Erkundungen in einem ideologischen Gelände
Höckes Heimstatt

Anders als andere Politiker wohnt Björn Höcke in einem 250-Seelen-Dorf. Bornhagen sei sein „Refugium, Inspirations- und Rückzugsraum“, sagt er. Ein Ort an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Lässt sich hier die Zukunft der Bundesrepublik denken?

Von Patricia Görg |
Von Aktivisten vom Zentrum für politische Schönheit am 22.11.2017 errichtete Nachbildung des Holocaust-Mahnmals (Denkmal für die ermordeten Juden Europas) auf dem direkten Nachbargrundstück zu Björn Höckes Wohnhaus in Bornhagen (Thüringen).
Aus einigen Fenstern seines Hauses in Bornhagen kann Björn Höcke seit 2017 auf eine maßstabsgetreu verkleinerte Nachbildung des von ihm als „Denkmal der Schande“ bezeichneten Berliner Holocaust-Mahnmals blicken (picture alliance / Eventpress / Eventpress Golejewski)
Tatsächlich ist Bornhagen so abgelegen, stillstandshaft und idyllisch, dass es beim Blick in die Landschaft idealiter ein zentrales Phantasma von Björn Höckes AfD zu verkörpern scheint, nämlich den Plan, die Zukunft möge einer märchenhaften Vergangenheit entsprechen.
Gleichzeitig liegt das Dorf, zeithistorisch betrachtet, auf gewissermaßen „geologisch aktivem Grund“. Die Staatsgrenze zwischen BRD und DDR war nur einen Steinwurf entfernt; die romantische Burgruine Hanstein, die Bornhagen überragt, war unzugänglicher Sitz der DDR-Grenztruppen, ringsum war Sperrgebiet. Auch dies erklärt, warum sich dort noch immer Fuchs und Hase Gute Nacht sagen.
Im hessischen Nachbarort Werleshausen, der bis 1945 auch zu Thüringen gehörte, gibt es auf dem Dorfanger einen der besterhaltenen „Thingplätze“ Deutschlands. Warum ist das Eichsfeld als Gebiet nicht nur zu einer Chiffre, sondern auch zu einem beliebten Wohn- und Versammlungsort speziell für aus Westdeutschland stammende Rechtsextreme geworden und letztlich wohl auch zu einem ideologischen Gelände? So etwa war es das Eichsfeld, in das Alexander Gauland die damalige Ausländerbeauftragte Aydan Özoğuz einladen wollte, um ihr „deutsche Kultur“ zu zeigen und sie anschließend „in Anatolien zu entsorgen“. Es scheint als sei das ein Stück Land, über das sich das Wunschbild der ersehnten „Heimat“ legt. Ein Ortsbesuch ist hier dringend angesagt.
Patricia Görg, geboren 1960, lebt als Schriftstellerin und Autorin fürs Radio in Berlin und ist mit Büchern wie u.a. „Glücksspagat“ (2000), „Handbuch der Erfolglosen“ (2012) oder „Glas. Eine Kunst“ (2013) sowie Hörspielen wie „Die Gesänge der Raumfahrer. Ein Fernlehrgang“ (2019, Dlf Kultur) bekannt geworden. 2019 erhielt sie den Italo-Svevo-Preis.

Unter leichter Abwandlung seiner ersten Strophe könnte man mit Heinrich Heines Versepos „Deutschland. Ein Wintermärchen“ beginnen: „Im traurigen Monat November war's, / Die Tage wurden trüber, / Der Wind riss von den Bäumen das Laub, / Da reist' ich nach Thüringen rüber.“
Mich trieb die Neugier, mir einmal den Wohnort eines Politikers anzusehen, der denselben als sein Refugium betrachtet – und dessen Partei im Grunde das ganze Land für die Deutschen, wie die AfD sie versteht, wieder zu einem solchen machen will.
