Wenn man in der Landkarte von Tennessee einen Ort namens "Hohenwald" sieht, dann ist die Neugier schon geweckt. Hohenwald liegt gerademal 80 Meilen südwestlich von Nashville, der sogenannten "Music-City-USA". "Hohenwald", das klingt deutsch. Frei nach dem etwas abgewandelten Sprichwort "Wer fragt, gewinnt" haben wir beim Bürgermeister von Hohenwald angefragt und wurden überaus freundlich in den alten historischen Bahnhof eingeladen. Der Bahnhof der ehemaligen Nashville Chattanooga & St. Louis Railway hat heute keine Gleisverbindung mehr, aber er ist in einem wunderbar restaurierten Zustand. Er ist, wie wir bald erfahren, genau der Ort, wo die meisten der Einwanderer eintrafen, quasi ein Dreh- und Angelpunkt des Schicksals. Wir haben rund um einen gemütlichen Tisch im alten Wartesaal Platz genommen und Kenneth Kistler beginn zu erzählen:
"Hohenwald wurde 1895 als 'New Switzerland' gegründet. Das New Switzerland wurde im Mittleren Westen angepriesen und für sein angenehmes Klima gerühmt. Sie kamen zu Hunderten. Diese Werbeaktion wurde damals von der Swiss Society Pioneer Union, Milwaukee, Wisconsin, betrieben."
Die Großmutter war aus der Schweiz nach Minnesota eingewandert
Kenneth Kistler ist ein wirklich rüstiger 90-jähriger, dessen Vorfahren, wie wir ahnen, aus der Schweiz stammen. Mit hellwachen Augen stellt er uns seinen Neffen Tommy Haskins vor, der nahtlos die Einwanderungsgeschichte von Hohenwald weiter erzählt:
"Es war wohl mehr wie der 'Wilde Westen'. Etliche von den Siedlern, die mit dem Zug hier ankamen, stiegen sofort wieder in ein. Für die Häuser und Felder musste zuerst der Wald gerodet werden, der Boden war sehr steinig und silikathaltig. Das machte das Pflügen sehr schweißtreibend und das war einer der Gründe, warum Landwirtschaft hier nicht einfach war."
Die Großmutter von Kenneth Kistler war aus der Schweiz zunächst nach Minnesota eingewandert. Sie gehörte zu einer der Familien, die der Werbeaktion der Swiss Society Pioneer Union folgten.
"Sie nähte das Geld in den Saum ihres Petticoats. Dann stieg sie in den Zug in Brownsvalley, Minnesota. Der Zug ging dann über Milwaukee, Chicago, Louisville, Nashville hier nach Hohenwald. Als sie aus dem Zug ausstieg, blies ein kalter Wind und Schnee bedeckte den Boden. Sie schüttelte den Kopf uns sagte spontan: 'Oh mein Gott, was haben wir getan?' Meine Mutter erzählte immer, das war das Erste, was ihre Mutter sagte, als sie aus dem Zug ausstieg."
Tommy Haskins:
"Meine Großmutter erzählte, dass der Schnee in der ersten Nacht durch die Ritzen ins Schlafzimmer blies und unter ihrem Bett landete. Die Leute, die für die Swiss Colony in Hohenwald geworben haben, behaupteten: Die Rosen blühen hier das ganze Jahr". Und als sie hier ankamen, lagen 20 cm Schnee."
Am alten Eichentisch des Bahnhofs
Danny McKnight hat sich am alten Eichentisch des Bahnhofs zu uns gesellt. Er ist der Bürgermeister von Hohenwald und er erzählt uns, welche Rolle Kenneth Kistler in Hohenwald spielte, und welche Folgen das für alle hatte:
"Mr. Kistler war der Direktor an unserer Schule. Er hatte einen sehr positiven Einfluss auf mich, sehr wahrscheinlich mehr, als er je gedacht hat. Hier in Hohenwald gibt und gab es viele bemerkenswerte Persönlichkeiten, die unseren Ort sehr geprägt haben, vielleicht mehr, als sie selbst ahnen. So war das bei mir auch mit Mr. Kistler. Man muss wohl erst ein gewisses Alter erreichen, bevor einem bewusst wird, wie sehr uns diese Menschen beeinflusst haben."
