Bosnien-Herzegowina steckt 26 Jahre nach dem Friedensabkommen von Dayton (1995) in einer tiefen Krise. Der Grund dafür sind Sezessionsbestrebungen des Landesteils Republika Srpska, die schon länger unter der Oberfläche brodeln, nun aber konkretere Formen annehmen.
Die Republika Srpska, überwiegend bewohnt von orthodoxen Serben, ist einer von zwei Landesteilen (Entitäten), in die Bosnien-Herzegowina unterteilt ist. Der zweite ist die Bosniakisch-Kroatische Föderation (hier leben mehrheitlich bosnische Muslime und kroatische Katholiken). Die drei Ethnien, die das Land bilden, sind Bosniaken, Serben und Kroaten.
Aus diesen drei Gruppen ist je ein Repräsentant Mitglied im dreiköpfigen Staatspräsidium: für die Kroaten ist es aktuell Željko Komšić (DF), für die Bosniaken Šefik Džaferović (SDA) und für die Serben Milorad Dodik (SNDS).
Konkrete Schritte zur Abspaltung eingeleitet
Letzterer ist zentraler Akteur im aktuellen Konflikt. Dodik hatte in der Vergangenheit wiederholt damit gedroht, seinen Landesteil aus dem Zentralstaat herauszulösen. Am 10. Dezember wurden nun konkrete Schritte zur Abspaltung eingeleitet - allen Warnungen der internationalen Gemeinschaft zum Trotz. Das Parlament der Republika Srpska in Banja Luka beschloss den Rückzug aus der Armee, dem Justiz- und dem Steuersystem der Zentralregierung.
Aufgrund des Friedensvertrages von Dayton, der den Krieg zwischen Serben, Kroaten und Bosniaken (1992-1995) beendete, kontrolliert ein Hoher Repräsentant formell das politische Geschehen in Bosnien-Herzegowina. Er darf unter anderem Gesetze erlassen. Dieses Amt hat im August 2021 der frühere deutsche Landwirtschaftsminister Christian Schmidt angetreten.
Warnung vor schleichender Auflösung des Staates
Er warnte im Deutschlandfunk vor der Gefahr einer „schleichenden Form von Auflösung des Staates“. Die internationale Gemeinschaft habe die Sezessionsbestrebungen lange unterschätzt, sie sei über die Jahre ermüdet.
Aktuell würden Sanktionen als Reaktion auf die Abspaltungsbemühungen intensiv diskutiert, unterstrich Schmidt. Es wäre denkbar, „dass man jede Zahlung, die an das Land oder an Betreffende geht, konditioniert, oder dass man diejenigen, die sich gegen Dayton verhalten oder eventuell auch noch in die eigene Tasche wirtschaften, mit Sanktionen belegt.“
Er habe als Hoher Repräsentant die Kompetenz, über derartige Maßnahmen zu entscheiden, führte Schmidt weiter aus. „Wenn es darum geht, den Frieden zu erhalten in dieser Region und in dem Land – das hat ja sofort Auswirkungen auf die Nachbarländer -, dann muss man alle Möglichkeiten in der Schublade und gegebenenfalls auf dem Tisch haben.“
Thielko Grieß: Wie nah befindet sich die Republika Srpska an der Sezession?
Christian Schmidt: Sie befindet sich näher an dieser Sezession. Politisch faktisch noch nicht. Ich glaube auch nicht, dass wir einen großen Plan sehen, eine große Strategie, sondern dass man mit Versuchen und der Frage, wie weit kann man gehen, sich selbst dort hineinentwickelt, und das ist die große Gefahr, eine schleichende Form von Auflösung des Staates.
"Dodik macht auch Wahlkampf"
Grieß: Dieser Parlamentsbeschluss von Ende vergangener Woche, maßgeblich vorangetrieben von Milorad Dodik, der darauf hinausläuft, wenn er umgesetzt wird, eigenständige Institutionen zu schaffen und dadurch auch das Gemeinsame zu verlassen. Ist das für Sie auch langsam eine Grenze dessen, was zulässig ist?
