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Höllenfahrt eines Gelehrten

William H. Gass' "Der Tunnel" ist ein Roman über das Scheitern der Hoffnung, dass Wissenschaft und Aufklärung das Menschengeschlecht voranbringen könnten, und ein Roman über eine Schreibkrise. Mit seinem monumentalen Sprachrausch besitze er "den Rang einer erstklassigen literarischen Sehenswürdigkeit", meint Eberhard Falcke.

Von Eberhard Falcke |
    Der Ruf, der diesem Roman vorauseilt, ist furchterregend. Oder genau genommen: Die Fama eilt ihm nicht gerade voraus, man muss sich schon ein wenig umhören und hinüberlauschen in die Vereinigten Staaten. Denn William Howard Gass gehört zwar zu den bedeutenden Vertretern der amerikanischen Gegenwartsliteratur, aber international ist er längst nicht so bekannt wie Philip Roth, William Gaddis, Thomas Pynchon oder David Foster Wallace. Die Aficionados allerdings haben ihn längst entdeckt und führen ihn auf ihren Listen der literarischen Hochseilartisten. Sie haben, etwa in Norbert Wehrs "Schreibheft", auf die Dringlichkeit hingewiesen, den Roman "Der Tunnel", das Opus Magnum von William Gass, endlich zu übersetzen. Das Für und Wider in den amerikanischen Reaktionen auf den Roman allerdings war eklatant. Da gab es Kritiker, die den Roman zu den größten Werken des Zwanzigsten Jahrhunderts rechneten, zugleich aber andere, die darin nichts Besseres erkennen wollten als "einen Haufen Mist". Der Dichter Robert Kelly setzte in der New York Times sein überwiegend skeptisches Urteil immerhin zur Bewährung aus, indem er schrieb:

    Es wird Jahre dauern, bis wir wissen, was wir damit anfangen sollen.

    Wer diesen Roman aufschlägt, dem dürfen also ruhig ein wenig die Hände zittern. Die reichlich 1000 Gramm, mit denen das 1000-Seiten-Werk ins Gewicht fällt, werden dazu beitragen. Dieser Umfang entspricht dem typischen Format des postmodernen Mammutromans, wie er vor allem in der amerikanischen Literatur auftritt. Obwohl sich William Gass lieber als Vertreter einer, wie er es nennt, "Verfallsmoderne" begreift, hat "Der Tunnel" mit den postmoderen Erzählkonzepten entscheidende Charakteristika gemein. Dazu gehört die ausufernde Erzählweise, die in der Darstellung von Großem und Kleinem gleichermaßen zur Totalität tendiert. Es gehört dazu die Mischung literarischer Genres und Gattungen und das Spiel mit intertextuellen Materialien und Querverbindungen, wodurch eine Vermehrung der Bedeutungsebenen erzielt wird. Und nicht selten hebt die Fabel vom Boden realistischer Darstellung in die vieldeutig flirrenden Sphären der Fantastik ab.
    Doch was als Allererstes ins Auge fällt, das ist die prominenteste Manier der postmodernen Literatur, nämlich die metafiktionale Thematisierung des Erzählens als Teil der Romanhandlung. Schon in den ersten Zeilen verrät William Frederick Kohler, der Protagonist und Ich-Erzähler, dass das Schreiben über das Schreiben bei seinem Vorhaben eine entscheidende Rolle spielen wird.
    Anfangs hatte ich die Absicht, eine Einleitung zu meinem Werk über die Deutschen zu schreiben. Obwohl es in dicken Ordnern neben mir liegt, weiß ich, dass ich es nicht kann. Hier in meiner Einleitung gedachte ich mir selbst einen Kranz aufzusetzen. Aber jedes Mal, wenn ich die Feder ansetzte, kehrte sie sich zur Seite und gegen mich. Während ich mir die Seiten meines Manuskripts ansehe oder die Bücherwände meines Arbeitszimmers anstarre, wird mir klar, dass ich abermals versuchen muss, dieses Gefängnis meines Lebens in Worte zu fassen.

