Julius Schoeps, Professor für Neuere Geschichte und Direktor des Moses Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam. Schon zu Lebzeiten Herzls hatten die Zionisten heftig über Strategie, Inhalte und Ziele ihrer Bewegung gestritten. Und die Auseinandersetzung dauert bis heute an, 100 Jahre nach Herzls Tod. Es ist ein Streit zwischen Ideologen und Pragmatikern, religiösen und säkularen Juden, Linken und Rechten. Nicht zuletzt geht es darum, ob der Zionismus heute überhaupt noch eine Daseinsberechtigung hat. Professor Moshe Zimmermann, Historiker an der Hebräischen Universität Jerusalem:
Der Zionismus Theodor Herzls ist bereits tot. Was wir heute erleben, ist eine Art Postzionismus. Das heißt, es sind neue Inhalte unter einem alten Hut. Theodor Herzl beabsichtigte hier einen liberalen Nationalstaat zu gründen. Was sich im Moment Zionismus nennt, ist eher nicht liberal, nicht tolerant, sehr kämpferisch, sehr konflikt-orientiert. Die Vorreiter des Zionismus vor hundert Jahren etwa haben sich einen Staat vorgestellt ohne Kanonen und ohne Kanonenboote, das heißt ohne Krieg, ohne Waffen, eine Betonung der Kultur - von dem gibt es im heutigen Zionismus wenig.
Was also bedeutet Zionismus der israelischen Öffentlichkeit heute noch, 100 Jahre nach Herzls Tod? Dazu David Witzthum, ein populärer Fernsehjournalist und Moderator, der lange als Korrespondent in Deutschland gearbeitet hat:
Das ist eine sehr schwierige Frage, weil Zionismus zurzeit in Israel eigentlich keine große Bedeutung hat. Ich glaube, diese Idee von Herzl wird jetzt von einer Mehrheit der Israelis in Praxis betrachtet als eine Übergangsidee.
Einer der Vorwürfe von Kritikern außerhalb und auch innerhalb Israels lautet, der Zionismus sei von Anbeginn kolonialistisch und rassistisch gewesen, und dies habe sich bis heute nicht geändert. So einfach, sagt Moshe Zimmermann, ist es nicht:
Also man muss erst mal unterscheiden zwischen Zionismus damals und Zionismus heute, Zionismus auf dem rechten Flügel und Zionismus auf dem linken Flügel. Wenn man die Unterschiede beobachtet, dann ist jede Art von Pauschalisierung von vorne herein unwahr. Man kann aber sagen, dass es im heutigen Zionismus Strömungen gibt, die ethnozentrisch, sogar rassistisch sind, und die man deswegen kritisieren darf. Aber man muss sehr vorsichtig sein mit einem Pauschalurteil über den Zionismus gleich Rassismus, das ist selbstverständlich unfundiert.
Für ausgesprochen gefährlich hält Zimmermann jedoch die Bestrebungen der politischen Rechten in Israel, das Land als heilig zu betrachten, die Bibel, wie es oft heißt, als Grundbuch zu missbrauchen. Eine Auffassung, die dem Zionismus eines Theodor Herzl fremd gewesen sei:
Die Zionisten um Herzl haben keine allzu große Achtung gehabt für das Territorium als Heiligtum des jüdischen Nationalismus, das hat sich total gewandelt. Heute gibt es starke Kräfte im Zionismus, den ich Postzionismus nenne, die vor allem auf der Heiligkeit des Territoriums beharren und deswegen nicht bereit sind, auf die besetzen Gebiete zu verzichten.
Amnon Rubinstein ist Dekan der juristischen Fakultät einer renommierten Privatuniversität in Herzliyah, der Stadt, die nach Theodor Herzl benannt wurde. Er hat eine kenntnisreiche, auch ins Deutsche übersetzte Geschichte des Zionismus geschrieben, war als Abgeordneter der Knesset Vorsitzender der Ethik-Kommission und liberaler Minister in verschiedenen israelischen Kabinetten, zuletzt unter Jizchak Rabin. Er sieht weder im heutigen noch im historischen Zionismus kolonialistische oder gar rassistische Züge:
Israel ist keine rassistische Gesellschaft. Israel kämpft einen harten Kampf um sein Überleben, aber es ist nicht rassistisch. Zu behaupten, es sei ein Apartheidsregime, ist barer Unsinn, es ist einfach nicht wahr. Und es ist nicht kolonialistisch gewesen, denn die Juden sind nicht als Schößlinge von Kolonialmächten hierher gekommen, sie haben auch die hier ansässigen Araber nicht als billige Arbeitskräfte beschäftigt, was das Hauptmerkmal einer Kolonialmacht ist.
