Rund ein Drittel weniger Verkehr ist nach Angaben des baden-württembergischen Verkehrsministeriums zurzeit auf Stuttgarts Straßen unterwegs. Weniger Verkehr - bessere Luftqualität im Talkessel, das wäre anzunehmen. Doch die Stickoxidwerte etwa an der Messstelle Neckartor sind im März leicht gestiegen. Bei der Analyse frei zugänglicher Messdaten hat Diplom-Ingenieur Martin Schraag auch erklärungsbedürftige Werte in einigen Nächten bemerkt:
"Also, ich habe mir jetzt die Daten über Ostern angeschaut. Ostern hat den Vorteil, dass noch weniger Verkehr ist. Da sieht man im Hintergrund, dass die Werte auch über Nacht über 50 Mikrogramm pro Kubikmeter ansteigen."
Hohe Werte auch in autofreien Innenstadtbereichen
Gemeint sind die Stickoxidwerte. NO2-Spitzen gibt es laut Schraag nicht nur an den Verkehrsmessstellen, sondern auch im sogenannten Hintergrund, beispielweise in autofreien Innenstadtbereichen. Schraag folgert daraus: Die von der Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg genannte Zahl, wonach 80 Prozent des Straßenverkehrs für die NO2 Belastung in Stuttgart verantwortlich ist, sei falsch:
"Jetzt ist der Verkehr nicht da, und jetzt sieht man eben, dass er teilweise weniger Einfluss hat, als gedacht.
Schraags These: "Also, ich interpretiere die Daten im Moment so, dass wir durch Heizungsanlagen relativ viel N02 hatten, gerade in der Nacht."
Eine wichtige Rolle spiele außerdem der Wind. Windströme aus südlicher Richtung könnten nicht nur am Stuttgarter Neckartor die Stickoxidwerte vor allem in der Nacht nach oben klettern lassen.
Aufklärung von Umweltbehörden gefordert
Auch in anderen Städten mit Fahrverboten würden teilweise gestiegene NO2-Werte gemeldet. Das sagt der aus Baden-Württemberg stammende CDU-Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium, Steffen Bilger, und erwartet von den zuständigen Umweltbehörden Aufklärung:
"Es fällt schon auf, dass in allen Städten, die jetzt noch von Fahrverboten bedroht sind oder wo bereits Fahrverbote erlassen wurden, die Werte hoch und runter springen, obwohl die Anzahl der Fahrzeuge, insbesondere Diesel-Fahrzeuge, die unterwegs sind, so stark zurückgegangen ist. Fahrverbote auf der Grundlage solcher fragwürdiger bisher ermittelter Werte zu erlassen, das darf wirklich nicht sein. Meines Erachtens haben sich Fahrverbote wegen Diesel erledigt."
Das sieht Baden-Württembergs grüner Verkehrsminister Winfried Hermann völlig anders. Man müsse die Werte über das ganze Jahr anschauen und könne nicht mit Ausschnitten argumentieren. Es sei wissenschaftlich belegt, dass der Verkehr und vor allem Dieselfahrzeuge für die Stickoxidwerte verantwortlichen sei: "Klar ist, wenn die Luft steht, reichert es sich an und dass es nachts Spitzenwerte geben kann, das kann man so erklären."
Viele Faktoren spielten eben eine Rolle, das habe man immer betont, so Hermann. Aktuell seien es viele Sonnentage, die es so um diese Zeit noch nie gegeben habe: "Viel Sonne führt zu einem weiteren Geschehen, da entsteht Ozon. Und mit dem Ozon entstehen zusätzliche Stickoxide. So dass also schönes Wetter und keine Luftbewegung bedeuten kann, dass es zu einer Anreicherung von Stickoxiden kommt, wenn aber gleichzeitig viel Wind ist, dann weniger. Trotzdem bleibt es: die Ursache sind die Dieselmotoren."
Ministerium bittet Gericht um Atempause
Ab 1. Juli sollte in der Landeshauptstadt für Euro-5-Diesel Fahrzeuge ein zonales Fahrverbot gelten. Ein entsprechendes Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart zwingt die Landesregierung zur Umsetzung, außer die Stickstoffdioxid-Grenzwerte können eingehalten werden. Die Werte haben sich um bis zu zehn Mikrogramm verbessert, so Minister Hermann. Doch er bittet die Deutsche Umwelthilfe als Klägerin und das Verwaltungsgericht um eine Atempause:
"Tatsache ist, dass im Moment vieles nicht kalkulierbar ist und das Gericht ist jetzt in der schwierigen Situation, dass auf der Grundlage von früheren Zahlen und Daten, in völligen anderen Zeiten, ein rechtskräftiger Gerichtsbeschluss vorliegt. Dieser Beschluss wird nun durch das Corona-bedingte Geschehen völlig überholt."
Noch ist offen, wie das Verwaltungsgericht Stuttgart mit der neu entstandenen Situation umgehen wird. Ursprünglich war mit einer Entscheidung in diesem Monat gerechnet worden.