    Was also zunächst als schnell nachzutragende Einleitung gedacht ist, gerät schon von Anfang an außer Kontrolle. Wider Erwarten gelingt es Kohler nicht, seiner Selbstzufriedenheit freien Lauf zu lassen. Stattdessen blickt er um sich und erkennt seine Studierstube als das "Gefängnis seines Lebens". Wie konnte es dazu kommen? Der Umstand, dass sein Penis etwas knapp bemessen ist, worauf er immer wieder zu sprechen kommt, kann dafür nicht der einzige Grund sein.

    William Frederick Kohler ist Historiker, er lehrt an einer wenig bedeutenden Universität im Mittleren Westen. Sein Forschungsgebiet ist der Nationalsozialismus, doch um es gleich zu sagen: Sein Verhältnis zu Adolf Hitler, dem Dritten Reich und dem Holocaust ist nicht primär durch wissenschaftliche Nüchternheit und Genauigkeit geprägt und auch nicht durch den Schmerz eines leidend Betroffenen. Vielmehr unterhält er zu dem Nazi-Thema ein lüstern-fetischistisches Verhältnis, dessen Antriebskräfte aus den schlierigen Tiefen und Untiefen seiner psychischen Konstitution kommen. Da er von der Welt keine sonderlich hohe Meinung hat, weil seine üble Kindheit deren Bildung nicht zuließ, betrachtet er die Menschheitsverbrechen der Nazis vor allem als den Ausdruck einer schlechten Welt und weniger als die Untat diktatorischer Tyrannei. Genau diesem Thema hat er sein großes und zentrales historisches Werk gewidmet, über das er in folgenden Worten räsoniert, schwadroniert, bramarbasiert und schwafelt:

    Sein volltönender Titel, Schuld und Unschuld in Hitlerdeutschland, seine Form der nüchternen Dokumentation, das Aufeinanderhäufen von Tag auf Dekade wie Scheiße in einem Stall, seine bezwingende Logik, wie der Gestank, der daraus hervordringt, ferner seine hochtrabende Hierarchie von Erklärungen: Sie korrigieren der Wahrheit die Zähne; zwingen dem Zufall eine Ordnung auf, unterstellen der Geschichte einen Willen; ah, mein Buch schreit seine Befehle heraus, und Ereignisse sind darin verteilt wie dekorative Rosinen auf einem Keks ...

    ... und so weiter und noch abgefahrener, geschwollener, durchgeknallter. Satirisch ist das eher selten zu verstehen, mit Sicherheit jedoch waltet hier ein wortwendiger Mutwillen. Dieser William Frederick Kohler schreibt und fabuliert vor sich hin, dass es eine Sprachlust ist, zumindest für ihn selber und fraglos auch für seinen Autor.

    Doch gleichzeitig heißt das nichts anderes, als dass dieser Wissenschaftler bei dem Versuch, für sein Schlüsselwerk über die schlimmsten Grausamkeiten des Zwanzigsten Jahrhunderts eine Einleitung zu verfassen, haltlos durchdreht und in einen sprachverstrudelten Abgrund stürzt, in dem Vernunft und Moral zuschanden werden. Nein, dieser Kohler ist zwar Professor an einer Universität, er lebt und bebt in der akademischen Gemeinde, seine wichtigsten Gesprächspartner sind die geduldeten oder gehassten, doch niemals geschätzten Kollegen - aber mit einem Campus-Roman haben wir es hier keinesfalls zu tun. Viel eher ist das der Roman über einen großen Zusammenbruch: über das Scheitern der Hoffnung, dass Wissenschaft und Aufklärung das Menschengeschlecht voranbringen könnten; über die Vergeblichkeit des Schreibens als Mittel der Selbsterkenntnis; über den Bankrott des Denkens, weil dieses letztlich ohnehin immer wieder um die ganz persönlichen Zentren des Schmerzes und des Begehrens kreist.

    Wenn ich über das Dritte Reich oder, so wie jetzt, über mich selbst schreibe, geht es mir dann wirklich und wahrhaftig um die Wahrheit' Was will ich eigentlich' Herausfinden, wer ich bin' Wozu sollte das gut sein' Ich möchte mich etwas weniger unwohl fühlen.
    Man hat mich für den Gehalt, die Substanz meiner Gedanken gelobt. Aber das ist nicht der Stil, in dem ich mich jetzt äußern möchte, und mir wird klar (das hat sich beim Schreiben ergeben), dass mein Thema viel zu ernst ist für die Wissenschaft, die Historie, und dass ich eine andere Form finden muss, bevor ich das, was in mir gefangen ist, hinauslasse.
    Wenn ich mich nur etwas weniger unwohl fühlen könnte. Das würde schon helfen.