Eine dieser bemerkenswerten Persönlichkeiten, die weit über die Ortsgrenze von Hohenwald bekannt waren, war beispielsweise Rod Brassfield. Er trat regelmäßig in der legendären Grand Ole Opry in Nashville auf, wovon es sogar noch eine historische Aufnahme gibt. Auf dieser Bühne der Grand Ole Opry standen neben vielen anderen Stars auch Johnny Cash oder auch Elvis Presley. Eine weitere Persönlichkeit, von der Danny McKnight erzählt, war der bekannte Schriftsteller William Gay. Mit seinem ersten Roman "The long Home" gewann er 1999 den renommierten James A. Michener Memorial Prize.
William Gay:
"My name is William Gay, we are in Hohewald, Tennessee. I am born here and graduated from highschool here, than I left and going to Navi for four years.”
Kenneth Kistler erinnert sich noch gut an William Gay, der bei ihm zur Schule ging.
Annette Peery vom Lewis County Museum, das sich direkt neben dem alten Bahnhof befindet, nimmt den Gesprächsfaden an unserem Tisch auf:
"Die Schweizer und Deutschen sind in Bezug auf Kunst und Musik sehr talentiert. Sie veranstalteten jedes Jahr das Wilhelm-Tell-Spiel. Das war eine Art Freiluft-Theater mit vielen Schauspielern. Sie hatten damals eine Blasmusikkapelle, ein Orchester und einen Chor, den sie 'Alpenrösli' nannten. Der Alpenrösli-Chor existierte auch heute noch in einer modernen Version und sie singen für uns zu verschiedenen Gelegenheiten".
"Vom Chor Alpenrösli existiert nur der Mitschnitt eines Weihnachtskonzerts", erzählt Tommy Haskins. Wir finden, dass mindestens ein Lied dieses Konzerts, vielleicht auch jetzt im Sommer zu den Einwanderungsgeschichten, die wir gehört haben, passt. Es ist das Lied mit dem "Schnee". Kenneth und Tommy sind Alpenrösli-Chormitglieder und haben sich der Pflege alten deutschsprachigen Liedguts verschrieben. Das klingt nach Oktoberfest, ein Fest, das Amerikaner quer durch die 49 Staaten mittlerweile mit großem Enthusiasmus feiern. Nicht so in Hohenwald, erzählt uns Debbie Landers, der Direktorin des Convention & Visitor Bureaus:
"Wir haben jedes Jahr das October-Heritage-Festival hier, ja! Die Besucher kommen aus der ganzen Gegend. Die meisten Leute denken, es sei ein Oktoberfest mit Bier und Brezeln, aber das ist es nicht. Unser Festival dreht sich mit den verschiedenen Feierlichkeiten, die überall im Ort stattfinden, rund um unser kulturelles Erbe."
Mit 3.000 Einwohnern ein überschaubarer Ort
Hohenwald ist mit seinen 3.000 Einwohnern ein überschaubarer Ort und eine Wanderung durch den historischen Stadtkern lohnt allemal. Ein großzügiger runder Pavillon ziert den Wilhem Tell Platz. Empfehlenswert ist auch ein Besuch in der Lewis County Library. Chrystal Nash ist die Leiterin und ihr Stolz ist ein Raum in dieser Bücherei, der ganz anders ist, als man das sonst in Büchereien findet.
