Volker Reinhardt ist Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Fribourg in der Schweiz. Geboren 1954 in Rendsburg in Schleswig-Holstein, studierte er Geschichte und Romanische Philologie an den Universitäten Kiel, Freiburg im Breisgau und Rom. Von 1977 bis 1984 forschte er in Rom. Sein Verlag sagt über ihn: "Reinhardt gehört weltweit zu den besten Kennern der Papstgeschichte."
Andreas Main: Herr Reinhardt, während viele Päpste nur Experten bekannt sind, gibt es auch jene, die berühmt-berüchtigt sind, dazu zählt sicher Gregor VII. Bevor es zu seiner Gregorianischen Reform kommt, welche Reformbestrebungen gingen dem voraus?
Volker Reinhardt: Die allgemeine Bestrebung ist, das Papsttum wieder zu einer geistlichen Autorität, zum Herrn über das Gewissen, über die Seelen der Menschen zu machen, was es Jahrhunderte vorher nicht gewesen ist - also gewissermaßen es aus diesem römischen Niedergangssumpf zu befreien.
Interessanterweise beginnen diese Reformtendenzen nicht in Rom, sondern in Lothringen und Umgebung, aber die Päpste sind klug genug, sich diese Reformforderungen zu eigen zu machen und also eine Art Symbiose mit diesen Reformbestrebungen einzugehen, für die vor allem das Kloster Cluny Symbolcharakter besitzt. Also: ganz klare Ziele, eine Trennung von Kirche und Staat, von weltlicher und kirchlicher Gewalt.
In den vorangehenden Jahrhunderten ist die Kirche von den weltlichen Herrschern weitgehend vereinnahmt worden. Grafensöhne und Königssöhne bekleiden ganz selbstverständlich Führungspositionen. Die Weltlichen ernennen die Kleriker. Das muss sich ändern, radikal verschieben. Die Kirche muss, ihren Ansprüchen gemäß, wieder über den weltlichen Gewalten stehen. Sie muss moralisches Vorbild sein. Auch das ist in der Antike bereits angelegt, aber es gab Päpste, die als Ehebrecher galten und unter sehr peinlichen Umständen erwischt wurden und ums Leben kamen im 10. Jahrhundert.
Diese Erinnerung muss getilgt werden durch ein Papsttum, dessen menschliches Antlitz diese schwindelerregend hohe Würde auch angemessen zu repräsentieren vermag. Das sind die großen Forderungen des 11. Jahrhunderts, die dann von Gregor VII. mit unerhörter Schroffheit und Schärfe verkündet und umgesetzt werden sollen...
"Der Papst ist die Kirche"
Main: ... im Dictatus Papae, der in die Geschichte eingegangen ist, in dem dieser Papst den Primat des Papstes auf die Spitze treibt. War dieser Text wirklich so krass - oder ist das Propaganda reformunwilliger Gegner?
Reinhardt: Nein, dieser Text ist authentisch und er ist maßlos übersteigert, überspitzt. De facto sind die späteren Päpste von vielen dieser Sätze abgerückt. Da steht zum Beispiel drin, dass der Papst durch die Wahl zum Nachfolger Petri und Stellvertreter Christi auf Erden auch eine persönliche Heiligkeit gewinnt.
Main: Also, er ist per se heilig?
Reinhardt: So steht es da zumindest, dass er auch als Person geheiligt wird und damit auch gewissermaßen charakterlich gereinigt über die übrige Menschheit auch als Mensch weit erhoben wird. Das ist ein Anspruch, den man nicht weiter führt. Ansonsten werden ältere Ansprüche auch mit sehr großer Härte und zum Teil mit beleidigenden Tönen für die Gegenseite formuliert.
Das Ganze wird personalisiert. Der Papst steht über dem Kaiser. Er darf die kaiserlichen Insignien führen. Er darf die Kaiser absetzen. Der Papst ist die Kirche. Wer gegen den Papst auch nur das Geringste vorzubringen hat, verstößt gegen die Kirche.
Also eine extreme Zuspitzung, eine extreme Personalisierung, die später die Frage auch aufgeworfen hat, ob dieser übersteigerte Personenkult vielleicht auf psychologische Eigentümlichkeiten Gregors VII. zurückzuführen ist. Das ist eher unwahrscheinlich. Es geht eher darum, eine irregehende Welt radikal so zu gestalten, dass sie gottgewollt ist. Eine Welt, in der die Kirche bisher Verfügungsobjekt der weltlichen Herrscher ist, muss weit über diesen weltlichen Mächtigen stehen. Das zu legitimieren und umzusetzen, ist letztlich der Zweck dieses extrem extremistischen Textes. Also Gregor VII. ist ein Fundamentalist nach unseren Begriffen.