    Der Gelehrte und Intellektuelle, der ausgezogen ist, die Welt zu deuten und Wahrheiten herauszuarbeiten - er verfällt in einen Taumel von Weltzweifel und Sinnverlust. Er forscht nach bei Rousseau, bei Rilke, bei Gide, doch nirgendwo findet er stützenden Halt. Er führt ein "Leben im Stuhl", lesend und schreibend! Wie soll er da, flüstert ihm der bohrende Zweifel ein, gültige Erkenntnisse über die Welt gewinnen?
    Diese ersten Teile von "Der Tunnel" lesen sich wie ein konsequenter und halsbrecherischer Endspiel-Roman über die Vergeblichkeit des wissenschaftlichen Denkens, der Aufklärung und des Schreibens als Erkenntnismittel. Das ist eine sarkastische Dekonstruktion aller auf das Gute, Wahre und Schöne gerichteten Bestrebungen, die zwar eine ganze Reihe von komödienhaften Zügen trägt, an deren tiefschwarzer existenzieller Grundierung jedoch kein Zweifel bestehen kann. Nicht umsonst trägt der Held den Namen Kohler, dessen Bedeutungsanklänge der Rilke-Übersetzer William Gass genau kennt.

    Allerdings ist es mit der Verzweiflung Kohlers über seinen geistig-moralischen Bankrott nicht weit her. Vielmehr überlässt er sich nun umso haltloser seinen oftmals dubiosen, zuweilen schändlichen, fast immer frivolen und durchweg sehr selbstbezogenen Grübeleien und Formulierungsdelirien. Unter der Überschrift "DIE VOLLSTÄNDIGE UNEHRLICHE UND UNSCHÖNE WAHRHEIT" hält er fest:

    Aber Worte (um ehrlich zu sein) sind es nun einmal, was uns elende Schreiberlinge ausmacht, ganz gleich welche Ziele wir verfolgen: ob wir nun Historiker sind wie ich oder Romanautoren wie Gide; und jeder von uns weiß, dass es im gewöhnlich chaotischen Reich der Sprache, sofern nur die Sätze klingen und das Ganze stimmig anmutet, oft leichter fällt, sich zu einem Kapitalverbrechen zu bekennen, als zuzugeben, dass man gern in eine Flasche onaniert. Die Ehrlichkeit macht jeden Tag zu einem faden Sonntag, hebt Quittungen auf, lügt durch ihre Offenheit hindurch wie ein Bibelfritze, anstatt mit Vernebelung und Täuschung, mit Geschwätz und schlichter Schönheit ihrem Schlag zu mehr Schmackes zu verhelfen.

    Ach, wäre er doch ein Dichter geworden und kein Historiker, seufzt Kohler manches Mal. Inzwischen aber hat er sich sehr offensichtlich dazu befreit, seine Sprache gehörig mit Schmackes zu versehen. Wobei nun unbedingt dem Übersetzer Nikolaus Stingl die allerhochachtungsvollste Reverenz zu erweisen ist. Er hat die Übertragungsarbeit mit Bravour und Triftigkeit erledigt, von den eingestreuten Gedichten über die zahllosen Wortspiele bis zu den ausschweifend und opulent formulierten Satzperioden. Es ist ihm ohne bemühte Verkünstelungen gelungen, den vorherrschenden lockeren Sprachgestus zu bewahren.
    Denn Kohlers Bankrott als seriöser Wissenschaftler hat zu einer ungeheuren gedanklichen und sprachlichen Lockerung geführt. Darum versteckt er sein Elaborat vor der ungeliebten Ehefrau sorgfältig zwischen den Seiten seines historischen Werkes.
    Einen weiteren Akt der Heimlichkeit begeht er, indem er beginnt, unter dem Haus einen Gang in die Tiefe zu graben. Das ist der Tunnel, den der Roman im Titel führt. Allerdings entsteht dadurch nichts, was einer regelrechten Handlung ähneln würde. Auch wenn Kohler seine Plackerei in den Tiefen hin und wieder erwähnt, bleibt er ein vorwiegend tatenloser Mann mit der einzigen Leidenschaft für seinen endlosen Schreibfluss. Daher hat der Tunnel fast ausschließlich metaphorische Bedeutung. Von Metaphern versteht William Gass schließlich eine Menge, da er sich damit als Literaturwissenschaftler vielfach beschäftigt hat.

