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Höhe ist nicht alles

1885 ging es in Chicago mit dem Hochhausbau los, mit dem man sich weltweit einen Namen machte. Da wäre der "Sears Tower" zu nennen, der mit über 100 Stockwerken und mehr als 400 Meter Höhe jahrzehntelang die Wolkenkratzer-Hitliste anführte. Jetzt will man in Chicago neue Akzente setzen. 610 Meter soll der "Chicago Spire" direkt am Ufer des Michigan-Sees nach oben wachsen - ein ganz neuer städtebaulicher Akzent.

Von Dirk Fuhrig |
    Die sekundenschnelle Fahrt hinauf auf die Plattform des "Sears Tower" hat etwas von Jahrmarkt und Volksbelustigung. Das höchste Gebäude der Vereinigten Staaten - 527 Meter, Antenne inklusive - war nach seiner Fertigstellung 1974 immerhin fast ein Viertel Jahrhundert lang auch unangefochten führend in der ganzen Welt. Seitdem hat Asien übernommen: Malaysia, Taiwan, zuletzt Dubai.

    Mit Höhe allein kann und will Chicago nicht mehr punkten. Der neueste Wolkenkratzer, für den in diesem Sommer der Grundstein gelegt wurde, besticht durch seine außergewöhnliche Form.

    ... wie eine Spirale soll sich der weiße Turm in den Himmel schrauben, so versucht der Architekturstudent vom Boot aus das geplante neue Wahrzeichen zu beschreiben. Schon jetzt nennen es die Chicagoer "Geburtstagskerze”.

    Ob gespindelte Kerze, verdrehter Keil oder vielleicht doch eher schlanker Bohrer - der "Chicago Spire", geplant von dem spanischen Architekten Santiago Calatrava, soll ab 2010 der Silhouette der drittgrößten US-amerikanischen Stadt einen ganz neuen, ungewöhnlich markanten städtebaulichen Akzent verleihen.
    Lynn Osmond, Präsidentin der Chicagoer Architektur-Stiftung, ist begeistert:

    "Am Ende des vergangenen Jahrhunderts waren wir hier in Chicago ein bisschen träge geworden. Unsere Architektur brauchte neue Inspiration. Frank Gehry mit seinem grandiosen Konzertpavillon für den Millennium-Park war der erste. Und jetzt kommt Santiago Calatrava. Viele dachten, das Projekt würde nie realisiert werden. Das wird ein wunderschönes, elegantes Gebäude. Es ist höher als der Sears Tower und wird die Skyline der Stadt mit Sicherheit verändern. "

    610 Meter soll der "Chicago Spire" direkt am Ufer des Michigan-Sees nach oben wachsen. Höher als der in New York auf Ground Zero geplante "Freedom Tower". Lynn Osmond hat Recht: Zumindest auf den Werbeplakaten und im Modell sieht Calatravas Entwurf in Bohrerform leicht und elegant aus. Selbst für die durch Weltklasse-Architekten wie Ludwig Mies van der Rohe verwöhnten Chicagoer wird dieses Gebäude herausragen. Hinzu kommt die prominente Lage direkt am Wasser. Und: Auf den 150 Etagen soll kein einziges Büro einziehen.

    "Dass im Calatrava-Turm ausschließlich Wohnungen geplant sind, ist sehr, sehr ungewöhnlich. Normalerweise gibt es zumindest gemischte Nutzung, Büros und Wohnen. Das zeigt nicht nur, dass die Leute wieder in die Innenstadt ziehen. Es ist auch ein Zeichen dafür, wie stark Europäer in der Stadt investieren. Die Vermarktung wird sogar von London aus gesteuert. Das liegt natürlich auch am schwachen Dollar. Traditionell geht das Geld der Europäer an die West- oder die Ostküste. Jetzt wollen aber auch viele ein markantes Gebäude in der Skyline von Chicago haben - zum Investieren oder auch zum Wohnen."

    Für die Präsidentin der "Chicago Architecture Foundation" verschmelzen in dem architektonischen Großprojekt zwei Entwicklungen: Weg vom Image einer Kriminalitäts-geplagten Megacity - hin zu einer neuen Urbanität. Galt die Metropole des Mittelwestens noch bis vor wenigen Jahren als Musterbeispiel für eine "schrumpfende" Stadt mit verslumendem Zentrum und prosperierenden Vorstädten, so ist allmählich ein Gegen-Trend zu erkennen.

    "Bis zu den 80er-Jahren litten viele Städte in den USA unter der Flucht in die Suburbs. Jetzt kehren viele Leute zurück. Die Schulen im Zentrum sind viel besser geworden. Zur Zeit werden sehr viele Hochhäuser mit Wohnungen gebaut. Auch hat der Millennium Park etwa den Wert der umliegenden Grundstücke extrem erhöht. Daran kann man sehen, dass gute Architektur in der Lage ist, Menschen anzuziehen und eine Gegend zu verändern. "

    Direkt neben dem weitläufigen Millenium-Park, in dem sich der Architekt Frank Gehry ein Denkmal gesetzt hat, und durch den das historische "Loop"-Viertel wieder stärker an den Michigan-See angebunden wird, baut Renzo Piano eine Erweiterung des "Art Institutes". Und außer dem Calatrava-Turm entstehen derzeit noch andere neue Skyscraper. Ein Wolkenkratzer des Unternehmers Donald Trump wird demnächst fertig sein, das Luxus-Hotel "Shangri-La" zieht gegenüber in einen Super-Tower. Die Stadt, in der 1885 das erste moderne Hochhaus mit Stahlskelett errichtet wurde, scheint sich in einen neuen Höhen-Boom hinein zu steigern.

    2016 möchte Chicago die Olympischen Spiele an den Lake Michigan holen.

    Bis dahin ist allerdings noch viel zu tun in der 3-Millionen-Stadt und der dreimal so großen Agglomeration. Wer in einer der legendären Chicagoer Hochbahnen über verrostete Eisenträger in die südlichen Stadtviertel zuckelt, blickt nach wenigen Stationen auf Industriebrachen, in deren Mitte Neubausiedlungen oder restaurierte Lofts wie zarte exotische Pflänzchen wirken. Immerhin wird derzeit die S-Bahn-Strecke zum Flughafen "beschleunigt": Bislang braucht der klapprige Zug für die 30 Kilometer gemütliche anderthalb Stunden - mehrfacher Halt auf freier Strecke inklusive.