Der Gang nach Canossa - bloß Legende?
Main: Und das mündet darin, was viele von uns im Geschichtsunterricht oder wo auch immer gelernt haben: im Investiturstreit. Papst Gregor VII. geht soweit, dass er sich mit Papst Heinrich IV. anlegt. Der Kaiser kann nur allergisch reagieren auf diesen päpstlichen Vorstoß?!?
Reinhardt: Das kann er, wobei wir heute seit einigen Jahrzehnten, Jahren vor allem, die Canossa-Erzählung nicht mehr für verbürgte Realität halten. Die Canossa-Erzählung bedeutet ja, dass der Kaiser vom Papst abgesetzt - er wird gebannt ...
Main: - exkommuniziert.
Reinhardt: Exkommuniziert, aus der Kirche ausgeschlossen wird. Der Papst löst die Untertanen des Kaisers von ihrem Treueeid und so - laut dieser alten Meistererzählung - zieht Heinrich IV. im Winter barfuß mit Frau und Söhnchen über die Alpen, muss eisige Nächte lang im Burghof von Canossa warten, bis der Papst ihn zu empfangen und vom Bann zu lösen geruht. Das ist eine Geschichte, die immer wieder starke Emotionen vor allem gegen das Papsttum erzeugt hat. Bismarck hat sie im 19. Jahrhundert als Begründung des Kulturkampfs zitiert. Das ist höchstwahrscheinlich nicht so gewesen.
Die Dinge waren vorher abgemacht, so sieht es heute aus. Auch diese Winter-, Frost- und Zittererzählung hat sich wahrscheinlich nicht so abgespielt. Man hat sich vorher arrangiert. Allerdings hält dieses Arrangement nicht sehr lange. Der Konflikt kann auch nicht vermieden werden, weil der Kaiser gar nicht darauf verzichten kann, seine Gefolgsleute als Bischöfe einzusetzen. Denn Bischöfe haben im Heiligen Römischen Reich Regierungsfunktion. Wenn ein Kaiser sich auf getreue Gefolgsleute stützen will, muss er schlicht und ergreifend seine Klienten, das heißt seine Anhänger, zu Kirchenfürsten machen. Der Papst verlangt aber, alleine verantwortlich zu sein für die Ernennung von Geistlichen, das geht nicht.
"Zu Lebzeiten gescheitert, doch langfristig erfolgreich"
Main: Letztlich hat es Gregor dann ja wohl auch doch überreizt. Er stirbt im Exil. In Rom setzt sich ein kaisertreuer Gegenpapst durch. Ist er also insgesamt gescheitert?
Reinhardt: Jein! Er ist de facto gescheitert. Aber man kann erfolgreich scheitern. Man kann zumindest für die Nachfolger erfolgreich scheitern. Vergessen wir nicht: Die christliche Kirche ist auf Martyrien gebaut. Auch Märtyrer unterliegen dem Schwert des Henkers oder anderen Foltern. Aber letztlich siegen sie im Geist. So kann man das für Gregor VII. auch sehen.
Seine Politik führt in die Katastrophe: Rom wird von seinen normannischen Verbündeten furchtbar geplündert. Der Papst ist diskreditiert. Er muss nach Salerno. Aber das Gedächtnis an sein Pontifikat verliert sich nicht mehr. Er bleibt für die nachfolgenden Päpste ein Vorbild - gerade auch durch sein Scheitern. Die Weltordnung ist noch nicht so, wie sie sein muss. Das rechtfertigt für die späteren Päpste eben in dieselbe Richtung weiterzuarbeiten und diese kühnen Forderungen umzusetzen.
Also de facto: Zu Lebzeiten gescheitert. Langfristig für die Geschichte des Papsttums ist er sicher ein großer Erfolg.
Der Idealtypus
Main: Er wirkt also fort. Volker Reinhardt, wir haben uns vorgenommen, von Gregor VII. zu Innozenz III. zu springen. Über den schreiben Sie wörtlich in Ihrem Buch: "Innozenz III., den die Kardinäle am 8. Januar 1198 auf den Stuhl Petri erhoben, war gerade einmal 37 Jahre alt, ein bis heute nicht mehr unterbotenes Lebensalter." Sie sind, wenn ich dann weiterlese, durchaus fasziniert von diesem Mann. Was genau fasziniert Sie besonders?