    Das anspruchsvolle Symbol des Tunnels beispielsweise vollendet sich in der Dunkelheit des Tuns; es steckt im Buchstäblichen, im plumpen Denken, in den Vulgaritäten der Praxis.

    Der Tunnel steht für den Fluchtweg aus dem "Gefängnis des Lebens", er steht für die Höllenfahrt des Gelehrten durch den eigenen geistigen und psychischen Untergrund und natürlich ist er die Großmetapher für ein in Scheitern und Nichtswürdigkeit verbohrtes Existieren. Selbstredend kommen dabei viel Schmutz und Dreck ins Bild, und das nicht allein wegen Kohlers sprachlich abwechslungsreicher, grotesk-schlüpfriger Vorliebe für muffige Sexfantasien und die Maulhurerei.
    Die Kunst der schmutzigen Rede exekutiert er darüber hinaus vor allem an Gegenständen, bei denen er dadurch besonders grelle und verletzende Funken schlagen kann: bei Hitler, den Nazis, dem Dritten Reich und dem Holocaust. Ohne Zweifel gehört zu Kohlers düsteren Seiten, die er hier genüsslich herausstreicht, seine exzessiv in zahlreichen Detailzeichnungen geschilderte bedrückte Kindheit, deren Folgen sich bei dem Erwachsenen in Herzenskälte, Spottsucht und der Neigung zum Ressentiment zeigen. Und hochintelligent, wie dieser rastlos räsonierende Mann ist, versteht er es, solche menschliche Verkniffenheit auf den Begriff zu bringen: Er nennt sie "Faschismus des Herzens" und erklärt sie zum Grundübel des gesellschaftlichen Lebens überhaupt.

    O sinne über den Faschismus des Herzens
    (jenen "herrlichen Ausdruck");
    Singe von Enttäuschungen, öfter wiederholt als der Wellenschlag des Meeres, von Leben, vergällt durch Ärgernisse, von Dämpfern, ortsüblich wie das Sofa, auf dem ich als jüngeres Semester herumfummelte ...


    Dass Kohler diesen "Faschismus des Herzens", an dem er selbst Anteil hat, für den Holocaust und die Verbrechen der Nazis verantwortlich macht, das mag, bildhaft betrachtet, noch angehen. Dass er aber Hitler und seine Paladine deshalb von ihrer Schuld entlasten möchte, das verrät dann doch den autoritären Charakter, der vor den Mächtigen buckelt und dafür seine Nebenmenschen - und gerne auch sich selbst -, umso mehr verachtet. Seine Bemerkungen über Juden und Konzentrationslager haben unsaubere Nebentöne. Die gereimte Verjuxung von Auschwitz aus der Feder eines Kollegen, der eine Weltgeschichte in Limericks verfasst, zitiert er mit Unschuldsmiene. Denn wer von der Schlechtigkeit der Welt überzeugt ist, kann leicht in Gefahr geraten, das Gesetz der Schlechtigkeit zu seinem eigenen zu machen. So funktionieren die Figuren von Louis-Ferdinand Céline, und solche Tendenzen sind auch bei Kohler unübersehbar.

    Wann wird die Wut, die ich in mir habe, ihren Ausdruck finden' Ha. Werden diese Blätter etwa MEIN KAMPF' Ha, ha, in der Tat. Einen Groll hegen! Der Groll, den ich hege, hat mich auf die Knie gezwungen. Ich habe so viel Ressentiment übrig, dass es für eine Flut reicht. Der Hass hat meinem Leben Kraft und Sinn gegeben. Ich habe ihn studiert. Er hat mich studiert.

