, die kritische Nachfrage zu pflegen."
Das Phänomen der Pseudo-Juden wird in Fachkreisen als Wilkomirski-Syndrom bezeichnet – in Anlehnung an den prominenten Schweizer Shoah-Überlebenden Binjamin Wilkomirski. Dieser hatte für seine KZ-Autobiografie "Bruchstücke", die 1995 erschien, viel Beifall erhalten – wurde dann aber drei Jahre später als Schwindler entlarvt. Und zwar von Daniel Ganzfried. Der jüdische Journalist aus der Schweiz schöpfte damals Verdacht, weil ihm der Stil von Wilkomirskis KZ-Buch merkwürdig erschien. Ganzfried:
"Es ist in einem weinerlichen Ton geschrieben, anklagend und gleichzeitig pathetisch. Zweitens versessen auf die Körpersäfte, die spritzen, wenn es brutal wird. In derselben Kadenz, wie Pornofilme mehr oder weniger funktionieren. Ein Film, der vor allem auf Effekt aus ist. Und das widersprach allem, was ich von Überlebenden kenne, die sehr gesunde Menschen waren, im Besitz ihres Menschenverstandes, und nichts von dieser Weinerlichkeit und diesem Pathos – so ist Erinnerung nicht beschaffen!"
Auch in der DDR gab es Betrüger, die sich erfolgreich als Juden ausgaben - teilweise gedeckt vom Ministerium für Staatssicherheit. Wie Karin Mylius, die bis 1986 Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Halle war. Der Hallenser Historiker Frank Hirschinger deckte dies 2006 auf - in seinem Buch "Fälschung und Instrumentalisierung antifaschistischer Biografien".
"Karin Mylius war eine Hochstaplerin, die nachweislich nicht von jüdischen Eltern abstammte und auch keine Überlebende des Holocaust war, wie sie immer behauptet hat. Man hat sie aber staatlicherseits, auch mit Hilfe des MfS, belassen – weil sie eine systemkonforme Politik betrieben hat und für die SED zuverlässig war."
Fehlendes Interesse an der Aufdeckung
Dass Pseudo-Juden so selten auffliegen, liegt oftmals auch an der jüdischen Gemeinschaft selbst. Walter Rothschild war bis 2015, als Landesrabbiner von Schleswig-Holstein, auch für die Pinneberger Gemeinde zuständig. Bereits damals hörte er Gerüchte, dass Gemeindechef Wolfgang Seibert nicht ganz koscher – sprich: kein Jude sein könnte.
"Ich sage nur: Wenn ich höre solche Sätze, dann gehen die Haare hoch auf meinem Nacken. Ich denke: Hier ist etwas schief, hier muss man fragen!"
Mit Rothschilds Unterstützung meldete ein Pinneberger Gemeindemitglied den Verdacht an das religiöse Gericht der Allgemeinen Rabbinerkonferenz - doch wie E-Mails aus dieser Zeit belegen, wollte das Gericht keine Untersuchung einleiten. So wurde Hochstapler Seibert erst drei Jahre später enttarnt – vom Spiegel. Noch heute möchte die Rabbinerkonferenz dazu keine Stellung nehmen.
"Keiner möchte zugeben, dass er wurde betrogen von jemandem. Dass er reingefallen ist."
Ähnlich resümiert Hans Stoffels: Wer Schwindler enttarne, so der Psychiater, könne nicht mit Unterstützung rechnen. Auch nicht in jüdischen Kreisen.
"Wenn ich jemandem nachweise 'du lügst!', dann riskiere ich einen Konflikt. Der andere wird sich zur Wehr setzen, es wird publik werden, es wird zu Kontroversen kommen. Und wenn ich konfliktscheu bin, dann werde ich das nicht tun. Und werde es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen."
Stefan Mächler: "Der Fall Wilkomirski: Über die Wahrheit einer Biografie".
Pendo-Verlag, 2000.
Julius H. Schoeps u.a.: "Das Wilkomirski-Syndrom: Eingebildete Erinnerungen oder von der Sehnsucht Opfer zu sein". Pendo Verlag, 2002.
Frank Hirschinger: "Fälschung und Instrumentalisierung antifaschistischer Biografien". V&R unipress, 2006.