Mitte Juni fand in Wien ein Symposium aus Anlass des 100. Todestages von Theodor Herzl statt. Zur Eröffnung sagte der österreichische Präsident Thomas Klestil, das Vermächtnis Herzls gelte nicht nur einem staatlichen Territorium, sondern auch der Aussöhnung von Feinden und einer weltweiten sozialen Gerechtigkeit. Dieser humanitäre und soziale Aspekt des Herzl’schen Zionismus wird heute oft übersehen. - Theodor Herzl starb am 3. Juli 1904 im österreichischen Edlach am Semmering. Im August 1949, ein Jahr nach der Staatsgründung und rund 50 Jahre nach dem Ersten Baseler Zionistenkongress, wurde seine Leiche nach Israel überführt. Herzl war ein ziemlich erfolgloser Theaterautor, ein Caféhausbohemien. Er litt an Depressionen, war arbeitssüchtig und führte eine schlechte Ehe. Aber er war auch ein guter Journalist und vor allem ein charismatischer Visionär, dem es gelang, seine Visionen Wirklichkeit werden zu lassen.
Seine Persönlichkeit ist schwer zu beschreiben, sie ist schillernd. Er ist ein Sohn der Donaumonarchie, ein Kind seiner Zeit, die in sich schon sehr problematisch gewesen ist. Und im Grunde hat Herzl nur das wiedergegeben, was seine Zeit ausmachte. Er war Jude, er war Wiener, geboren in Budapest, er war ein assimilierter Jude, der die Idee hatte, es sei notwendig und möglich, die Judenfrage, wie das damals genannt wurde, zu lösen. Und dafür hat er mehrere Konzepte entwickelt. Zunächst einmal hatte er die Idee gehabt, alle Juden zu taufen und zwar im Stefansdom in Wien. Er selbst wollte vor den Toren des Stefansdoms stehen bleiben und sich nicht taufen lassen.
Diese Idee der völligen Assimilation, von der er glaubte, sie könne die Juden vor antisemitischer Anfeindung und Verfolgung schützen, machte Herzl 1892 öffentlich. Vier Jahre später, 1896, beobachtete er als Korrespondent für die Wiener Neue Freie Presse in Paris den ersten Prozess gegen den jüdischen Hauptmann Dreyfuss. Und erlebte, wie die aufgeputschte Menge vor dem Justizgebäude schrie "Tod dem Verräter! Tod den Juden". Das waren Schlüsselerlebnisse, die ihn erschütterten und nachhaltig verwandelten, die seine Illusionen, die Assimilation sei ein Heilmittel gegen den Antisemitismus, auf immer zerstörten:
Unter dem Eindruck dieses Prozesses und unter dem Eindruck der Degradierung des Hauptmann Dreyfuss, der angeklagt gewesen ist, für die Deutschen spioniert zu haben, unter dem Eindruck dieser antisemitisch aufgeladenen Atmosphäre ist er zum Zionisten geworden.
