Jürgen Zurheide: In Frankreich wird demonstriert überall im ganzen Land, und das ist ein unorganisierter Protest. Das ist anders als früher, wo Gewerkschaften oder Parteien organisiert haben und die Parolen ausgegeben haben. Heute kommt der Protest über Facebook und daraus wird eine Bewegung, anarchisch und wer kann das steuern, kann man das steuern? Was machen die Gewerkschaften, die Frage wollen wir wägen mit Reiner Hoffmann, dem DGB-Chef, den ich jetzt am Telefon begrüße. Guten Morgen, Herr Hoffmann!
Reiner Hoffmann: Guten Morgen, Herr Zurheide!
Zurheide: Herr Hoffmann, wie viel Angst haben Sie denn eigentlich davor, dass hierzulande so etwas wie "Gelbe Westen" an Ihnen vorbeidemonstrieren, ich sage es zugespitzt, und Sie Ihr Protestmonopol verlieren, wenn Sie es nicht schon längst verloren haben?
Hoffmann: Ich glaube, die Situation in Deutschland lässt sich nur begrenzt mit der aktuellen Situation in Frankreich vergleichen. Und ich bin überhaupt nicht der Meinung, dass die Gewerkschaften ihr Protestmonopol verloren haben. Wir sind in den sozialen Auseinandersetzungen mit den Arbeitgebern in jeder Tarifrunde handlungsfähig. Aber Gewerkschaften sind ja nicht nur dafür da, zu protestieren, sondern wir wollen ganz konkret das Arbeiten, das Leben der Menschen verbessern – und da haben wir nach wie vor eine hohe Gestaltungskraft.
"Das ist eine Entwicklung, die kann einen nicht zufriedenstellen"
Zurheide: Ich kann Ihnen aber nicht ersparen, wenn ich auf Ihre Mitgliederzahlen schaue, die kennen Sie noch besser als ich, Sie haben die Hälfte der Mitglieder verloren in den letzten 20 Jahren, von 12 auf sechs Millionen runter, da müssen Sie doch zweifeln und fragen, sind wir wirklich noch die Vertretungsmacht?
Hoffmann: Das ist eine Entwicklung, die kann einen nicht zufriedenstellen, aber dafür gibt es natürlich auch große Gründe. Gerade wenn Sie davon ausgehen, 12 Millionen - das war unmittelbar nach der Deutschen Einheit, da hatten wir viele Menschen, die in den neuen Bundesländern, in der ehemaligen DDR organisiert waren, da haben wir viele ganz schnell verloren. Das ist einer der Gründe. Die Arbeitswelt, die Unternehmensstrukturen haben sich verändert, es gibt ein ganzes Set an Gründen, aber im Kern müssen wir das sehr ernst nehmen und das kann uns nicht egal sein.
Wir sehen aber auch, dass wir jeden Tag 850 neue Menschen für die Gewerkschaften gewinnen, die jeden Tag Mitglied einer Organisation werden. Und ich verweise auf die Betriebsratswahlen, die wir gerade im Frühjahr diesen Jahres hatten, da hatten wir eine tolle Wahlbeteiligung von über 77 Prozent und die Kandidaten und Kandidatinnen der DGB-Gewerkschaften haben da bis zu 80 Prozent Zustimmung erhalten, das sind andere Betrachtungswinkel, Blickwinkel, auf die man schauen muss, wenn wir unsere Gestaltungsoptionen, unsere Gestaltungsfähigkeit wirklich beurteilen wollen.
Zurheide: Jetzt kann ich Sie natürlich nicht für alles verantwortlich machen, was in diesem Land passiert, aber wenn wir den Armutsbericht nehmen, den wir die Woche sehen, der zeigt, egal, wie wir jetzt das definieren, Armut nimmt eher zu. Oder sagen Sie, okay, das sind genau die Bereiche, wo wir als Gewerkschaften nicht dabei sind. Welche Rolle, welche Funktion haben Sie da?