Zunächst musste ich, aus dem Westen kommend, von der Autobahn 4 bei Bad Hersfeld abfahren, um mir eine Unterkunft zum Übernachten zu suchen. Das ist in Nordosthessen, im ehemaligen Zonenrandgebiet, gar nicht so einfach. Zwar haben Tourismus-Förderer sich den Markennamen „Waldhessen“ einfallen lassen, aber das Aufkommen an Hotels, vor allem in den kleineren Orten, bleibt spärlich. Dennoch gelang es mir, in einem familiär geführten Haus in Ringgau-Datterode einzuchecken und, angefeuert durch das Speisekartenmotto „Tue deinem Leib Gutes, damit deine Seele Lust hat, darin zu wohnen“, mir das lokale Bier und die lokale Spezialität „Ahle Wurscht“ zu bestellen. Im Hintergrund hörte ich den Wirt sagen: „Mein Muttchen ist heute gestorben. Ich war drei Minuten zu spät.“
Am nächsten Morgen besichtigte ich die im Kern romanische Dorfkirche, von deren sorgsam freigelegter Wand mich ein spätgotisches Freskengesicht melancholisch ansah. Vorbei an der Pension Hose, drei Häuser weiter gefolgt vom Dienstleistungsangebot „Hypnose“ bog ich ab auf sehr kleine Straßen, um mich meinem Ziel so umständlich wie möglich, entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze, zu nähern. Der Werra‑Meißner‑Kreis, in dem ich mich nun befand, ist ein sanftes Hügelland. Wiesen und Wälder wechseln sich ab, kein Auto kam mir entgegen, und direkt neben der gewundenen, schmalen Straße, auf einer Kuppe gut sichtbar, lauerte ein Fuchs vor einem Mauseloch, völlig unbeeindruckt von meinem Erscheinen.
Schöne deutsche Namen wie Völkershausen und Wanfried zieren die Karte, die Werra schlängelt sich stets in Reichweite, Putz fällt von Häuserwänden, Glockenisolatoren sitzen auf Fernsprechfreileitungen wie in Kindertagen, und im stillen Hinterland warb in einem Schaufenster voller Gerümpel das Plakat des hoffnungsfrohen Makler-Unternehmens Immobilien Palast GmbH.
Mittlerweile fuhr ich vorbei an Bad-Sooden-Allendorf, wo Björn Höcke für neun Jahre, bis 2014, als Oberstudienrat die Fächer Geschichte und Sport unterrichtete – und musste mich konzentrieren, weil der Abzweig in Richtung seines Wohnorts wieder nur eine Gemeindestraße sein würde.
Über eine Brücke erreichte ich das Fachwerkdorf Werleshausen, direkt an der Werra gelegen. Das Ziel meiner Reise, Bornhagen, war von dort, hinter einem Höhenzug verborgen, noch gut vier Kilometer entfernt.
Eine Informationstafel in der Dorfmitte erklärt den „Werleshäuser Anger“, den mit einer hüfthohen Sandsteinmauer eingefassten, kreisrunden Platz, an dessen innerem Rand ein Steintisch steht und über dem zwei alte und eine Nachwuchs-Linde aufragen. Es sei ursprünglich ein Thingplatz gewesen, charakteristisches Zentrum aller Dörfer im Eichsfeld, hier bemerkenswert gut erhalten, im Volksmund „Die Linde“ genannt. Am Rand des Steintischs befinde sich eine nunmehr unleserliche Inschrift. Erklärt wird auch, was „Thing“ bedeutet: „Die Bezeichnung geht zurück auf die germanischen Volks-, Heeres- und Gerichtsversammlungen, auf der alle Rechtsangelegenheiten des Stammes behandelt wurden.“
Kein Mensch war unterwegs. Begeistert las ich den letzten Absatz auf der Info-Tafel: „In späteren Zeiten diente der Ort auch als Kirmesplatz. Außerhalb der Umfassungsmauer saßen die Musikanten, in den Zweigen hingen die Öllampen und der Boden des Platzes wurde mit Tannennadeln bestreut, damit es zum Tanzen glatt war. Diese Tradition wird mit dem jährlichen Lindenfest aufgenommen und fortgeführt.“
Als ich Werleshausen verließ, stand bewegungslos leuchtend ein Silberreiher am Rand der Werra.