    Kohler ist ein Typ, der zwischen Selbstbehauptung und Menschenverachtung auf schmalem Grat wandelt. Darum hat es Schlüssigkeit, wenn ihm sein Autor die Idee eingibt, wieder einmal eine "Partei der Enttäuschten" zu gründen. Fahnen, Parteiabzeichen und Armbinden entwirft er eigenhändig, sie sind im Roman abgebildet. Assoziationen zu Vergangenheit und Gegenwart sind willkommen. Die Parallele zur NSDAP liegt auf der Hand, der Verweis auf die Tea-Party-Bewegung wird, wie aus Interviews zu entnehmen ist, vom Autor unterstützt.
    Aber natürlich wird es nun höchste Zeit, endlich zu fragen, was von diesem Roman zu halten ist, der tatsächlich so zwielichtig daher kommt, wie der Ruf, der ihm vorausgeht. Um mit dem Einfachsten anzufangen: Die sprachliche Oberfläche mit ihren funkelnden Formulierungen, elektrisierenden Anspielungen, mit ihren rhetorischen Posen, ihren steilen Reflexionen, mit der unermüdlichen Lust, Themen und Motive über die Wortfelder zu jagen - das alles bewährt sich als große Prosakunst, nicht zu vergessen die reichlich eingestreuten poetischen Travestien. Dass Hardcore-Literaturfreunde hier ihre Feste des Dechiffrierens feiern können, steht außer Frage.
    Doch so virtuos dieser Roman im Sprachlichen ist, so unzulänglich und angreifbar erscheint er in seiner Gedankenwelt, der Figurenkonzeption und in der Gesamtstruktur. Da klingt es eher alarmierend als bewundernswert, wenn man hört, dass William Gass mehr als 25 Jahre an diesem Roman geschrieben hat, bis er ihm endlich 1995 zur Veröffentlichung reif erschien. Im schlimmeren Fall lässt das auf eine unglückliche Entstehungsgeschichte schließen. Im besten Fall könnte man sagen: Hier hat ein Autor von seinem Schreiben nicht genug bekommen und darüber ist der Roman über die Maßen fett geworden.
    An Klarheit der Gestalt hat das Werk durch die lange Schreibarbeit jedenfalls nicht gewonnen. Es ist ein riesiger Monolog geblieben und noch dazu das Selbstgespräch einer zwar interessanten aber dennoch schrecklich eindimensionalen Figur. Da gibt es keine Stimmungsschwankungen, keine Traurigkeit, kein Seelendrama. Nur einen Überschuss an Rhetorik und ein Übermaß an regressiven Passionen, eine immer gleiche Fixierung auf das eigene Kindheitsunglück, auf sexuelles Geschnüffel und hinterhältige Invektiven. Was an markanten Themen und Motiven auftaucht, erfährt keine erzählerische Ausarbeitung, sondern kommt oft über den Auftritt als Gag oder Running-Gag nicht wesentlich hinaus. Das gilt für den "Faschismus des Herzens" ebenso wie für die "Partei der Entrechteten" und sogar für den titelgebenden Tunnel.
    Unklar bleibt, ob dieser Kohler nun einen ganz für sich stehenden Sonderling oder den Repräsentanten eines zeitgenössischen Typus vorstellen soll? Er hat von beidem etwas, doch gerade dadurch verliert er an Gewicht und wird ungreifbar. Das ist der große Kunstfehler an diesem Roman. Mit den von Geist und Erinnerung durchdrungenen Helden Nabokovs kann er nicht mithalten, mit Saul Bellows intellektuellen Zeitgenossen ebenso wenig und für verrufene Romanfiguren à la Céline fehlt es ihm in postmodernen Zeiten an der zwingenden historischen Substanz.

    Vielleicht kommt man diesem Werk am nächsten, wenn man es als den Roman jener Schreibkrise ansieht, von der es nicht zuletzt handelt und die es durch seine ausufernde Form zugleich dokumentiert. Das Schriftstellerdrama, um das es hier geht, betrifft womöglich nicht nur den Romanhelden William Frederick Kohler allein, sondern auch den Autor William Howard Gass. Nicht alles an diesem Drama ließ sich von der Realität befreien und zur Kunst erheben. Eines aber ist ohne Zweifel dennoch gelungen: Diese Schreibkrise zu verwandeln in einen monumentalen orgiastischen, düsteren Sprachrausch. Den Rang einer erstklassigen literarischen Sehenswürdigkeit besitzt der Tunnel-Roman von William Gass daher auf jeden Fall.

    William H. Gass: Der Tunnel. Roman.
    Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
    Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2011, 1094 Seiten, 36,95 Euro.