Ekrem İmamoğlu beim Bad in der Menge: Der Oberbürgermeister von Istanbul wird auch ein halbes Jahr nach seiner Wahl noch von begeisterten Bürgern umringt, wo immer er auftaucht. Kinder auf den Arm nehmen, für Gruppenbilder posieren und alten Leuten die Hand küssen - das beherrscht Ekrem İmamoğlu alles souverän, sehr zur Freude seiner Fans. Aber wie sieht es nach sechs Monaten mit seiner Leistung als Bürgermeister aus? Von der Redaktion der Lokalzeitung "Istanbul Telgraf" wird die Arbeit des Oberbürgermeisters aufmerksam beobachtet und diskutiert. Die neue Wochenzeitung ist von kritischen Journalisten gegründet worden, die ihre Arbeitsplätze bei den nationalen Medien verloren haben, seit diese von der Regierung gleichgeschaltet wurden. Nach monatelangen Vorbereitungen soll die erste Ausgabe im Januar erscheinen, sagt Chefredakteurin Şengün Kılıç:
"Die Wahl von İmamoğlu war die Initialzündung für unsere Zeitung. Ob man ihn nun mag oder nicht: Die Welle von Demokratiebegehren, die İmamoğlu ins Amt getragen hat, die hat uns zur Gründung dieser Zeitung inspiriert."
Imagepflege statt Reformen?
Hohe Erwartungen hatte die Redaktion deshalb an den neuen Oberbürgermeister, sagt Tuğrul Eryılmaz, ein Veteran vieler namhafter Medien und jetzt Berater der Chefredaktion von "Istanbul Telgraf":
"Wir haben uns alle für İmamoğlu engagiert: Sozialisten, Kurden, sogar Konservative, die von der AKP die Nase voll haben – alle haben für İmamoğlu gestimmt. Aber wenn wir jetzt reflektieren, auch wenn es dafür vielleicht noch etwas früh ist, dann bin ich etwas bestürzt. İmamoğlu ist vor allem mit seinem Image als Mann aus dem Volk beschäftigt und mit seiner Publicity."
Die Redakteure ziehen den Vergleich zu anderen Großstädten, in denen bei der Wahl im Frühjahr ebenfalls die Opposition ans Ruder kam. In Ankara etwa hat der neue Bürgermeister ein Netz von Fahrradwegen geschaffen, eine App für die öffentlichen Verkehrsmittel eingeführt, einen Park eröffnet und die städtische Verschuldung gesenkt. In Istanbul habe die neue Stadtverwaltung dagegen nicht viel mehr vorzuweisen als die Wiederaufnahme der unterbrochenen Bauarbeiten an zwei U-Bahn-Strecken, kritisieren die Redakteure. Ekrem İmamoğlu konzentriere sich nicht genug auf Istanbul, weil er den Blick bereits über die Stadt hinaus richte, meint Tuğrul Eryılmaz:
"Seine Partei hat jetzt schon angefangen, ihn zum Präsidenten aufzubauen. Dabei kennen wir diesen Herrn ja kaum ein Jahr. In Istanbul hat sich jedenfalls nicht viel geändert, außer dass wir jetzt einen beliebten Bürgermeister haben."
Kampf gegen Korruption
Nur in einem Punkt kann die Redaktion den neuen Oberbürgermeister uneingeschränkt loben, und das ist seine Offensive gegen Korruption und Vorteilsnahme in der Stadtverwaltung. So stoppte Ekrem İmamoğlu städtische Zahlungen von über 50 Millionen Euro, die unter seinen Vorgängern an regierungsnahe Stiftungen und Vereine flossen, und kündigte die Leasing-Verträge von mehr als tausend Dienstwagen, die er für überflüssig hielt - das spart der Stadt weitere acht Millionen im Jahr. Wenn es Ekrem İmamoğlu gelinge, sich gegen Vetternwirtschaft und Bestechlichkeit durchzusetzen, könne das entscheidend sein, sagt Tuğrul Eryılmaz:
"Das ist sehr wichtig, und wenn er das schafft, nehme ich alles zurück. Denn Istanbul wird bisher regiert wie von kriminellen Banden. Alles läuft über Bestechung. Wenn Ekrem İmamoğlu das in den Griff bekommt, dann wählen wir ihn wieder. Aber bisher kann ich seiner Leistung nur sechs von zehn Punkten geben."