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Hölderlin zum 175. Todestag
"Ein moderner Seher in die Zukunft"

Hölderlin kam ins Fahrwasser einer nationalistischen Fehllektüre und wurde lange Zeit zu einem Kultdichter der Deutschen stilisiert, sagte Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer im Dlf und fordert eine Neubewertung. In Wirklichkeit sei sein Werk durchsetzt von dichterischen Ausflügen in die ganze Welt.

Jürgen Wertheimer im Gespräch mit Angela Gutzeit |
    Statue von Friedrich Hölderlin in Nürtingen.
    Sein Text war ein einziger Gesang: Friedrich Hölderlin (imago)
    Angela Gutzeit: Zuvor aber widmen wir uns aus aktuellem Anlass einem Dichter, der – fast möchte man sagen - seinen heutigen Bekanntheitsgrad wohl eher einem biografischen Umstand verdankt als der Lektüre seines dichterischen Werks. Denn der 1770 in Lauffen am Neckar geborene Johann Christian Friedrich Hölderlin verbrachte 36 Jahre seines Lebens wegen angeblicher oder tatsächlicher geistiger Umnachtung in einem Tübinger Turmzimmer, wo er heute vor 175 Jahren starb. Der Freund und Zeitgenosse Schellings und Hegels, mit denen er in den Tübinger Studienjahren ein intellektuelles Triumvirat gebildet hatte, hinterließ ein an der griechischen Antike orientiertes dichterisches und von der französischen Revolution beeinflusstes geschichtsphilosophisches Werk, das auf umfassende Erneuerung der politischen und kulturellen Verhältnisse orientiert war und noch heute zur Auseinandersetzung mit großen Menschheitsfragen herausfordert. – Aber wird Hölderlin heute noch gelesen? Die Fremdheit seiner Sprache, der hohe hymnische Ton seiner Gedichte – das sind durchaus Hürden, die nicht einfach zu überwinden sind. Hölderlin für die heutige Zeit zu erschließen – das ist ein wesentlicher Ansatzpunkt für ein mehrtägiges Symposion, das gerade in Stuttgart stattfindet und von der Akademie für das gesprochene Wort veranstaltet wird – aus Anlass des 175. Todestages von Friedrich Hölderlin. Einer der Referenten ist der Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer, der morgen einen Vortrag über "Hölderlin und die Weltliteratur" halten wird. Mit ihm habe ich gesprochen und ihn zuerst gefragt, welche Spuren er in seinem Vortrag verfolgen wird, angesichts der weitgefächerten und nicht ganz unkomplizierten Rezeptionsgeschichte des Hölderlinschen Werks.
    Jürgen Wertheimer: Gut, also Hölderlin ist natürlich weltweit verbreitet mittlerweile, aber mein Schwerpunkt war von Beginn an ein anderer. Was heißt mein Schwerpunkt, es hat mich angesprungen bei der Lektüre, dass er sehr häufig als deutscher Autor, als nationaler Autor betrachtet wurde, aber in Wirklichkeit sein Werk durchsetzt ist von einem Ausflug in die ganze Welt, wirklich in die ganze Welt. Sie können keine zehn Zeilen lesen, dass nicht von den Inseln des Lichts, von den Reichen Asiens, von Jordan, von Nazareth, von der ganzen Welt die Rede ist, und dass man diesen Faktor so lange übersehen oder marginalisiert hat, das hat mich schon gewundert und sehr gefreut eigentlich, dann dieses Werk als einen Schlüssel zu einer Weltlektüre begreifen zu dürfen.
    "Mit Hölderlin im Tornister in die Schlacht"
    Gutzeit: Was meinen Sie, woran das liegt, dass das so lange übersehen wurde?
    Wertheimer: Da gab es so eine erste Tranche seiner sehr späten Entdeckung. Die erste Tranche war der Wahnsinn und die zweite, er kam ins Fahrwasser unglückseligerweise einer nationalistischen Fehllektüre und wurde durch auch Autoren wie Heidegger zu einem Kultdichter der Deutschen. Man zog mit Hölderlin im Tornister in die Schlacht. Das ist ein Missverständnis, was sich erklärt aus der Verwechslung der Befreiungskriege mit Nationalismus. Hölderlin hat das völlig anders gemeint. Und diese ist lange verfolgt worden, länger als es verantwortlich sein sollte. Dann gibt es eine zweite, und ich muss es leider sagen: das ist die der Hochleistungsphilologie, die ihn zerlegt, zersägt uns zu einem Paradies der Besserwisser gemacht hat, sodass man sich als Normalmensch und -leser kaum mehr traut, Hölderlin unbefangen zu lesen. Und jetzt allmählich, hoffe ich doch sehr, und dieses Kolloquium soll dem dienen, auch vom Stil her einen Öffnungsvorgang in Vorbereitung.