Die winzige Straße kurvt über Hügel, trifft wie fast überall in Deutschland das Wanderzeichen des Jakobswegs, enthüllt einmal schon kurz den Blick auf die über Bornhagen thronende Burg Hanstein. Direkt vor der Grenze zu Thüringen hielt ich an. Zwei unterschiedliche Denkmale markieren den Ort: eine Metallskulptur und eine grabsteinhaft aufgerichtete Felsplatte.
Die Skulptur, als vielfach durchbrochene Kugel, ist Teil der Freiluftgalerie Kunst an der Grenze, wird von ihrer Erschafferin Renate Ruck „Metall-Ballade“ genannt und trägt den Titel: „Ein Ende ist immer ein Anfang.“ Der Gedenkstein, erkenntlich privat motiviert, zeigt folgende Inschrift: „Am 19. Januar 1990 öffnete sich vor der Burg Hanstein der Eiserne Vorhang. Es war ein denkwürdiger Tag und fröhliche Musik verschönerte die lang ersehnte Stunde. Weit über 40 Jahre wurden deutsche Menschen durch Stacheldraht, Tretminen, Wachhunde und Schießbefehle voneinander getrennt. Moskauhörige verbrecherische Elemente wollten es so! Wir sollten dies nicht verschweigen, auch nicht vergessen, denn diese nach '45 in der DDR Regierenden waren nur darauf aus, alles Gewesene, Gewachsene zu zerschlagen.“
Auf dem oberen Rand des Felsens wuchert Moos, und zwei Töpfe mit verwelkten Chrysanthemen hielten sich schräg darauf fest.
Ich fuhr ein paar Meter weiter, war nun in Thüringen. Der Landkreis Eichsfeld empfing mich.
Das spektakulärste Element des ohnehin malerischen Ortes Bornhagen ist die über ihm aufragende Ruine, deren Anblick der Bund für Naturschutz als „landschaftswirksam“ beschreibt. Diese Höhenburg, wahlweise als die schönste, größte oder imposanteste Mitteldeutschlands apostrophiert, diente im Film Der Medicus dazu, das England des 11. Jahrhunderts darzustellen.
Zu DDR-Zeiten war sie völlig unzugänglich. Grenzschützer beobachteten von ihr aus das zerschnittene Gelände des 20. Jahrhunderts. Bornhagen, sehr nah an der Demarkationslinie, kam als Wohnort nur für äußerst linientreue Personen infrage, alle anderen wurden, wie es entlang der gesamten Grenze üblich war, zwangsumgesiedelt, vielfach wurden sogar ihre Häuser abgerissen. Davon ist heute, wenn Ausflügler aus nah und fern eintreffen, um die Burg zu besichtigen, nichts mehr zu spüren. Auch die Schautafeln unterhalb des Besucherparkplatzes rekurrieren einzig auf Naturschönheiten und Freizeitvergnügen. Wie eine gut geheilte Wunde scheint hier alles wieder zusammengewachsen zu sein.
Eine Dependance des ausgehenden Mittelalters ist das butzenscheibenbewehrte Wirtshaus Klausenhof, in dessen Dachbalken die tief eingekerbte Jahreszahl 1487 ablesbar ist. Aufwendig restauriert und engagiert vermarktet, kann man sich dort für eine Laternenwanderung rund um die Burg und das anschließende dreistündige „Ritter-Essen“ samt Spielleuten und Gauklern anmelden.
Bornhagen liegt an der Deutschen Märchenstraße.