"Dieser Raum hat eine einzigartige Geschichte. Es ist das Wohnzimmer des Franz Weinhappel Hauses. Franz Weinhappel kam aus Österreich und er war ein begnadeter Handwerker, der unter anderem Kutschen baute. Nachdem er gestorben war und sein Haus niedergerissen werden sollte, konnte die Lewis County Historical Society das Haus und sein Wohnzimmer retten. Wir sind sehr wahrscheinlich die einzige Bücherei in Tennessee oder sogar der Nation, die ein ganzes Zimmer als Beispiel der örtlichen Handwerkskunst in ihren Räumen beherbergt."
Eine andere, und wie wir meinen, ebenso wichtige Handwerkskunst ist die des Mannes an der Druckerpresse der örtlichen Zeitung. Welche Rolle solche Zeitungen in der Geschichte spielen, kann man an manch bekannten Blättern sehen. Kein geringerer Als Mark Twain war Journalist am Territorial Enterprise in Virginia City. In Hohenwald wird der Lewis County Herald gedruckt. Becky Jane Newbold ist die Chefin der örtlichen Zeitung und sie begleitet unseren Besuch.
"Ich glaube, für eine Kleinstadt-Zeitung hat sich nicht viel über die Jahre geändert. Wir berichten über die aktuellen Ereignisse, über Geburt und Tod, was so passiert und natürlich auch über historisches. In diesem Ort gibt es so viel soziale Wärme. Das merken wir immer wieder, wenn wir über Tragödien und Unglücke berichten müssen. Wir sind natürlich im Internet, aber unsere Papierausgabe ist immer noch da. Mein Bruder betreibt die alte Druckerpresse, die unser Vater 1978 gekauft hat. Für uns ist die Zeitung ein Familienbetrieb seit 1957 und wir setzen das Geschäft fort, das irgendwann Ende 1800 gegründet wurde. Es macht viel Freude und es ist eine Ehre."
Wir lernen bei unserem Spaziergang in Hohenwald, dass nicht nur Schweizer, Österreicher und Deutsche hier ihre neue Heimat gefunden haben. Nein, Hohenwald bietet auch diesen Herrschaften für immer ein Zuhause. Sollte man bei diesem Geräusch den Ohren nicht getraut haben, das sind tatsächlich Elefanten. Sie leben hier in Hohenwald im Elephant Sanctuary. Das ist ein elf Quadratkilometer großes Habitat, das von einer "Non-Profit-Organisation" betrieben wird und das größte seiner Art in Nord-Amerika ist. Den Elefanten wird hier nach ihrem, wenn man das so sagen darf, Berufsleben in einem Zirkus, Zoo oder auch privatem Besitz ein Zuhause für den Rest ihres Lebens mit aller Fürsorge geboten, erklärt uns Todd Montgomery und erzählt, wie die Elefanten in diesem Habitat leben:
"Sie haben die Möglichkeit, mit den anderen Elefanten zusammen zu sein, sich zu sonnen und herum zu tollen. In unserem Gelände haben wir einen See, große Tümpel und Flussläufe, in denen sie im Wasser gerne planschen. Sie haben Lehm- und Matschgruben, die wir, aber auch sie selbst gemacht haben. Wir haben ihnen einfach ein Umfeld geschaffen, das ihrem natürlichen Lebensraum möglichst nahe kommt."
Alles rund um das Hohenwalder Elefanten-Paradies
Besucher können sich in der East Mainstreet in einer sehr interessanten Ausstellung des Elephant Sanctuary über alles rund um das Hohenwalder Elefanten-Paradies informieren. Auf der Mainstreet habe man zu seiner Jugendzeit, so erzählt Kenneth, nur deutsch gesprochen. Wie das Leben hier für junge Leute war, weiß Helen Ozier:
"Hier in Hohenwald ein Teenager zu sein, das war schrecklich, weil jeder genau wußte, was Du gerade tust. Wenn Du was falsch gemacht hast, wusste es Deine Mutter, bevor Du zuhause warst. Es war absolut nicht möglich, unbeobachtet zu sein. Für eine 16- oder 17-Jährige war das fürchterlich. Du hattest hunderte von Eltern, die ihre Augen überall hatten. Aus heutiger Sicht bedeutet das, Hohenwald ist ein furchtbarer Ort, ein Teenager zu sein und es ist ein wunderbarer Ort, Kinder großzuziehen."