    Gutzeit: Gut, dazu passt meine nächste Frage: Wenn man einmal auf die deutsche Rezeption schaut, so wurde ja Hölderlin von sehr unterschiedlichen Dichtern und Denkern bewundert – Sie haben das eben schon erwähnt –, literarisch, philosophisch weitergedacht, wenn nicht sogar in vielen Fällen vereinnahmt. Also wenn ich jetzt einfach mal Namen nenne: Stefan George bis zu Brecht, in der DDR Peter Weiss, und schließlich hat sich auch Paul Celan damit beschäftigt, Martin Walser, und dann wohl auch politisch-ideologisch in den 60er-, 68er-Jahren. Hat sich da eigentlich jeder passend was rausgesucht zu seiner Zeit, und hat sich dafür Hölderlin irgendwie angeboten?
    Wertheimer: Hölderlin war schon gefährdet insofern, als er Stichworte geliefert hat, zum Beispiel Deutschland, die sich angeboten haben zu solchen Interpretationen vereinnahmender Art, und die einzige, die ich mir wirklich eingehen lasse und die ich liebe sogar, ist der Dialog, und dann ist es keine Vereinnahmung mehr, der literarische und lyrische Dialog zwischen Paul Celan und Hölderlin. Das ist auf Augenhöhe, da vereinnahmt niemand, da erkennt jemand etwas und kennt sich auch im Text wieder, findet sich auch im Text wieder. Ich hoffe, dass diese Zeit vorbei ist, obwohl der Vereinnahmungssog, auch der Wissenschaft, ein starker ist und war. Ich sagte ein bisschen tendenziös den Begriff der Hochleistungsphilologie verwendet, und die meint eben den Text im Grunde zu ihrer philologischen Sache zu machen. Mit Philologie kann man etwas zuschütten, aber auch mit Ideologie natürlich, und beides ist schwer voneinander zu lösen, aber was ich mir wünschen würde, ist, dass man ein paar Zeilen mehr Hölderlin auch unbefangen auf sich wirken lässt und zum Klingen und Springen und Singen bringt, denn der Text ist im Grunde ein einziger großer Gesang.
    Scheu vor dem potenziellen Pathos der Sprache
    Gutzeit: Aber dafür sind doch die Voraussetzungen jetzt mittlerweile ganz gut. Wenn wir mal davon ausgehen, dass wir in postideologischen Zeiten leben, dann ist ja diese Vereinnahmungsgefahr gar nicht mehr so da, wie zum Beispiel auch durchaus von linker Seite in den 68er-Jahren.
    Wertheimer: Bertaux!
    Gutzeit: Genau. Ist denn heute der Blick – Sie haben das eben auch schon angedeutet – in der Tat freier, was Hölderlins Sprache angeht, also unbelasteter, wenn man mal den ganzen ideologischen Müll beiseitelässt?
    Wertheimer: Das hoffe ich, ich weiß es nicht, denn nach wie vor stelle ich eine gewisse – das ist die Gefährdung Hölderlins – Scheu vor dem potenziellen Pathos der Sprache fest. Man kann Hölderlin so rezitieren, dass sich jeder Sinn auflöst und nur mehr eine sterile Form übrigbleibt, und man kann ihn so lesen, dass er ein einziges Monument eines gewissen humanistischen Historismus ist, und diese Tendenzen sind immer noch existent, aber wenn man jetzt freier wird und ihn einfach als Geschichte, als Versuch, ein moderner Seher in die Zukunft zu sein, als einer, der Grenzen überwinden will, der an keinen Ort gebunden ist, sondern sich mit jedem Wort weiter entfernt und zugleich zurückkehrt. Der ist immer am Neckar und am Nil zugleich. Wenn man ein Gefühl entwickeln würde für diese Gleichzeitigkeit der Wahrnehmungen, das wäre schon toll, und dafür ist er das ideale textuelle Sprungbrett.
    Gutzeit: Gut. Professor Wertheimer, Hölderlin hat die Philosophie bewegt wie die Dichtung und die Musik. Mich würde interessieren, welche Fragen und Utopien, die Hölderlin bewegten, noch heute in unserer Zeit oder wieder vielleicht auch Bedeutung haben. Er war ja, wenn man das so sagen darf, ein radikaler Denker und Dichter, der in seiner eigenen Umbruchszeit nach Orientierung für das Individuum suchte, –
    Wertheimer: Vor allem.
    Gutzeit: – und die Kirche und das Christentum allein konnten ja wohl keine Antworten mehr geben.