Auf dem Weg hinauf und hinab zu den Hauptsehenswürdigkeiten passieren die Besucher das Anwesen, auf dem ein im Kern jahrhundertealtes, neu holzverkleidetes Pfarrhaus mit roten Fensterläden steht. Dort wohnt der Vorsitzende der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag, Björn Höcke, mit seiner Familie und zwei Personenschützern.
Die Einwohner Bornhagens werden nicht gerne von Reportern auf ihren prominenten Mitbürger angesprochen, sagen nur, er wäre ein netter Nachbar und habe das Recht auf Privatsphäre wie jeder andere, wobei letzteres zweifellos richtig ist.
Von den 196 Wahlberechtigten der Gemeinde nahmen 139 an den Landtagswahlen 2024 teil, wählten mit 50,4 Prozent der Erststimmen die AfD-Kandidatin und mit 48,2 Prozent der Zweitstimmen die AfD, aber der Wahlkreis als Ganzes, Eichsfeld I, ging an Dr. Thadäus König von der CDU.
Heutigentags eine Kulturlandschaft, die Gebiete im nordwestlichen Thüringen, nordöstlichen Hessen und südöstlichen Niedersachsen umfasst, war die Region jahrhundertelang davon geprägt, im Besitz des Kurfürsten von Mainz zu sein und dem dortigen Erzstift zuzugehören. Sie stellte eine katholische Insel inmitten des Protestantismus dar – eine Ausrichtung, die im thüringischen Landkreis bis in die Gegenwart virulent ist. Dort finden bei den noch immer konfessionell dominierenden Katholiken durchschnittlich doppelt so viele sonntägliche Kirchenbesuche statt wie in allen anderen deutschen Bistümern. Damit einher geht eine christlich-konservative Resilienz, die schon den Nationalsozialisten viel Ärger bereitete. Ihre Bewegung konnte in den 1930er Jahren sowohl politisch als auch ideologisch nur mühsam und mit Verzögerungen im Eichsfeld Fuß fassen, da die katholische Kirche, fest verankert in der Gesellschaft, eine gegenläufige Autorität repräsentierte.
Auch die SED biss sich in den Anfängen der DDR die Zähne aus am Wahlverhalten der Eichsfelder, denn für die galt mehrheitlich die Maxime: „CDU, hast du Ruh.“ Erst im Rahmen der Gleichschaltung der Ost-CDU Anfang der 1950er Jahre erlahmte dieser Widerstand, der Einfluss der Kirche blieb jedoch traditionell weiter hoch. Die Katholiken des Eichsfelds stellten sich permanent gegen die Anti-Kirchenpolitik der SED, veranstalteten weiterhin Wallfahrten und Prozessionen und bewahrten alles in allem diese ungewöhnliche religiöse Enklave innerhalb des Sozialismus der DDR.
Solcher Heroismus war Papst Benedikt XVI. im Jahr 2011 einen Besuch wert. Er feierte mit 90.000 Gläubigen eine Marienvesper bei der Wallfahrtskirche Etzelsbach und rief ihnen zu: „Ich habe seit meiner Jugend so viel vom Eichsfeld gehört, dass ich dachte, ich muss es einmal sehen und mit euch beten.“
Noch ist das Beharrungsvermögen gegen Extreme nicht gebrochen. Björn Höcke, Spitzenkandidat seiner Partei, vermied es 2024 tunlichst, sich in dem Wahlkreis, in dem er wohnt, für ein Direktmandat aufstellen zu lassen, weil er es schon bei der vorigen Wahl nicht gegen den Kandidaten der CDU gewinnen konnte.