Seit 1882 hatten sich in Russland, als Reaktion auf zahlreiche blutige Pogrome, vielerorts Vereine der Chovevei Zion, der Freunde Zions gegründet: Sie sammelten Geld für die Auswanderung nach Erez Israel, ins Land Israel, das damals unter türkischer Herrschaft stehende Palästina. Herzl begeisterte sich für die Gedanken der Zionisten, er griff die Idee einer Heimstatt und Zuflucht für die verfolgten Juden auf und fasste sie 1896 in der Schrift Der Judenstaat zusammen. Herzl beschloss, einen Zionistischen Weltkongress einzuberufen: Im August 1897 sollte er in Basel stattfinden. Viele schlossen sich ihm begeistert an. Aber es gab auch heftigen Widerstand in der zionistischen Bewegung. Die Gegner empörten sich darüber, dass Herzl die so genannte "Judenfrage" öffentlich erörtern wollte. Damit, so die Kritiker, gäbe er den Antisemiten Recht, die Juden seien ein Volk und nicht nur eine Religionsgemeinschaft. Doch trotz aller Widerstände fand der Erste Zionistische Weltkongress statt. David Wolffsohn hatte die Flagge dafür entworfen, die 51 Jahre später die israelische Staatsflagge werden sollte. Am 3. September 1897, dem sechsten Tag nach Eröffnung des Kongresses, notierte Herzl in seinem Tagebuch:
Fasse ich den Baseler Congress in ein Wort zusammen – das ich mich hüten werde, öffentlich auszusprechen – so ist es dieses: in Basel habe ich den Judenstaat gegründet. Wenn ich das heute laut sagte, würde mir ein universelles Gelächter antworten. Vielleicht in fünf Jahren, jedenfalls in fünfzig wird es jeder einsehen.
Wenn man auf der Autobahn von Tel Aviv kommend nach Norden fährt und Herzliyah durchquert, kann man nicht umhin, den städtischen Wasserturm zu bemerken mit der riesigen Blechsilhouette des schwarz gekleideten, schwarzbärtigen Theodor Herzl darauf. Der israelische Journalist Tom Segev erzählt in seinem Buch "Elvis in Jerusalem" eine Anekdote über das Denkmal:
Einige Jahre nachdem die Skulptur aufgestellt worden war, musste sie repariert werden. Für die Dauer der Arbeiten hing am Wasserturm ein großes Schild, auf dem gut sichtbar der Name des Bauunternehmers stand: Mohammed Mahamid, ein israelischer Araber.
Das hätte Herzl sicher gefallen. Er war davon überzeugt, dass die Araber sich mit Freuden der neuen zionistischen Gesellschaft anschließen würden, erlöst von ihrem armseligen Fellachen-Dasein auf den vernachlässigten, malariaverseuchten Latifundien der türkischen Großgrundbesitzer. In seinem 1902 veröffentlichten utopischen Roman "Altneuland", den er in das Jahr 1923 projiziert hatte und dem er das berühmt gewordene Vorwort gab: "Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen", lässt er einen Araber sagen:
Würden Sie den als einen Räuber betrachten, der Ihnen nicht nimmt, sondern etwas bringt? Die Juden haben uns bereichert. Warum sollten wir ihnen zürnen? Sie leben mit uns wie Brüder. Warum sollten wir sie nicht lieben?
Dazu Julius Schoeps:
Die Araber, die er beschreibt, das ist nicht eine Bevölkerung, die er als nationale Ethnie ansieht, sondern Fellachen, die dort leben, und froh und glücklich sind, dass die Juden ins Land kommen. Um die Jahrhundertwende, um 1900, glaubte man tatsächlich noch, man bringe die Kultur aus Europa in den Nahen Osten. Wie sich dann zeigen sollte, war das ein falsches Denken gewesen, und hat zu heftigen Problemen geführt.
Lange haben die zionistische Geschichtsschreibung und die israelische Öffentlichkeit die Meinung vertreten, die Araber jener Gebiete, die den Juden 1947 von der UNO zugeschrieben worden waren, hätten nach der Staatsgründung im Mai 1948 ihre Städte und Dörfer freiwillig verlassen. Sie hätten den benachbarten arabischen Staaten vertraut, die Israel unmittelbar nach der Staatsgründung angriffen und ihnen einen baldigen Sieg über Israel und die Rückkehr in ihre Heimat versprachen. 1987 aber veröffentlichte der israelische Historiker Benny Morris das Buch "Die Geburt des Palästinensischen Flüchtlingsproblems", in dem er Zeugenaussagen von Arabern gesammelt hat, die von Mord, Vergewaltigung und Vertreibung berichten. Morris wurde durch die Veröffentlichung dieses Buches zum Wortführer der so genannten Neuen Historiker: Sie sprechen von der "Erbsünde" des Zionismus und haben sich zum Ziel gesetzt, den zionistischen Mythos, wie sie es nennen, zu zerstören. Benny Morris hat im Januar 2004 allerdings eine radikale Kehrtwendung vollzogen und seine Anhänger damit schockiert. In einem Interview, das er der liberalen israelischen Zeitung Ha’aretz gegeben hat, sagte er, er sei immer Zionist gewesen:
Der Zionismus war kein Fehler. Das Bedürfnis, einen Jüdischen Staat zu errichten, war legitim, war positiv. Ohne eine Vertreibung der Palästinenser hätte es hier keinen jüdischen Staat geben können. Ich bin nicht der Meinung, dass die Vertreibung von 1948 ein Kriegsverbrechen war, eine Gesellschaft die darauf aus ist, dich zu vernichten, zwingt dich dazu, sie zu vernichten. Wenn man nur die Wahl hat, zu vernichten oder selbst vernichtet zu werden, dann ist es besser, zu vernichten.