Hoffmann: Genau das ist doch das Problem. Wir erleben, dass wir in einem so reichen Land wie Deutschland uns den [Anm. der Redaktion: An dieser Stelle war die Telefonleitung unterbrochen] Sektor in Europa leisten. Das heißt, sieben Millionen Menschen verdienen unter 10,40 Euro. Das ist ein Lohn, von dem man nicht ordentlich leben kann und das sind Armutslöhne. Deshalb ist das, was in dem aktuellen Armutsbericht dargestellt wird, erschütternd und nicht hinnehmbar.
Was wir machen müssen, ist, dass wir Menschen gerade in Erwerbsarbeit bringen, mit Löhnen und Arbeitsbedingungen, von denen man auch ordentlich leben kann. Und hier haben wir das Problem, dass die Tarifbindung in diesem Land deutlich zurückgegangen ist. 50 Prozent der Beschäftigten arbeiten nur noch unter dem Schutz eines Tarifvertrages – und dafür gibt es auch einen Grund. Der Grund lautet, dass die Arbeitgeber täglich Tarifflucht betreiben, sich gar nicht erst in einem Arbeitgeberverband organisieren und deshalb unter anderem der Mindestlohn eingeführt werden musste, das war ein wichtiger Erfolg, aber auch vom Mindestlohn kann man am Ende kein ordentliches Leben führen.
"Auch vom Mindestlohn kann man am Ende kein ordentliches Leben führen"
Zurheide: Der Mindestlohn ist ja auch in den Gewerkschaften immer umstritten gewesen. Das ist am Ende, hart gesagt, das Eingeständnis, dass Sie die Menschen dort nicht mehr erreichen und organisieren können. Jetzt ist die Frage, liegt das an Ihnen oder an denen, die sich nicht organisieren? Wie sehen Sie das?
Hoffmann: Nein, das liegt unter anderem daran, dass wir Arbeitsmarktreformen erlebt haben, die den Niedriglohnsektor befördert haben, dass wir viel zu viele Arbeitgeber haben – da rede ich jetzt nicht über die, mit denen wir am Verhandlungstisch sitzen und ordentliche Ergebnisse erzielen –, sondern die sich erst überhaupt gar nicht ihrer sozialen Verantwortung stellen und sich in einem Arbeitgeberverband organisieren. Wir erleben das gerade im Gebäudereinigerhandwerk, da geht es darum, dass die Menschen, die schon eh eine harte Arbeit machen, geringe Löhne haben, endlich auch mal ein Weihnachtsgeld bekommen. Da sagen die Arbeitgeber einfach rundum Nein, das ist nicht akzeptabel. Wir müssen auch da unsere Formen der Auseinandersetzung wieder zuspitzen, da ist gerade die IG BAU dabei, wir hatten gerade diese Woche mehrere Protestaktionen und haben gezeigt, dass wir diese Entwicklung in einem solch reichen Land, mit einer solch hohen Armut, einem hohen Armutsrisiko und einem Niedriglohnsektor, dass das, wenn wir das nicht in den Griff bekommen, das ist gefahrengeneigt und kann dann natürlich auch Entwicklungen provozieren, wie wir sie in anderen Ländern Europas kennen, da [Anm. der Redaktion: An dieser Stelle war die Telefonleitung unterbrochen] haben.
"Wir müssen den Diskurs wieder nach vorne treiben"
Zurheide: Die Verbindung ist manchmal ein bisschen schlecht, aber wir versuchen es noch mal. Ich spitze es zu: Wie wollen Sie die Diskurshoheit zurückgewinnen für das, was Sie da gerade beschreiben?
Hoffmann: Wir haben beispielsweise als Deutscher Gewerkschaftsbund noch eine wirklich intakte Struktur mit 360 Kreis- und Stadtverbänden. Mit denen haben wir gerade in der vorletzten Woche eine große Konferenz gemacht und stellen dabei zwei Themen in den Mittelpunkt, wo wir in die Debatte, in die Auseinandersetzung mit den Menschen vor Ort gehen müssen. Was sind ihre Vorstellungen von einer guten Arbeit und was sind die Ideen der Menschen von einem guten Leben in einer Kommune, in einer Stadt, in der sie leben wollen, mit bezahlbarem Wohnraum, mit vernünftiger Infrastruktur, mit entsprechenden Bildungseinrichtungen und vielen Dingen mehr. Und da machen wir erste, glaube ich, ganz gute Erfolge. Wir müssen wieder, in der Tat, da stimme ich Ihnen ausdrücklich zu, den Diskurs nach vorne treiben, und zwar mit Themen, die ganz dicht bei den Menschen sind.
