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Hörspielpreis der Kriegsblinden für Deutschlandfunkproduktion "Das Kapital"

Alle Jahre wieder treffen sich Vertreter des "Bundes der Kriegsblinden" mit Kritikern, um gemeinsam den" Hörspielpreis der Kriegsblinden" zu vergeben, und das nun schon seit 57 Jahren. Ihre Wahl fiel nicht selten auf Produktionen, die sich im Nachhinein als prägend für die Entwicklung des Genres erwiesen.

Von Frank Olbert |
    Das trifft vor allem auf die Entscheidung des Jahres 1968 zu, als Ernst Jandls und Friederike Mayröckers Hörcomic "Fünf Mann Menschen" den Preis gewann. Auch dem Originaltonhörspiel haben die Juroren früh Beachtung geschenkt. Schon im Jahr 1971 haben sie Paul Wührs "Preislied" ausgezeichnet. Nun fiel ihre Wahl wieder auf ein Hörspiel, das Originaltöne in besonderer Weise benutzt. Für ihre Produktion "Das Kapital. Band 1" haben Helgard Haug und Daniel Wetzel Interviews mit Menschen geführt, deren Leben und Wirken in besonderer Weise mit Karl Marx' Hauptwerk zusammenhängt. Die Theaterversion erhielt im vergangenen Jahr den Mülheimer Dramatikerpreis.

    Den Vorsitz bei der Jury des "Hörspielpreises der Kriegsblinden" hat seit zwei Jahren die Schriftstellerin Anna Dünnebier.
    Frau Dünnebier, wie war denn die Stimmung in diesem Jahr?
    Ausgesprochen gut. Wir hatten noch nie so viele Stücke in der Schlussauswahl. Jeder Sender kann ja bis zu zwei Produktionen vorschlagen. Wir hören und diskutieren in einer ersten Runde alle Einreichungen und gehen dann in einer zweiten Runde diejenigen noch einmal durch, die uns am besten gefallen haben. Und das waren in diesem Jahr acht Stücke.
    Welche waren das zum Beispiel?
    Ein Favorit war ein sehr ironisches Stück über das Hörspielmachen selbst, "Meine Tonbänder sind mein Widerstand" von Thomas von Steinaecker, ein Pseudofeature über einen Menschen, der ein großer Hörspielautor war. Nur leider wurde er nie gesendet. Es ist sehr witzig. Man kann es aber auch als sehr ernstes Stück über die Einsamkeit des Künstlers und seine Schwierigkeit, mit der Welt klar zu kommen, verstehen.

    Ein weiterer Favorit war ein Hörspiel von Dunja Arnaszus mit dem Titel " Etwas mehr links -Zehn Quickies für eine Nation mit rückläufiger Geburtenrate". Das ist ein sehr schräges und witziges Stück über die Zumutungen der Behörden. Sie hat das Thema auf die Spitze getrieben mit der Fiktion, dass es ein Programm gibt; "Fortpflanzung - ich bin dabei!"
    Kommen wir auf das Stück zu sprechen, das schließlich gewonnen hat, "Das Kapital. Band 1". Was gab den Ausschlag für diese Produktion von Rimini Protokoll?
    Das war ganz verblüffend. Es war plötzlich so eine allgemeine Begeisterung da. Bei den anderen Stücken gab es immer noch Diskussionen für und wider. Dieses Stück war sowohl von der radiogemäßen Machart, als auch vom Thema wunderbar. Es war ein wichtiges, ein politisches Thema. Es war mit Witz gemacht und vor allem war es eine sehr besondere Art, mit Radio umzugehen. Diese Art von inszenierter Realität ist wirklich etwas Neues.

    "Experten-Theater" nennen Helgard Haug und Daniel Wetzel von der Autorengruppe "Rimini Protokoll" ihre Spielart des Dokumentarischen Theaters.
    Frau Haug, wie ist diese Arbeitsweise entstanden?
    Wir haben das "Experten-Theater" genannt, weil wir erst einmal den Begriff des "Laien" abwenden wollten. Wenn man nicht mit Schauspielern arbeitet, ist "Laien-Theater" immer der erste Begriff, der auftaucht.
    Und das klingt wie "nicht gekonnt. Ist das so?
    Genau. "Laien" sind die, die gerne wollen, aber nicht können und wir arbeiten mit Menschen, die etwas gerade besonders gut können, also Experten sind. Das können Experten für Karl Marx sein, aber auch Experten für eine bestimmte Lebenssituation. Bei dem ersten Stück, das wir gemacht haben, standen zum Beispiel vier alte Damen im Mittelpunkt, mit denen wir über das Altern gearbeitet haben.
    Wie sind Sie auf die Idee zu diesem "Experten-Theater" gekommen?
    Diese Idee entstand schrittweise. Wir haben in Gießen "Angewandte Theaterwissenschaft" studiert. Der Unterschied zu einem üblichen Regiestudium war dort, dass man für die praktische Arbeit keine Schauspieler an der Seite hatte, mit denen man Ideen ausprobieren konnte. Wir haben uns mit Konzeptkunst beschäftigt und standen lange selber auf der Bühne, bis wir gemerkt haben, dass wir vielleicht weniger spannend sind als die Leute, die man von draußen dazu holen kann. Es begann damit, dass wir zwei Feuerwehrleute eingeladen haben. Wir hatten ein offenes Feuer auf der Bühne und mussten sie einladen, aber anstatt sie in die erste Reihe zu setzen, haben wir sie gebeten, neben den Flammen auf der Bühne Platz zu nehmen. Und das war total aufregend, weil sie so wenig machen mussten und so viel mitbrachten. Das war dann der "Aha"-Effekt für uns.
    Wie kommt es eigentlich zu dem Namen "Rimini Protokoll"?
    Wir mussten ein Label finden, weil das mit unseren vielen Nachnamen zu unübersichtlich war. Wir sind zu dritt, haben phasenweise zu viert gearbeitet. Da hieß es dann "Ernst, Haug, Kaegi, Wetzel". Das hat sich niemand merken können. Wir wollten auch nicht, dass einer der Nachnamen Pate steht für vier oder drei Leute. "Protokoll" ist programmatisch, weil wir protokollieren. Das ist einerseits der Vorgang, wie wir Stoffe finden, wie wir Orten und Menschen begegnen. Andererseits laufen die Stücke nach einem bestimmten Protokoll ab. Und "Rimini" klang einfach nur gut dazu.

    Das Hörspiel "Das Kapital" von Rimini Protokoll steht bei mehreren Sendern auf dem Programm, am 12. März um 21.30 Uhr bei HR 2, am 1. Mai um 20.04 Uhr bei SR 2, und am 7. und 8. Juli bei WDR 3 und Eins Live.