Einige Kritiker sprechen dem israelischen Staat rundweg die Daseinsberechtigung ab. Immer wieder werden Stimmen laut, ein Zufluchtsort für die Juden sei nicht mehr nötig, weil es keinen Antisemitismus und keine Verfolgung mehr gäbe, die Idee des Nationalstaates sei ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert.
Ich kann die Auffassung von Historikern verstehen, wenn sie sagen, der Nationalstaat hat sehr viel Unheil angerichtet, wir wollen deshalb keinen weiteren Nationalstaat in Betracht ziehen. Dieselben Historiker unterstützen die Idee eines arabisch-muslimischen Staates, und sind gleichzeitig gegen einen jüdischen Staat. Das ist inkonsequent. Nur den Juden das Recht auf Selbstbestimmung abzusprechen, hat nichts mit Gleichberechtigung zu tun. Das ist Rassismus.
Theodor Herzl hatte anfangs nicht an einen Nationalstaat gedacht, sondern eher an ein geschütztes Territorium, ein Protektorat. Die Idee, dieses Territorium in Uganda anzusiedeln, gab er schon bald auf und konzentrierte sich auf das historische Heimatland der Juden, auf das damals unter türkischer Herrschaft stehende Palästina. Dort sollte Land gekauft, Siedlungen sollten gegründet werden. Herzls Idee war ein Refugium vor Verfolgung und Diskriminierung, eine Heimstätte aller Juden, die auf sozialer Gerechtigkeit und Humanität beruhen sollte. Er versuchte sogar, Kaiser Wilhelm II für seine Idee zu gewinnen.
Der Kaiser sollte beim türkischen Sultan ein gutes Wort für ihn einlegen. Doch daraus wurde nichts. Bis zur Staatsgründung 1948, die durch den Teilungsbeschluss der UNO ermöglicht worden war, gab es über das Land verstreute jüdische Ansiedlungen, vor allem Kibbuzim und Moschavim, aber eben kein Protektorat auf osmanischem Boden und später im britischen Mandatsgebiet, kein zusammenhängendes Territorium. Herzl und die Zionisten, das betont Professor Rubinstein, wollten eine Heimat für die Juden schaffen, aber keinen neuen Tempel und keine neuen Gesetzestafeln. Sie wollten sich als gute Nachbarn in die Familie der Nationen einreihen.
Die Hauptströmung im Zionismus, zu der Herzl gehörte, Max Nordau, Weizmann, Jabotinsky, Ben Gurion, all die alten Gründerväter, war ein säkulares Judentum, kein religiöses. Das war die Hauptsache. Und zweitens erstrebte Herzl internationale Legitimität für das jüdische Heimatland.
Die fortdauernde Besetzung des palästinensischen Territoriums hält Rubinstein deshalb für unvereinbar mit dem Geist des Zionismus.
Herzl wollte ein Heimatland für die Juden, er war ein säkularer liberaler Europäer, und ich denke, die Mehrheit der Israelis denkt so wie er. Sie wollen eine tolerante Heimat, sie wollen nicht in einem heiligen Land leben. Und das ist der Unterschied zwischen der religiösen Rechten und der Mehrheit der Israelis. Die meisten Israelis wollen ihr Judentum nicht aufgeben, sie sind stolz auf ihre Sprache, ihre Traditionen, sie wollen die jüdischen Feiertage nicht aufgeben, Jom Kippur und Pessach, aber sie wollen kein fanatischer religiöser Stamm sein. Sie wollen sich anderen Gesellschaften, anderen Menschen öffnen, sie wollen in einer demokratischen, toleranten Gesellschaft leben. Aber wir müssen wohl noch weitere hundert Jahre warten, bis wir wissen, ob das möglich ist.