Nichtsdestotrotz, vielleicht sogar ironischerweise, ist das Eichsfeld für die radikale Rechte ideell und faktisch ein stark besetztes Gelände. Schon mehrfach haben dort sogenannte „Staatsvolk-Treffen“ der Reichsbürger mit mehreren hundert Teilnehmern stattgefunden, von ihnen selbst „Zukunfts-Kongress“ genannt. Außerdem wohnt zwei Orte von Höcke entfernt und wie er aus Westdeutschland stammend der äußerst umtriebige, mehrfach vorbestrafte Neonazi Thorsten Heise. Vor seinem Gutshaus steht ein Denkmal für die Waffen-SS. Es ist die von ihm herausgegebene Zeitschrift Volk in Bewegung & Der Reichsbote, für die Höcke mutmaßlich, von ihm dementiert, unter dem Pseudonym „Landolf Ladig“ Beiträge verfasst hat. Und Heise, Mitglied im Bundesvorstand der Partei Heimat (bis 2023 NPD), initiierte und organisierte das zwischen 2011 und 2019 jährlich stattfindende Rechtsrock-Festival Eichsfeldtag, bei dem Bands aus dem Umfeld des verbotenen Blood and Honour-Netzwerks auftraten, berichtende Journalisten nach Leibeskräften behindert wurden und sich von der Tribüne von Thorsten Heise anhören mussten, sie sollten froh sein, „in Deutschland in Frieden und Freiheit leben zu können“. Er ist eine so zentrale Figur der Szene, dass er schon als „Bewegungsunternehmer“ beschrieben wurde.
Höcke, darum bemüht, direkte Verbindungen zu nationalsozialistischem Gedankengut abzustreiten, räumt ein, mit ihm bekannt zu sein.
Man kann solche Allianzen als handfeste Inbesitznahme der Gegend verbuchen. Ein weiteres Beispiel dafür ist der kalkuliert platzierte Skandal Alexander Gaulands von 2017, Damals war Gauland noch Spitzenkandidat der AfD. Die damalige Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Aydan Özuğuz, hatte in einem viel diskutierten Zeitungsartikel geschrieben:
„Deutschland ist vielfältig, und das ist manchem zu kompliziert. Im Wechsel der Jahreszeiten wird deshalb eine Leitkultur eingefordert, die für Ordnung und Orientierung sorgen soll. Sobald diese Leitkultur aber inhaltlich gefüllt wird, gleitet die Debatte ins Lächerliche und Absurde, die Vorschläge verkommen zum Klischee des Deutschseins. Kein Wunder, denn eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar. Schon historisch haben eher regionale Kulturen, haben Einwanderung und Vielfalt unsere Geschichte geprägt. Globalisierung und Pluralisierung von Lebenswelten führen zu einer weiteren Vervielfältigung von Vielfalt.“
Der erboste Alexander Gauland, Altmeister der gediegen vorgetragenen Provokation wie auch des bestialischen Ausfallschritts, entgegnete während einer Wahlkampfveranstaltung im Eichsfeld. Nachdem er als einzigen Passus den herausgerissenen Satz zitiert hatte: „Eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, nicht identifizierbar“, folgerte er: „Das sagt eine Deutsch-Türkin. Ladet sie mal ins Eichsfeld ein, und sagt ihr dann, was spezifisch deutsche Kultur ist. Danach kommt sie hier nie wieder her, und wir werden sie dann auch, Gott sei Dank, in Anatolien entsorgen können.“
Tatsächlich vermitteln der Blick von der Burg Hanstein ebenso wie ihre Silhouette gegen den Sonnenuntergang den Eindruck, als würden die Gebrüder Grimm hier immer noch Märchen sammeln. Sanft staffeln sich dunstumflossene, dunkle Wälder tragende Hügel, zu deren Füßen hingestreute Ortschaften liegen; kleine Straßen, Schienenwege und Flüsse winden sich wie durch eine Modellbaulandschaft; Naturpark grenzt an Naturpark, und bei einem geschickt gewählten Standpunkt sind weder Windräder noch andere Insignien der Moderne zu sehen. Diese abgelegene Ecke scheint ein Gestern darzubieten, das zumindest für die AfD träumerische Konturen eines Morgen verkörpert.