Reinhardt: Er ist die Idealtypus des Papsttums, also die Topbesetzung unter 267 Päpsten. Er vereint so ziemlich alles, was das Papsttum auch an persönlichen Fähigkeiten verlangt: Er ist ein fundierter Theologe - er schreibt über das Elend, die Misere des menschlichen Lebens, wertet damit natürlich das Jenseits auf.
Er ist ein glänzender Redner. Er ist vor allem ein grandioser Fädenzieher auf allen Ebenen. In Rom macht er seine Familie zum herrschenden Clan. Fast alle Schlüsselpositionen gehören jetzt dem Dei Conti, das ist sein Familienname, er zieht global - als global Player - in der europäischen Politik die Fäden. Er macht Kaiser -
Main: - denen nur noch Unterwerfung übrig bleibt.
Reinhardt: Denen nur noch Unterwerfung übrig bleibt und Versprechen, die sie später nicht einhalten können. Er setzt Kaiser ab, er macht Kaiser, bekämpft in den vergangenen Jahrzehnten aufgekommene Gegenbewegungen zur Machtkirche -
Main: Sie meinen die Armutsbewegungen.
Reinhardt: Ja. Extreme oder radikale Armutsbewegungen werden bekämpft, gemäßigtere wie die Franziskaner werden vorsichtig getestet auf ihre Integrierbarkeit in die Kirche. Also eine Art Billigung auf Bewährung und auf Widerruf. Es gibt allerdings auch nichtchristliche Gegenbewegungen zur römischen Machtkirche - etwa in Südfrankreich die Katharer. Hier werden brutale Kreuzzüge organisiert. Die provenzalische Kultur wird mit tätiger Mithilfe des Papsttums regelrecht vernichtet.
Päpstliche Heiligkeit
Main: Aber auch der mächtigste Mann der Kirchengeschichte stirbt. Und Macht und Verehrung müssen nicht unbedingt in einem direkten Verhältnis stehen. Zumindest ist das so bei Innozenz III.: Er stirbt - und er wird wie beerdigt? Das spricht nämlich Bände, wenn ich mich richtig erinnere.
Reinhardt: Das illustriert auch gewissermaßen seine Sicht des menschlichen Lebens: Der Mensch ist durch die Erbsünde beschädigt und eine sündhafte Kreatur, eine schäbige Kreatur mit Resten ehemaliger Größe. Das spiegelt sich nach seinem Tod. Und sein Begräbnis entspricht keinesfalls der Größe dieses Amtes. Man kümmert sich längere Zeit nicht um den Leichnam - und das Ganze ist sehr peinlich.
Main: Also kein direkter Weg zur Heiligsprechung?
Reinhardt: Auch kein direkter Weg zur Heiligsprechung, die theologisch sicher möglich wäre, aber ich glaube, das ist nicht passiert, weil man letztlich im Rückblick diesen Pontifikat als zu politisch einstuft.
Main: Kurz zum Schluss: Wissen Sie aus dem Kopf, wie viele Prozent der Päpste selig- oder heiliggesprochen sind?
Reinhardt: Am Anfang fast alle. Später nur noch sehr wenige. Ab 1294 - da wird noch einer heilig gesprochen - sind es nur noch ein bis zwei Prozent. Aber am Anfang - ungefähr bis zur ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts - haben die Päpste fast schon eine Art Freifahrtschein zur Heiligkeit.
Main: Die Päpste, die wir morgen im Programm haben, die wenigstens konnte niemand heiligsprechen. Zumindest Alexander VI. war wohl eher das Gegenteil eines Heiligen - wie würden Sie ihn bezeichnen?
Reinhardt: Als einen skrupellosen Machtpolitiker von erschreckend hoher Intelligenz, der auch psychologisch sehr geschickt mit seinen Mitmenschen spielt, der sich in seinem Handeln letztlich dadurch gerechtfertigt fühlt, dass er glaubt, seine Familie ist insgesamt zur Führung der Kirche berufen. Also eine unheimliche Gestalt! Er kann den gütigen, vergebenden alten Mann spielen. Er kann zur Menschenjagd aufrufen. Er steht letztlich hinter 'Terror als politische Strategie'. Das ist für einen Papst schon sehr ungewöhnlich.
Volker Reinhard: "Pontifex - Die Geschichte der Päpste"
Verlag C. H.Beck, München 2017. 928 Seiten, 38,00 Euro.
Verlag C. H.Beck, München 2017. 928 Seiten, 38,00 Euro.
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