Der Zionismus Theodor Herzls ist bereits tot. Was wir heute erleben, ist eine Art Postzionismus. Das heißt, es sind neue Inhalte unter einem alten Hut. Theodor Herzl beabsichtigte hier einen liberalen Nationalstaat zu gründen. Was sich im Moment Zionismus nennt, ist eher nicht liberal, nicht tolerant, sehr kämpferisch, sehr konflikt-orientiert. Die Vorreiter des Zionismus vor hundert Jahren etwa haben sich einen Staat vorgestellt ohne Kanonen und ohne Kanonenboote, das heißt ohne Krieg, ohne Waffen, eine Betonung der Kultur - von dem gibt es im heutigen Zionismus wenig.
Was also bedeutet Zionismus der israelischen Öffentlichkeit heute noch, 100 Jahre nach Herzls Tod? Dazu David Witzthum, ein populärer Fernsehjournalist und Moderator, der lange als Korrespondent in Deutschland gearbeitet hat:
Das ist eine sehr schwierige Frage, weil Zionismus zurzeit in Israel eigentlich keine große Bedeutung hat. Ich glaube, diese Idee von Herzl wird jetzt von einer Mehrheit der Israelis in Praxis betrachtet als eine Übergangsidee.
Einer der Vorwürfe von Kritikern außerhalb und auch innerhalb Israels lautet, der Zionismus sei von Anbeginn kolonialistisch und rassistisch gewesen, und dies habe sich bis heute nicht geändert. So einfach, sagt Moshe Zimmermann, ist es nicht:
Also man muss erst mal unterscheiden zwischen Zionismus damals und Zionismus heute, Zionismus auf dem rechten Flügel und Zionismus auf dem linken Flügel. Wenn man die Unterschiede beobachtet, dann ist jede Art von Pauschalisierung von vorne herein unwahr. Man kann aber sagen, dass es im heutigen Zionismus Strömungen gibt, die ethnozentrisch, sogar rassistisch sind, und die man deswegen kritisieren darf. Aber man muss sehr vorsichtig sein mit einem Pauschalurteil über den Zionismus gleich Rassismus, das ist selbstverständlich unfundiert.
Für ausgesprochen gefährlich hält Zimmermann jedoch die Bestrebungen der politischen Rechten in Israel, das Land als heilig zu betrachten, die Bibel, wie es oft heißt, als Grundbuch zu missbrauchen. Eine Auffassung, die dem Zionismus eines Theodor Herzl fremd gewesen sei:
Die Zionisten um Herzl haben keine allzu große Achtung gehabt für das Territorium als Heiligtum des jüdischen Nationalismus, das hat sich total gewandelt. Heute gibt es starke Kräfte im Zionismus, den ich Postzionismus nenne, die vor allem auf der Heiligkeit des Territoriums beharren und deswegen nicht bereit sind, auf die besetzen Gebiete zu verzichten.
Amnon Rubinstein ist Dekan der juristischen Fakultät einer renommierten Privatuniversität in Herzliyah, der Stadt, die nach Theodor Herzl benannt wurde. Er hat eine kenntnisreiche, auch ins Deutsche übersetzte Geschichte des Zionismus geschrieben, war als Abgeordneter der Knesset Vorsitzender der Ethik-Kommission und liberaler Minister in verschiedenen israelischen Kabinetten, zuletzt unter Jizchak Rabin. Er sieht weder im heutigen noch im historischen Zionismus kolonialistische oder gar rassistische Züge:
Israel ist keine rassistische Gesellschaft. Israel kämpft einen harten Kampf um sein Überleben, aber es ist nicht rassistisch. Zu behaupten, es sei ein Apartheidsregime, ist barer Unsinn, es ist einfach nicht wahr. Und es ist nicht kolonialistisch gewesen, denn die Juden sind nicht als Schößlinge von Kolonialmächten hierher gekommen, sie haben auch die hier ansässigen Araber nicht als billige Arbeitskräfte beschäftigt, was das Hauptmerkmal einer Kolonialmacht ist.