Zurheide: Sehen wir Reiner Hoffmann demnächst mit einer gelben Weste demonstrieren?
Hoffmann: Das ist eine gewisse Ironie, aber ich war am Donnerstag, ich hatte es erwähnt, bei der Protestaktion der IG BAU, wo es um die Gebäudereiniger geht, um das Reinigungshandwerk geht, und da wurde mir doch tatsächlich eine gelbe Weste angezogen, da stand aber ganz dick drauf, das ist eine Weste der Industriegewerkschaft Bau, Agrar und Umwelt. Also irgendwelche zur aktuellen Situation in Frankreich lassen sich damit nicht herstellen.
"Vieles in Frankreich ist aus dem Ruder gelaufen"
Zurheide: Aber die Frage wäre ja doch, der Protest findet so viel Aufmerksamkeit, etwas mehr, bei allem Respekt, was die da machen als das, was Sie tun. Oder müssen Sie da Container in Brand stecken, ich weiß es ja nicht, ist das die Form der Auseinandersetzung?
Hoffmann: Das ist ja nichts Neues, dass wir zum Teil unterschiedliche Protestformen, gerade was Gewerkschaften betrifft, in den 70er-Jahren zwischen Frankreich und Deutschland haben. Was wir heute erleben, Sie hatten in der Anmoderation darauf hingewiesen, sind völlig unbekannte, neue Protestformen, wo völlig unterschiedliche Gruppierungen zusammenkommen, zum Teil rechtsnational, ja, manchmal rechtsradikale Gruppen verbinden sich, verbünden sich mit linken Kräften. Dieser Protest hat auch eine Form von Radikalisierung erreicht, ich glaube, das ist überhaupt nicht zielführend. Und es ist in der Tat so, dass vieles in Frankreich offensichtlich aus dem Ruder gelaufen ist.
Ich war vor 14 Tagen mit meinen französischen Kollegen zusammen, die haben mir ganz klar gesagt, es gibt keinerlei Möglichkeiten, dass die Gewerkschaften, weder die CGT, noch die CFDT, da direkt einen Griff dran bekommt. Das sind Formen von sozialem Protest, der sich da breitmacht. Man muss ihn ernst nehmen, weil viele Menschen sind einfach auch zutiefst enttäuscht, auch Menschen, die hohe Erwartungen an Macron hatten, Menschen wenden sich ab. Und Menschen haben ein feines Gespür dafür, ob es gerecht zugeht – und da passen viele Dinge in Frankreich nicht zusammen.
Die Unternehmenssteuerreform von Macron hat massive Entlastungen für die Unternehmen gebracht, gleichzeitig steigen die Abgaben, jetzt in der aktuellen Konfliktlage, auf Benzin und Diesel. Macron treibt eine Flexibilisierung des Arbeitsrechtes voran, die mit den Gewerkschaften nicht konsultiert ist. Hier werden strategische Fehler gemacht und ich kann da nur sagen, Macron sollte sich ein Beispiel nehmen, wie man auch über den sozialen Dialog, wie wir ihn in Deutschland pflegen, über Sozialpartnerschaft, die wir mit der BDA auch häufig eine Konfliktpartnerschaft haben, dass wir Gewerkschaften da nicht außen vor lassen.
Ansonsten können sich solche unkontrollierten, neuen, unbekannten Protestformen, die zum Teil getragen sind über die sozialen Medien, verbreiten. Und mit Verlaub, was meine französischen Kollegen mir sagen, ist, das Ganze ist risikoreich, weil man davon ausgehen muss, dass auch die radikale Rechte mit Le Pen und der Front National dieses versucht zu instrumentalisieren. Le Pen ist schon dabei, aber auch von links, Mélenchon versucht sich, dieser Bewegung anzunehmen. [Anm. der Redaktion: An dieser Stelle war die Telefonleitung unterbrochen]
Zurheide: Da müssen wir jetzt einen Punkt setzen. Das ist Reiner Hoffmann, der DGB-Chef, bei uns im "Deutschlandfunk". Herzlichen Dank für das Gespräch!
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