    Wertheimer: Nein, sondern die Poesie. Also er war vielleicht einer der letzten Hoffnungsträger einer Botschaft, durch die Literatur in die Welt zu kommen, durch Literatur in die Welt zu wirken, die Welt zu beschreiben durch Literatur und ihr eine Vision zu geben, anzubieten, wie immer man das nennen will. Eine wäre, eine Antwort auf die Vereinnahmung durch den Materialismus und der Technologie, die auch in seiner Zeit bereits wirksam waren und auf die er reagiert hat mit einem Credo, mit einem pathetischen, leidenschaftlichen, vehementen Credo für Harmonisierung. Harmonisierung heißt die Akzeptanz der Gegensätze, ohne in die Beliebigkeit abzudriften, einen eigenen Weg zu gehen, und die Rede an die Deutschen ist eine Rede an die Welt, dass er nur mehr einzelne Menschen, Trümmer sieht, aber keine ganzen Menschen mehr. Der Begriff des Menschen mag ein bisschen pathetisch wirken, aber ich glaube, die Rettung des Individuums, seiner Wahrnehmung, seiner Sinne und seiner Sinnlichkeit im Sprechakt, das ist das große Anliegen, und das ist das große Anliegen für ihn in seiner Zeit, und ich denke auch, es ist auch wir, die wir mit dem Rücken zu den Technologien stehen, mit dem Rücken an der Wand zu den Technologien stehen, auch unser Bedürfnis, die eigene Wahrnehmung wieder zu emanzipieren und auch die vielen Fragmente, Bruchstücke, Trümmer. Hölderlin hat ja selten etwas und immer weniger im Lauf des Lebens vollendet und Lücken gelassen. Wie Cezanne gemalt hat, so hat er geschrieben, und genau solche Lücken oder Leerstellen können ja unsere Fantasien in die Texte eindringen lassen und ihn in eine neue Dimension geben, an die er vielleicht noch gar nicht denken konnte.
    Faszination des Scheiterns
    Gutzeit: Ich formuliere mal weiter: Hölderlin war ja besessen von der Vorstellung, dass Literatur und Kunst das Lebenselixier sei für die Menschen in dürftiger Zeit. Er wollte wieder Zusammenhang zwischen verschiedenen Sphären schaffen, vielleicht kann man auch sagen den Riss in der Schöpfung kitten, denn er hatte ja durchaus auch diese spirituelle Note, also insgesamt wohl auch eine hochfliegende ästhetische Utopie, und von dieser Utopie sind wir eigentlich heutzutage sehr weit entfernt. Was fasziniert uns eigentlich an Hölderlin, wenn wir ihn lesen?
    Wertheimer: Wir erleben ihn ja, glaube ich, auch, oder vielleicht sogar primär, als einen, der in seinem Utopismus scheitert, und dieses Scheitern wird im "Hyperion" exemplarisch dargestellt, die Umwelt enttäuscht ihn, desillusioniert ihn total zum Beispiel, und sie drückt sich auch in den Texten aus, die allmählich nur mehr Trümmer von Redeteilen werden, und ich glaube, dieser schmerzhafte Leidensprozess bei höchster Anstrengung, dieses Ziel doch nicht aufgeben zu wollen und das Fremde genauso neu lernen zu wollen wie das Eigene, eine Art Schlussstrich unter die Geschichte zu ziehen und zu versuchen, neu anzufangen, wie wenn es ein Schöpfungsakt oder Schöpfungstag wäre. Diese ganzen, manchmal kindlichen, manchmal hochfliegenden Bemühungen, also mich haben die fasziniert, faszinieren sie noch immer, und ich denke, auch manche Leser, die sich vorbehaltsfrei in das Werk begeben oder sich ihm anvertrauen. Hölderlin ist schon jemand, der kurioserweise, vielleicht gerade wegen dieses lebenslangen Scheiterns … Man muss sich vorstellen, der größte Lyriker der Welt oder einer der größten Lyriker der Welt, stirbt im Bewusstsein, total versagt zu haben. Nichts von sich ist an die Welt gekommen bis zu diesem, bis zu seinem Todeszeitpunkt. Ich glaube, solch eine Geschichte, die schafft Vertrauen, um dieses hohe Wort zu verwenden. Man merkt, da ist einer am Werk, der, glaube ich, er kann nicht lügen. Er kann nur sein Scheitern offenlegen und kann es in hohe Töne kleiden und kann es beschreiben und durchdeklinieren, aber er ist immer wie eine offene Wunde vor uns.
    Gutzeit: Das heißt, seine Radikalität, seine Wahrhaftigkeit ist etwas, was uns anspricht?
    Wertheimer: Ich denke schon. Sonst würde es auch einfach vergessen werden, oder es würde nur mehr so ein Ritual werden. Ich hoffe, er gerät jetzt nicht in einen Sog, es drohen ja mehrere große Feiern, 20, wieder in den Sog einer neuen Vereinnahmung durch eine Kulturindustrie. Das hat er auch nicht verdient. Dagegen kann er sich natürlich nicht mehr wehren. Man müsste jetzt eine Form finden, die ihn zugleich ganz nah an uns heranrückt, aber auch die Distanz aufzeigt. Ich finde es immer peinlich, wenn wir nachgeborenen Dilettanten uns dann anheischig machen, so eine Ausnahmeerscheinung – und das war er wohl – mit unserem Maß zu messen. Also ich halte jetzt nichts von großem Respekt und würdigem Abstand, aber doch die Distanz wahrzunehmen. Es ist eine andere Zeit, es war ein Mensch an der Grenzlinie des psychopathologischen möglicherweise in gewissen Phasen. Es war eine Ausnahmeerscheinung, die ihr Leben so und nie anders führen hätte können. Wir sollen nicht mit unsere gesunden oder auf Gesundheit zielenden Maßstäben alles verstehen wollen. Es muss auch eine kleine Dunkelheit bleiben dürfen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.