Mitte Juni fand in Wien ein Symposium aus Anlass des 100. Todestages von Theodor Herzl statt. Zur Eröffnung sagte der österreichische Präsident Thomas Klestil, das Vermächtnis Herzls gelte nicht nur einem staatlichen Territorium, sondern auch der Aussöhnung von Feinden und einer weltweiten sozialen Gerechtigkeit. Dieser humanitäre und soziale Aspekt des Herzl’schen Zionismus wird heute oft übersehen. - Theodor Herzl starb am 3. Juli 1904 im österreichischen Edlach am Semmering. Im August 1949, ein Jahr nach der Staatsgründung und rund 50 Jahre nach dem Ersten Baseler Zionistenkongress, wurde seine Leiche nach Israel überführt. Herzl war ein ziemlich erfolgloser Theaterautor, ein Caféhausbohemien. Er litt an Depressionen, war arbeitssüchtig und führte eine schlechte Ehe. Aber er war auch ein guter Journalist und vor allem ein charismatischer Visionär, dem es gelang, seine Visionen Wirklichkeit werden zu lassen.
Seine Persönlichkeit ist schwer zu beschreiben, sie ist schillernd. Er ist ein Sohn der Donaumonarchie, ein Kind seiner Zeit, die in sich schon sehr problematisch gewesen ist. Und im Grunde hat Herzl nur das wiedergegeben, was seine Zeit ausmachte. Er war Jude, er war Wiener, geboren in Budapest, er war ein assimilierter Jude, der die Idee hatte, es sei notwendig und möglich, die Judenfrage, wie das damals genannt wurde, zu lösen. Und dafür hat er mehrere Konzepte entwickelt. Zunächst einmal hatte er die Idee gehabt, alle Juden zu taufen und zwar im Stefansdom in Wien. Er selbst wollte vor den Toren des Stefansdoms stehen bleiben und sich nicht taufen lassen.
Diese Idee der völligen Assimilation, von der er glaubte, sie könne die Juden vor antisemitischer Anfeindung und Verfolgung schützen, machte Herzl 1892 öffentlich. Vier Jahre später, 1896, beobachtete er als Korrespondent für die Wiener Neue Freie Presse in Paris den ersten Prozess gegen den jüdischen Hauptmann Dreyfuss. Und erlebte, wie die aufgeputschte Menge vor dem Justizgebäude schrie "Tod dem Verräter! Tod den Juden". Das waren Schlüsselerlebnisse, die ihn erschütterten und nachhaltig verwandelten, die seine Illusionen, die Assimilation sei ein Heilmittel gegen den Antisemitismus, auf immer zerstörten:
Unter dem Eindruck dieses Prozesses und unter dem Eindruck der Degradierung des Hauptmann Dreyfuss, der angeklagt gewesen ist, für die Deutschen spioniert zu haben, unter dem Eindruck dieser antisemitisch aufgeladenen Atmosphäre ist er zum Zionisten geworden.
Seit 1882 hatten sich in Russland, als Reaktion auf zahlreiche blutige Pogrome, vielerorts Vereine der Chovevei Zion, der Freunde Zions gegründet: Sie sammelten Geld für die Auswanderung nach Erez Israel, ins Land Israel, das damals unter türkischer Herrschaft stehende Palästina. Herzl begeisterte sich für die Gedanken der Zionisten, er griff die Idee einer Heimstatt und Zuflucht für die verfolgten Juden auf und fasste sie 1896 in der Schrift Der Judenstaat zusammen. Herzl beschloss, einen Zionistischen Weltkongress einzuberufen: Im August 1897 sollte er in Basel stattfinden. Viele schlossen sich ihm begeistert an. Aber es gab auch heftigen Widerstand in der zionistischen Bewegung. Die Gegner empörten sich darüber, dass Herzl die so genannte "Judenfrage" öffentlich erörtern wollte. Damit, so die Kritiker, gäbe er den Antisemiten Recht, die Juden seien ein Volk und nicht nur eine Religionsgemeinschaft. Doch trotz aller Widerstände fand der Erste Zionistische Weltkongress statt. David Wolffsohn hatte die Flagge dafür entworfen, die 51 Jahre später die israelische Staatsflagge werden sollte. Am 3. September 1897, dem sechsten Tag nach Eröffnung des Kongresses, notierte Herzl in seinem Tagebuch:
Fasse ich den Baseler Congress in ein Wort zusammen – das ich mich hüten werde, öffentlich auszusprechen – so ist es dieses: in Basel habe ich den Judenstaat gegründet. Wenn ich das heute laut sagte, würde mir ein universelles Gelächter antworten. Vielleicht in fünf Jahren, jedenfalls in fünfzig wird es jeder einsehen.