In seinem 2018 veröffentlichten Gesprächsbuch Nie zweimal in denselben Fluss inspiriert sie Björn Höcke wohl zu Fantasien über die von ihm erhoffte Wendephase der „Volksopposition“, in der die Deutschen „großangelegte Remigrationsprojekte“ verwirklichen und dabei „keine halben Sachen machen“, um die „Schuttberge der Moderne zu beseitigen“ – wobei man sich, wenn es nicht gleich wie von ihm gewünscht verläuft, als „Volksgemeinschaft“ aufs Land zurückziehen sollte, um dort, in seinen Worten, wie „tapfer‑fröhlich Gallier“ auszuharren, bis sich diese „Auffangstellung“ wieder in eine „Ausfallstellung“ zur Rückeroberung auch der Städte wandeln lässt.
Als ich Bornhagen besuchte, war es dort so still, dass man die gefallenen Blätter über die Straße tanzen hörte. Irgendwo gluckte ein einzelnes Huhn einzelne Töne. Das Wurstmuseum, Station an der „Deutschen Wurststraße“, betrieben vom Klausenhof, hatte geschlossen. Ich konnte mich nicht über Schlachtergeräte und altes Brauchtum informieren, nur die von 1999 stammende Inschrift auf dem großen Querbalken des Fachwerks lesen: „Im Heute das Gestern bewahren für das Morgen.“
Ich umrundete das Museum und gelangte auf die gepflasterte Auffahrt zu einem unscheinbaren Haus. 2017 hatte es gewaltiges Aufsehen erregt.
Im Januar dieses Jahres hielt Björn Höcke in Dresden die Rede vor der AfD‑Jugendorganisation „Junge Alternative“, in der er seine berühmte Forderung nach einer erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad äußerte, sowie den Satz: „Wir Deutschen sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat.“
Daraufhin beschloss die künstlerisch-politische Aktivistengruppe Zentrum für politische Schönheit, sich eine Reaktion zu überlegen. Zehn konspirative Monate lang heckten sie ihren Coup aus, dann enthüllten sie im Hintergarten des unscheinbaren Hauses, das sie mittlerweile angemietet hatten, eine maßstabgetreu verkleinerte, täuschend echt wirkende Holzkonstruktionsversion des Berliner Mahnmals für die Ermordung der Juden Europas. Der Blick aus einigen Fenstern von Höckes Wohnhaus geht genau in diese Richtung auf das Nachbargrundstück.
Ein Aufmerksamkeitsorkan brach los und fegte durch Bornhagen. Medienvertreter und Neugierige aus nah und fern kamen angereist, um das Schelmenstück in Augenschein zu nehmen, das die Aktivisten mit der Forderung krönten, erst, wenn Höcke einen um Vergebung bittenden Kniefall vor dem Objekt machen würde, würden sie es wieder abbauen.
Aufgescheucht waren nicht nur die allgemeine Öffentlichkeit und die Polizei, sondern auf den Plan traten auch rund 25 selbsternannte Ordnungshüter, die einen Heimatschutz der besonderen Art anboten. Der aggressivste unter ihnen, vom Zentrum für Politische Schönheit „Schlingen-Willi“ getauft und in einem Video festgehalten, ließ verlauten: „Früher hätte ich euch mit der Schlinge weggefangen. Ich muss noch Knüppel herholen.“ Erregte Wortgefechte auf der Auffahrt, Blockaden und zerstochene Reifen an Aktivistenautos prägten die ersten Wochen. Journalisten wurden abgedrängt mit dem Ruf „Bolschewistenpack und verdammtes Gesindel!“. Höcke selbst bezeichnete die aktivistischen Künstler als „terroristische Vereinigung“. Eine Vielzahl strafrechtlicher Ermittlungen begann, darunter die schwerwiegendste und umstrittenste, veranlasst von der thüringischen Landesregierung, wegen der „Bildung einer kriminellen Vereinigung.“
An einem Punkt hatten sich die Künstler angreifbar gemacht. Sie behaupteten, das Wohnhaus der Familie Höcke rund um die Uhr mit Kameras zu observieren sowie eine entwendete Mülltonne auf belastendes Material hin zu durchsuchen. Es war diese angebliche Bespitzelungsaktion, später als reine Satire deklariert, die nicht nur juristisch, sondern auch moralisch einen unangenehmen, fragwürdigen Beigeschmack hatte. Es war, als hätten die Aktivisten Höckes Pläne übernommen, „keine halben Sachen zu machen“. Schon der Kern der Aktion, das nachgebaute Denkmal, traf ihn jedenfalls mit seiner Schlagkraft und Radikalität auf einer Ebene, die er wohl nicht für möglich gehalten hätte – und das mitten in seinem Refugium.
