Sandra Pfister: Jeder vierte Lehrling bricht die Ausbildung ab, so viele, wie seit Anfang der 90er-Jahre nicht mehr – so steht es im Berufsbildungsbericht. Der ist allerdings noch nicht offiziell, aber die "Süddeutsche Zeitung" hat schon den Entwurf gesehen. Warum werfen so viele das Handtuch? Wir reden darüber mit Matthias Anbuhl, er ist beim Deutschen Gewerkschaftsbund zuständig für alle Bildungsfragen. Guten Tag, Herr Anbuhl!
Matthias Anbuhl: Guten Tag, Frau Pfister!
Pfister: Herr Anbuhl, warum, glauben Sie, brechen so viele Lehrlinge ihre Lehre ab?
Anbuhl: Nun, wenn man sich einmal die Vertragslösungszahlen, also die Abbruchzahlen, anguckt, dann muss man feststellen, wir haben Berufe, wie Fluggerätemechaniker oder auch Verwaltungsfachangestellte, wo kaum Jugendliche ihre Ausbildung abbrechen. Wir haben aber auch einige Berufe, seit Jahren schon, die konstant hohe Abbruchquoten haben. Das heißt, da bricht fast jeder zweite Jugendliche, teilweise sogar mehr, als jeder zweite Jugendliche, seine Ausbildung ab. Da gibt es auch eine Abstimmung mit den Füßen. Entscheidend ist die Frage, bilden Betriebe aus, weil sie Jugendliche als billige Arbeitskräfte sehen, oder bilden sie aus, weil sie in den folgenden Fachkräftenachwuchs investieren wollen? Und dort, wo sie die Jugendlichen als billige Arbeitskräfte sehen, dort haben wir eben diese hohen Abbrecherquoten.
Pfister: Aber diese Schere, dass bestimmte Ausbildungsberufe schlecht vergütet werden und andere, in der Regel kaufmännische Berufe, gut vergütet werden, die gibt es ja schon seit Jahren. Warum spitzt sich das jetzt so zu?
Anbuhl: Also wir haben in der Tat diese Schere schon seit Jahren. Jetzt haben natürlich auch die Jugendlichen eine Möglichkeit zu sagen, also wenn wir so schlecht ausgebildet werden, auf dem Arbeitsmarkt, wir haben eher Chancen andere Berufe zu ergreifen, dann sage ich nach drei, vier, fünf Monaten, also es reicht mir. Zu diesen Konditionen möchte ich nicht ausgebildet werden. Das Geld reicht für mich nicht zum Leben. Die Ausbildungsqualität ist schlecht. Ich suche mir einen anderen Ausbildungsplatz. Da hat sich der Markt etwas entspannt, und die Jugendlichen haben jetzt die Souveränität zu sagen, wir können uns auch einen anderen Ausbildungsberuf wählen.
"Das Geld ist ein wichtiger Punkt"
Pfister: Da sprechen Sie was sehr Wichtiges an. Weil dieser Begriff "Abbruch", der verschleiert ja ein kleines bisschen, dass nicht jeder, der seine Ausbildung bei einem Unternehmen abbricht, die Flinte komplett ins Korn wirft. Denn viele machen danach ihren Abschluss einfach in einem anderen Unternehmen. Das würde gegen Ihre These sprechen, dass es nur am Geld liegt.
Anbuhl: Das Geld ist ein wichtiger Punkt, weil wir anhand der Ausbildungsvergütung sehen: Investieren wirklich die Unternehmen in Ausbildung? Und das zieht dann andere Punkte nach sich: Habe ich eine gute Ausbildungsqualität? Ist der Beruf attraktiv? Habe ich gute Übernahme-Chancen nachher? Das heißt, das ist immer ein Mix aus unterschiedlichen Punkten. Das heißt, wir sagen, die Ausbildungsvergütung ist ein wichtiger, aber nicht der einzige Indikator. Und wir haben Jahr für Jahr ungefähr 140.000 Jugendliche, die am Ende auch ohne Ausbildungsabschluss bleiben, und das ist problematisch.
"Wir brauchen eine vernünftige Begleitung in diesen Berufen"
Pfister: Sie machen es an den Unternehmen fest. Sie sagen – das sagen auch viele Jugendliche –, die kümmern sich nicht genug um uns, die machen die Ausbildung nicht attraktiv genug. Das ist ja auch seit Jahren so, dass Angebot und Nachfrage nicht zusammenpassen. Ganz viele wollen Arzthelferin werden oder eine kaufmännische Lehre machen, und Koch oder Fliesenleger oder Maler und Lackierer wollen einfach nicht mehr viele werden.
Müssen nicht gerade die Schüler, die für diese Jobs dann in Frage kommen, noch ein bisschen stärker an die Hand genommen werden?