Wenn man auf der Autobahn von Tel Aviv kommend nach Norden fährt und Herzliyah durchquert, kann man nicht umhin, den städtischen Wasserturm zu bemerken mit der riesigen Blechsilhouette des schwarz gekleideten, schwarzbärtigen Theodor Herzl darauf. Der israelische Journalist Tom Segev erzählt in seinem Buch "Elvis in Jerusalem" eine Anekdote über das Denkmal:
Einige Jahre nachdem die Skulptur aufgestellt worden war, musste sie repariert werden. Für die Dauer der Arbeiten hing am Wasserturm ein großes Schild, auf dem gut sichtbar der Name des Bauunternehmers stand: Mohammed Mahamid, ein israelischer Araber.
Das hätte Herzl sicher gefallen. Er war davon überzeugt, dass die Araber sich mit Freuden der neuen zionistischen Gesellschaft anschließen würden, erlöst von ihrem armseligen Fellachen-Dasein auf den vernachlässigten, malariaverseuchten Latifundien der türkischen Großgrundbesitzer. In seinem 1902 veröffentlichten utopischen Roman "Altneuland", den er in das Jahr 1923 projiziert hatte und dem er das berühmt gewordene Vorwort gab: "Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen", lässt er einen Araber sagen:
Würden Sie den als einen Räuber betrachten, der Ihnen nicht nimmt, sondern etwas bringt? Die Juden haben uns bereichert. Warum sollten wir ihnen zürnen? Sie leben mit uns wie Brüder. Warum sollten wir sie nicht lieben?
Dazu Julius Schoeps:
Die Araber, die er beschreibt, das ist nicht eine Bevölkerung, die er als nationale Ethnie ansieht, sondern Fellachen, die dort leben, und froh und glücklich sind, dass die Juden ins Land kommen. Um die Jahrhundertwende, um 1900, glaubte man tatsächlich noch, man bringe die Kultur aus Europa in den Nahen Osten. Wie sich dann zeigen sollte, war das ein falsches Denken gewesen, und hat zu heftigen Problemen geführt.
Lange haben die zionistische Geschichtsschreibung und die israelische Öffentlichkeit die Meinung vertreten, die Araber jener Gebiete, die den Juden 1947 von der UNO zugeschrieben worden waren, hätten nach der Staatsgründung im Mai 1948 ihre Städte und Dörfer freiwillig verlassen. Sie hätten den benachbarten arabischen Staaten vertraut, die Israel unmittelbar nach der Staatsgründung angriffen und ihnen einen baldigen Sieg über Israel und die Rückkehr in ihre Heimat versprachen. 1987 aber veröffentlichte der israelische Historiker Benny Morris das Buch "Die Geburt des Palästinensischen Flüchtlingsproblems", in dem er Zeugenaussagen von Arabern gesammelt hat, die von Mord, Vergewaltigung und Vertreibung berichten. Morris wurde durch die Veröffentlichung dieses Buches zum Wortführer der so genannten Neuen Historiker: Sie sprechen von der "Erbsünde" des Zionismus und haben sich zum Ziel gesetzt, den zionistischen Mythos, wie sie es nennen, zu zerstören. Benny Morris hat im Januar 2004 allerdings eine radikale Kehrtwendung vollzogen und seine Anhänger damit schockiert. In einem Interview, das er der liberalen israelischen Zeitung Ha’aretz gegeben hat, sagte er, er sei immer Zionist gewesen:
Der Zionismus war kein Fehler. Das Bedürfnis, einen Jüdischen Staat zu errichten, war legitim, war positiv. Ohne eine Vertreibung der Palästinenser hätte es hier keinen jüdischen Staat geben können. Ich bin nicht der Meinung, dass die Vertreibung von 1948 ein Kriegsverbrechen war, eine Gesellschaft die darauf aus ist, dich zu vernichten, zwingt dich dazu, sie zu vernichten. Wenn man nur die Wahl hat, zu vernichten oder selbst vernichtet zu werden, dann ist es besser, zu vernichten.