Bornhagen als Ganzes war angesichts der Herausforderung keineswegs das braune Nest, das manche sich vorstellten. Die Mehrzahl seiner Einwohner blieb hinter ihren Gardinen und hoffte einfach darauf, dass der Tross weiterzieht und wieder Ruhe einkehrt.
Unterdessen ist das Spektakel Geschichte. Man hört wieder gefallene Blätter über die Straße tanzen.
„Rauscht ihr noch ihr holden Wälder
hoch vom Rennstieg euren holden Sang?
Wiegt ihr noch durch goldne Felder
graue Dome euren Feierklang?“
Mit solch sentimentalem, auch als Lied vertonten Altertümchen eröffnete die AfD Thüringen ihr Programm zur Landtagswahl 2024. Es handelt sich bei der wie ein Motto vorangestellten, harmlosen Heimatverklärung um ein 1911 entstandenes Gedicht von Franz Langheinrich, was namentlich erwähnt wird und die Sache auf den zweiten Blick erheblich weniger harmlos macht.
Langheinrich war engagierter Nationalsozialist. Als Mitglied der 1920 gegründeten Deutschen Kunstgesellschaft teilte er ihre völkischen und nationalistischen Ziele, die Kunst „rein deutsch“ und „rasserein“ zu halten, unterstützte später offensiv die nationalsozialistischen Kulturabsichten. Auf diese Vorhaltung reagierte die AfD in gewohnter Manier. Zunächst hieß es, keiner habe den Autor gekannt, dann, es käme nur darauf an, was, nicht von wem es gesagt würde.
Der Gesprächsband Nie zweimal in denselben Fluss beginnt mit dem Satz Björn Höckes: „Ich entstamme einer Vertriebenenfamilie aus Ostpreußen.“ Gut möglich, dass „Heimat“ für ihn ein Phantomschmerz ist. Im weiteren Verlauf entwirft er sein weit ausholendes, räsonierendes, teils orgelndes Panorama des Verfalls, durchsetzt von einem Gewährsleutegewitter, das von den alten Griechen über Machiavelli bis zum Bestseller‑Philosophen Wilhelm Schmid reicht. Interessant wird es immer dann, wenn er nach inhaltlicher Bestimmung von Kernbegriffen gefragt wird. So meint er, „Volk“ sei so schwer zu definieren wie „Liebe“, und „Gemeinwohl“ könne man intuitiv erfassen. Als der Fragesteller schließlich doch auf den Konturen eines Rettungsprogramms besteht, skizziert Höcke folgende Punkte: Die Heimat als Raum der Geborgenheit und Lebensentfaltung wiederentdecken / Wiederherstellung von Identität / Sicherstellung des Ansiedlungs- und Gestaltungsmonopols eines Volkes in seinem Land / Gegen die Verhässlichung und Verschandelung unserer Städte, Dörfer und Landschaften als neuen Maßstab die Schönheit und den Sinn für Form und Maß / Spirituelle Orientierungshilfen / Eine neue Volkskirche, die für das Seelenheil der Menschen sorgt, statt sich wie heute penetrant in die Politik einzumischen.
