Aktivist Andi Carlan blickt auf die Displays der Handy-Kameras, lässt sich von seiner Moderatorin und ihrem Interviewpartner noch eine letzte Sprechprobe geben.
Noch zwei Minuten, dann beginnt "360 Grad", die Talkshow von "Rezistenta". Eine Aktivistengruppe, die sich gegen Korruption in Rumänien engagiert, mit Demonstrationen, Gesetzesinitiativen - und mit einem eigenen improvisierten TV-Programm im Netz.
"Wir haben diesen Internetsender gegründet, weil es hier kaum unabhängige Medien gibt. Wir haben bei den Antikorruptionsprotesten festgestellt, dass die etablierten Medien entweder gar nicht darüber berichten – oder manipulativ. Die sind dann um drei Uhr nachts gekommen, haben zwei, drei betrunkene oder aggressive Leute gezeigt und gesagt: Schaut, das sind die Demonstranten."
Mit drei Handykameras gefilmt, übertragen auf Facebook
Seitdem berichten Carlan und seine sieben Mitstreiter selbst live von den Protesten – und produzieren einmal die Woche eine Diskussionssendung, mit drei Handykameras und ein paar Laptops, in den Büros eines kleinen Startups. Ausgestrahlt live bei Facebook.
Gelernter Journalist ist keiner von ihnen, alle haben Fulltime-Jobs, viele eine Familie, trotzdem opfern sie viel Zeit für ihr Projekt.
"Wir hatten schon die Chefin der Antikorruptionsbehörde hier, sie hat sehr offen gesprochen, da hatten wir über 100.000 Zuschauer, auch die Chefs der Oppositionsparteien waren bei uns."
"Guten Abend, liebe Freunde, zu Rezistanta-TV heute Abend ist Vlad Mixih zu Gast ein Arzt, Gesundheitsexperte und Publizist..."
Diesmal schalten allerdings nur etwa 40 Leute die Liveübertragung ein.
Ein junger Arzt sitzt bei Moderatorin Adela Rapeanu vor der selbstgebastelten Studiowand. Sie sprechen über überteuerte Medikamente, gepanschte Desinfektionsmittel und die Schmiergelder, die viele Patienten den Ärzten und Krankenschwestern zustecken müssen, damit sie in rumänischen Krankenhäusern behandelt werden.
Seine Schwester starb nach dem Diskothekenbrand
Im Büroraum hinter dem selbstgebastelten Studio sitzt Adrian Albu. Seine vernarbten Hände bewegen sich über die Laptop-Tastatur: Wiedergeborene Hände. Erst vor kurzem haben sie gelernt, sich zu schließen, zu öffnen, eine Tasse zu halten oder auf der Tastatur zu tippen.
Lieber Anka, vielen Dank für deine Frage, ich reiche sie zu unserer Moderatorin weiter, schreibt Adrian einer Zuschauern. Und schickt den Facebook-Kommentar direkt weiter, auf das Handy der Moderatorin.
"Leute treffen, meine Geschichte teilen, hier mitarbeiten. Das hilft mir. Ein bisschen jedenfalls."
Der Informatiker engagiert sich bei Rezistenta, weil er wegen Korruption und Behördenversagen fast sein Leben verloren hätte. Adrian ist eines der Opfer der Brandkatastrophe im Club Colectiv.
"Ich träume nicht jede Nacht davon, aber oft. Manchmal Teile, manchmal alles."
Im Oktober 2015 brach bei einem Konzert in dem Bukarester Nachtclub ein Feuer aus. 64 Menschen starben – in dem Club selbst oder Tage und Monate später an ihren Verbrennungen, an Rauchvergiftungen, an Infektionen. Darunter Adrians kleine Schwester.
"Das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe, war in dem Club."
Das Colectiv war nie kontrolliert worden
Adrian krempelt den Ärmel seines rechten Arms hoch, eine dicke, schwülstige Narbe zieht sich vom Handgelenk bis zur Schulter hoch. Vor ein paar Wochen wurde er hier operiert. Zum sechsten Mal.
Das Colectiv hatte ein offizielles Genehmigungsverfahren durch Bestechung umgangen, war nie kontrolliert worden: kein Brandschutz, im Gegenteil. Die Pyrotechnik der Band steckte die leicht entflammbare Schallisolierung in Brand.
"Das Feuer ist dann auf die Decke übergesprungen – das dauerte nur 30 Sekunden."
Der Club war an diesem Abend völlig überfüllt, es gab nur einen Ausgang, mit einem Container als Vorraum. Eine tödliche Falle.
"Die Leute bekamen Panik und alle drängten in den Container. Und dann kam von hinten das Feuer und verbrannte alles und jeden. Ich habe meine Schwester vor mich geschoben, doch sie wurde überrannt, konnte nicht mehr weiter, und sie verbrannte von der Taille an aufwärts."
Fotos jenes Abends - da war es noch nicht passiert
Um halb zehn haben die Fernseh-Macher ihre Handys, Tablets und Laptops zusammengepackt, das Studio hat sich wieder in einen schlichten Büroraum verwandelt.
Wir gehen noch in einen Biergarten, ein paar Straßen weiter. Adrian holt sein Handy raus, scrollt durch die Bildergalerie, zeigt ein Foto von seinem Motorrad, mit dem er nun durch sein neues, zweites Leben braust.
Dann folgt in der Bildergalerie ein Foto von jenem verhängnisvollen Abend: Noch jubeln hunderte junge Menschen der Band zu, lachen, tanzen ausgelassen.
"Das bin ich, das ist mein Cousin, und das da - meine Schwester."
Adrian zeigt auf eine Säule in der Mitte des Clubs.
"Wenn man hier eine Linie zieht, links davon – von denen sind fast alle gestorben."
Adrian und seine Schwester haben es lebend aus dem Club geschafft. Wurden in verschiedene Krankenhäuser in Bukarest gebracht. Während er noch im Koma lag, starb sie – wegen einer Infektion.
Gestorben an der Profitgier des Krankenhauses?
Wäre sie in eine Spezialklinik ins Ausland geflogen worden, hätte sie vielleicht überlebt. Doch die Bukarester Krankenhäuser verweigerten die angebotene Hilfe. Sie wollten nicht auf die Fallpauschalen durch die staatliche Krankenversicherung verzichten, erzählt Adrian.
Das heißt, seine Schwester ist gestorben, weil andere Leute Geld machen wollten? Adrian antwortet: "Ja."
Adrian hat die Hoffnung verloren, dass sich an dieser Mentalität schnell etwas verändert.
"Man muss sein Leben weiterleben – oder man nimmt sich einen Strick und bringt sich um. Selbst wenn man bedenkt, dass die Leute, die dich in diese Situation gebracht haben, noch immer an der Macht sind."
Manchmal zieht Adrian seine Hände zurück, lässt sie unter die Tischplatte verschwinden, als wolle er sie verstecken. Holt die vernarbten Finger dann doch wieder hervor, legt sie neben sein Bier. Wie Belege, Zeugnisse des Geschehens.
"Geld ist die einzige Sprache, die sie verstehen"
Nein, er möchte sprechen. So einfach soll das Vergessen nicht sein.
Er und die anderen Opfer und Hinterbliebenen haben die Klinik und die Betreiber des Clubs verklagt, ein erstes Urteil erwartet er im Sommer.
"Wir hoffen, wir gewinnen. Wir haben sehr hohe Summen gefordert – denn Geld ist die einzige Sprache, die sie verstehen – die ihnen weh tut."