Das war sicher auch ein Werk von Principal Kenneth Kistler und seinem Lehrkörper an der Schule, den hier nebenbei gesagt alle "Papa Kistler" nennen. Die Wurzeln seiner Familie reichen übrigens nach Reichenburg am Zürichsee, und wer Kenneth kenngelernt hat, ahnt schon, dass er die Wurzeln seiner Familie nicht nur aus der Ferne in Tennessee studiert hat.
"1969 besuchte ich Reichenburg. Ich fand das Haus, es hatte ein 'K' an der Tür. Ich klopfte und ein kleines Mädchen öffnete mir. Das Mädchen schrie "Mamma, Mamma" und rannte ins Haus. Später fanden wir heraus, dass sie wohl dachte, ich sei ein Kisten-Macher, der möglicherweise Särge herstellt. Wir wurden dann ins Wohnzimmer eingeladen, das sich im ersten Stock befand. Wir unterhielten uns lange über die Geschichte unserer Familien. Die Berge hinter dem Haus werden sogar 'Kistler Alpen' genannt."
Wir beenden unseren Spaziergang durch Hohenwald und begeben uns wieder zum alten Bahnhof, wo für die meisten Familien im sogenannten New Switzerland alles begann und packen das Mikrofon wieder ein. Und dann erleben wir einen Teil der südstaatlichen Gastfreundlichkeit. Debbie Landers hat uns alle zum selbst zubereiteten Supper eingeladen, so nennt man hier das Abendessen und Susan Christian rundet unseren Besuch mit einem für uns sehr bekannten Dessert ab:
"Schwarzwälder Kirschtore. Das ist einer der Kuchen, die ich in meiner Bäckerei backe. Ich nehme alle typischen Zutaten, die die Deutschen in diesem Kuchen verwenden, natürlich Kirschen und frische Schlagsahne. Sie ist wunderbar."
Von Hohenwald über Köln nach Basel: Besuch im Dlf-Studio
Beim Genuss der Schwarzwälder Kirschtorte warteten Kenneth Kistler und Tommy Haskins mit einer Überraschung auf. Sie erzählten, dass sie zwei Wochen später nach Deutschland und sogar nach Köln kommen würden. Sie hätten eine Flusskreuzfahrt auf dem Rhein von Amsterdam nach Basel in die alte Heimat gebucht. Daraufhin haben Rudi und Rita Schneider die beiden spontan zu einem Besuch unseres Funkhauses eingeladen, was Kenneth und Tommy mit Freuden annahmen. Am 13 Juni war es soweit. Ihr Schiff legte beim Kölner Dom in Deutz an. Rudi Schneider holte die Gentlemen am Schiff ab und dann haben die beiden unser Funkhaus und natürlich auch genau das Studio kennengelernt, aus dem wir jetzt gerade senden. Und das sind ihre Eindrücke:
Kenneth Kistler:
"Die Exkursion durch die Studios war ein 'Augenöffner' für mich. Ich habe mein ganzes Leben lang Radio gehört. Ich hatte keine Ahnung davon, wie hoch spezialisiert Rundfunk produziert wird. Wir haben die DLF-Nachrichten unterwegs im Auto gehört und gerade hier im Sendestudio erlebt, wie hier alle sekundengenau Hand in Hand arbeiten, das ist erstaunlich."
Tommy Haskins:
"Die Größe des Studios ist unglaublich und die Ton- und Sendetechniker, denen wir während der laufenden Sendung über den Rücken schauen durften, arbeiten sehr fokussiert. Durch die Glasscheibe konnten wir Reinhard Pede, den wir vorher im Autoradio gehört hatten, beobachten, wie er die Nachrichten las, das war wunderbar."