Einige Kritiker sprechen dem israelischen Staat rundweg die Daseinsberechtigung ab. Immer wieder werden Stimmen laut, ein Zufluchtsort für die Juden sei nicht mehr nötig, weil es keinen Antisemitismus und keine Verfolgung mehr gäbe, die Idee des Nationalstaates sei ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert.
Ich kann die Auffassung von Historikern verstehen, wenn sie sagen, der Nationalstaat hat sehr viel Unheil angerichtet, wir wollen deshalb keinen weiteren Nationalstaat in Betracht ziehen. Dieselben Historiker unterstützen die Idee eines arabisch-muslimischen Staates, und sind gleichzeitig gegen einen jüdischen Staat. Das ist inkonsequent. Nur den Juden das Recht auf Selbstbestimmung abzusprechen, hat nichts mit Gleichberechtigung zu tun. Das ist Rassismus.
Theodor Herzl hatte anfangs nicht an einen Nationalstaat gedacht, sondern eher an ein geschütztes Territorium, ein Protektorat. Die Idee, dieses Territorium in Uganda anzusiedeln, gab er schon bald auf und konzentrierte sich auf das historische Heimatland der Juden, auf das damals unter türkischer Herrschaft stehende Palästina. Dort sollte Land gekauft, Siedlungen sollten gegründet werden. Herzls Idee war ein Refugium vor Verfolgung und Diskriminierung, eine Heimstätte aller Juden, die auf sozialer Gerechtigkeit und Humanität beruhen sollte. Er versuchte sogar, Kaiser Wilhelm II für seine Idee zu gewinnen.
Der Kaiser sollte beim türkischen Sultan ein gutes Wort für ihn einlegen. Doch daraus wurde nichts. Bis zur Staatsgründung 1948, die durch den Teilungsbeschluss der UNO ermöglicht worden war, gab es über das Land verstreute jüdische Ansiedlungen, vor allem Kibbuzim und Moschavim, aber eben kein Protektorat auf osmanischem Boden und später im britischen Mandatsgebiet, kein zusammenhängendes Territorium. Herzl und die Zionisten, das betont Professor Rubinstein, wollten eine Heimat für die Juden schaffen, aber keinen neuen Tempel und keine neuen Gesetzestafeln. Sie wollten sich als gute Nachbarn in die Familie der Nationen einreihen.
Die Hauptströmung im Zionismus, zu der Herzl gehörte, Max Nordau, Weizmann, Jabotinsky, Ben Gurion, all die alten Gründerväter, war ein säkulares Judentum, kein religiöses. Das war die Hauptsache. Und zweitens erstrebte Herzl internationale Legitimität für das jüdische Heimatland.
Die fortdauernde Besetzung des palästinensischen Territoriums hält Rubinstein deshalb für unvereinbar mit dem Geist des Zionismus.
Herzl wollte ein Heimatland für die Juden, er war ein säkularer liberaler Europäer, und ich denke, die Mehrheit der Israelis denkt so wie er. Sie wollen eine tolerante Heimat, sie wollen nicht in einem heiligen Land leben. Und das ist der Unterschied zwischen der religiösen Rechten und der Mehrheit der Israelis. Die meisten Israelis wollen ihr Judentum nicht aufgeben, sie sind stolz auf ihre Sprache, ihre Traditionen, sie wollen die jüdischen Feiertage nicht aufgeben, Jom Kippur und Pessach, aber sie wollen kein fanatischer religiöser Stamm sein. Sie wollen sich anderen Gesellschaften, anderen Menschen öffnen, sie wollen in einer demokratischen, toleranten Gesellschaft leben. Aber wir müssen wohl noch weitere hundert Jahre warten, bis wir wissen, ob das möglich ist.