Anbuhl: In der Tat setzen wir uns schon lange dafür ein, dass wir sagen, wir brauchen eine vernünftige Begleitung in diesen Berufen. Deswegen haben sich zum Beispiel die Gewerkschaften sehr stark dafür eingesetzt, dass die assistierte Ausbildung eingeführt wird, die einerseits auf den Betrieb guckt, die schauen aber auch auf den Jugendlichen und gucken, wann braucht der Nachhilfe – im Lesen, in der Rechtschreibung, in Mathematik – und helfen dann dort. Und das ist ein weiterer wichtiger Punkt, den wir brauchen, um Ausbildungsabbrüche zu verhindern.
Pfister: Die Arbeitgeber sagen aber auch, viele Lehrlinge kommen zu spät, es mangelt ihnen an Fleiß, an Pünktlichkeit, oder sie können sich nicht unterordnen. Was sagen Sie dazu?
Anbuhl: Auch da kann man schon mal feststellen, insgesamt ist es ja so, dass dort, wo die Ausbildungsbedingungen besser sind, einfach die Vertragslösungsquoten extrem niedriger sind. Wenn ich Vertragslösungsquoten von fünf, sechs, sieben Prozent habe, in einigen Berufen, dann ist das eigentlich kein Problem. Weder für die Betriebe, noch für die Jugendlichen. Wir haben dieses Problem nur in einigen Bereichen, in einigen Branchen, und in der Tat ist es wichtig, dass die Betriebe diese Jugendlichen dann eng begleiten, dass sie da auch bei Unterstützung bekommen. Das ist sicherlich wichtig, aber das werden Sie nicht schaffen, indem Sie die Jugendlichen als billige Arbeitskräfte einsetzen. Aber in der Tat muss man diese Jugendlichen auch stärker begleiten dann.
"Die Jugendlichen können einen anständigen Umgangston erwarten"
Pfister: Die Azubis selbst, die sagen ja, ihnen ist die Ausbildungsqualität nicht gut genug, sie streiten sich oft mit ihren Chef, die Arbeitsbedingungen seien nicht gut, oder sie haben sich den Beruf ganz anders vorgestellt – das sind ihre Gründe oft, für den Abbruch. Sind viele Azubis da nicht ein bisschen zu anspruchsvoll?
Anbuhl: Ich glaube nicht, dass die Azubis zu anspruchsvoll sind, sondern die Azubis haben ein feines Gespür dafür, zu sehen, ist die Ausbildung wirklich gut, oder ist sie schlecht? Und 70 bis 75 Prozent sagen, ich bekomme eine gute Ausbildung, ich bin zufrieden damit, ich werde hier vernünftig ausgebildet, und ich kann mir vorstellen auch im Betrieb zu bleiben.
Das heißt, bei dreiviertel oder 70 bis 75 Prozent der Ausbildungen läuft es eigentlich gut, aber wir haben eben konstant diese 25 Prozent, die sagen, bei uns ist es zu schlecht. Und die sprechen konkrete Punkte an, die sagen, Verstöße gegen das Jugendarbeitsschutzgesetz, mein Ausbildungsplan wird gar nicht eingehalten, ich bekomme hier alles gar nicht vermittelt, was ich für die Prüfung am Ende brauche, es gibt einen rüden Umgangston, mit mir wird rumgeschrien und Ähnliches. Und das, finde ich, ist nicht zu anspruchsvoll, sondern die Jugendlichen können schon einen anständigen Umgangston erwarten, und sie können auch erwarten, dass sie alles das lernen, was sie nachher für die Prüfung auch brauchen. Und insofern würde ich nicht sagen, dass die Jugendlichen zu anspruchsvoll sind.
Pfister: An welcher Stelle müssen Sie sich – als DGB – wohl selbst an die eigene Nase packen? Sie sind selbst – als DGB – sehr spät in den Ausbildungspakt eingestiegen. Inwiefern tragen Sie eine Mitschuld daran, dass das nicht rundläuft?
Anbuhl: Wir sind als DGB, sage ich mal, 2014 in die Ausbildungsallianz eingestiegen. Wir haben aber damals gesagt, ein Ausbildungspakt ist für uns eigentlich kein Selbstzweck, sondern wir steigen nur dann ein, wenn wir auch wirklich was erreichen können.
Bevor wir eingestiegen sind – 2014 – war dort das Thema Qualität der Ausbildung nie ein Thema. Das haben wir erst eingebracht in die Ausbildungsallianz. Man kann zum Beispiel sehen, dass dort, wo es Jugend- und Auszubildendenvertretung, Betriebsräte gibt, also, wo Gewerkschaften in den Betrieben erlebbar sind, die Vertragslösungsquoten extrem, signifikant niedriger sind, als in anderen Betrieben. Also wir machen einiges, und wir haben das Thema Qualität in der Allianz für Aus- und Weiterbildung eigentlich erst wirklich auf die Tagesordnung gesetzt.
Pfister: Matthias Anbuhl war das. Er leitet beim Deutschen Gewerkschaftsbund die Bildungspolitik. Er hat uns Auskunft dazu gegeben, warum so viele Auszubildende ihre Lehre vorzeitig abbrechen. Danke Ihnen, Herr Anbuhl!
Anbuhl: Danke, Frau Pfister!
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