Zum Ausklang polemisiert man gemeinsam gegen das Kanzleramt an der Spree, von Höcke „hässlich-brutaler Sultanspalast“ genannt, der schon durch seine Ausmaße den „Größenwahn und aggressiven Hypermoralismus der bundesdeutschen Politikerkaste“ repräsentiere. Es klingt wie das Vorspiel zum im Herbst 2024 eingebrachten Antrag der AfD im Landtag von Sachsen-Anhalt, der anlässlich des bevorstehenden 100-jährigen Jubiläums des Bauhauses in Dessau vor einer „einseitigen Glorifizierung“ dieses Weltkulturerbes warnt und es als „menschenfeindlich“ und „Irrweg der Moderne“ bezeichnet. In der Debatte im Landtag sagte Hans-Thomas Tillschneider, kulturpolitischer Sprecher seiner Fraktion, das Bauhaus habe „das menschliche Bedürfnis nach Behaglichkeit nach allen Regeln der Kunst vergewaltigt“.
Man kann sich vorstellen, dass die Familie Höcke nach Bornhagen gezogen ist, weil die Lage idyllisch, die Luft gut und der Preis für Immobilien niedrig ist, doch vermutlich gaben programmatischere Gründe den Ausschlag.
Das Ehepaar Kubitschek, mit seinem in Schnellroda, unweit von Halle, betriebenen, mittlerweile offiziell aufgelösten Institut für Staatspolitik einen zentralen Hotspot der Neuen Rechten verkörpernd, ließ verlauten, man sei 2002 bewusst in den Osten gegangen, da es dort kaum Ausländer gebe und noch ein deutscher Geist herrsche. Als Bewohner dieses Schutzbezirks imaginiert Götz Kubitschek, unterwegs auf einer Wanderung mit Björn Höcke, die ideelle Klientel der AfD, die „kleinen Leute“, die „nichts anderes können (und vor allem wollen), als dort zu leben und zu arbeiten und vor allem zu Hause zu sein, wo sie sind“. Auch ihre Kultur scheint er zu kennen: „Sie können mit fast Allem Bierflaschen öffnen, waren noch nie vegan und noch nie bei den Donaueschinger Musiktagen.“ Solche Nachbarschaften warten also auf ihre Beglückung durch sendungsbewusste Zuzügler.
Konkret laufen schon seit längerem gezielte Ansiedlungsprojekte der wahlweise neuen, extremen oder radikalen Rechten in strukturschwachen ländlichen Gegenden, die von Bevölkerungsrückgang betroffen sind. Insbesondere Familien mit möglichst vielen Kindern sollen dort als eine Art Vorhut fungieren, sollen Keimzellen völkisch-nationalistischer Ideale und Lebensformen bilden, um den vorpolitischen Raum zu besetzen, ihn der links‑liberalen Schickeria zu entreißen, die sich ebenfalls gerne aufs Land zurückzieht. Langfristig geht es um kulturelle Hegemonie.
Es ist schon öfter beschrieben worden, wie die AfD, ihr Umfeld und ihre Anhänger in aussterbenden Ortschaften Häuser kaufen, altes Brauchtum beleben, die freiwillige Feuerwehr aufstocken und große Kameradschaftstreffen abhalten.
Alexander Gauland bemüht gerne die von einem englischen Journalisten aufgebrachten Schlagworte der „Anywheres“ auf der einen Seite, die urbane, durch die Welt jettende Elite der Globalisierungsgewinner, und auf der anderen Seite ihre ortstreu festsitzenden Antagonisten, die „Somewheres“, wobei letztere natürlich den erstrebenswerten Zustand repräsentierten. Beim Blick auf einige Galionsfiguren der Reinen Lehre entpuppen die sich jedoch als Wandervögel: Weder ist Gauland selbst in seinem Herkunftsort Chemnitz ursprünglich verwurzelt, noch der Nordrhein-Westfale Höcke in Bornhagen, noch Alice Weidel in Deutschland. Die Liste ließe sich beliebig verlängern.
Es ist halt ein kompliziertes Ding mit der Heimat.