Schmidt: Ja. Ich kenne die Region seit vielen Jahren. Als Verteidigungs-Staatssekretär habe ich mich jahrelang hier in Bosnien, als die Bundeswehr und andere hier aktiv waren, engagiert und informiert und verhandelt. Jetzt zeigt sich, dass die Ermüdung, die die internationale Gemeinschaft in den letzten Jahren hatte – irgendwie hatte man das Gefühl, na ja, man hört nichts mehr, es ist irgendwie alles ruhig und es geht schon seine Wege und wir müssen das nur kräftig unterstützen mit Kooperation, dann läuft das.
Nein, wir haben das unterschätzt, und diese Sezessionsbestrebungen, die der übrigens in seinen frühen Jahren durchaus sehr konstruktive Milorad Dodik vorantreibt, kann man nicht sehen ohne den Blick auf den Terminkalender. Wahlen sind im nächsten Jahr in Bosnien-Herzegowina anständig und Dodik, der jetzt im Augenblick Mitglied des Staatspräsidiums ist – das ist ja das einzige Land auf der Welt, in dem der Staatspräsident aus drei Personen besteht; er vertritt den serbischen Teil -, der will hier auch Politik machen im Sinne von Wahlkampf. Ob damit auch Pfründe-sicherung und die Frage unklarer Dinge, die mit Themen wie Nepotismus und anderen Fragen zu tun haben, damit in Verbindung zu bringen sind, da will ich mich jetzt hier nicht äußern.
Grieß: Aber das Stichwort steht erst einmal im Raum, Nepotismus, Korruption, Geld in die eigene Tasche.
Schmidt: Ich habe es mit großem Interesse und Dankbarkeit zur Kenntnis genommen, dass Außenministerin Baerbock das gestern auch noch mal deutlich unterstrichen hat, dass man die Thematik des Sanktionsregimes für Dodik in Anspruch nehmen kann.
Grieß: Diesen O-Ton von Annalena Baerbock, den haben wir hier gerade unter den Fingern. Sie kennen ihn schon, aber vielleicht noch nicht alle. Hören wir kurz diesen O-Ton von Annalena Baerbock.
O-Ton Annalena Baerbock: „Die Lage in Bosnien-Herzegowina ist besorgniserregend. Abspaltungsbemühungen sind inakzeptabel. Das bedeutet für mich persönlich auch – und dafür habe ich hier am Rande auch geworben -, dass das bestehende Sanktionsregime jetzt auch genutzt werden sollte gegenüber Herrn Dodik.“
"In meiner Schublade liegen diese sogenannten 'Bonn Powers'"
Grieß: Sanktionsregime, Herr Schmidt. Was ist gemeint?
Schmidt: Sanktionsregime ist eines der Instrumente, das man haben kann. Ich bin ja, wenn Sie so wollen, derjenige, der eigentlich theoretisch über alles entscheiden kann, weil für den Übergang, der zwischenzeitlich leider schon 26 Jahre dauert, von einem Kriegszustand 1995, Srebrenica etc., hin zu einem Waffenstillstand, zur Staatsentwicklung, der die internationale Gemeinschaft, wie Sie sagen, nicht getraut hat. Nun sind das nicht prinzipiell demokratische Instrumente, die ich habe.
Es gibt aber weitere diplomatische, zum Beispiel, dass man jede Zahlung, die an das Land oder an Betreffende geht, konditioniert, oder dass man diejenigen, die sich gegen Dayton verhalten oder eventuell auch noch in die eigene Tasche wirtschaften, mit Sanktionen belegt. Das ist ein Thema, das wir sehr, sehr intensiv diskutieren und nicht nur diskutieren, und alleine aus der schnellen Reaktion von Herrn Dodik gegenüber Ministerin Baerbock kann man schon sehen, dass das Dinge sind, die durchaus Weichteile treffen.
Grieß: Sie haben ja auch die Möglichkeit, die Kompetenz, Herrn Dodik tatsächlich abzusetzen. Behalten sie sich das vor?
Schmidt: Ich habe gesagt, in meiner Schublade liegen diese sogenannten „Bonn Powers“, und ich habe den Schlüssel dazu und ich schließe gar nichts aus. Wenn es darum geht, den Frieden zu erhalten in dieser Region und in dem Land – das hat ja sofort Auswirkungen auf die Nachbarländer -, dann muss man alle Möglichkeiten in der Schublade und gegebenenfalls auf dem Tisch haben.
"Russland unterstützt die Srpska"
Grieß: Wir haben es gerade im Beitrag gehört, dass Milorad Dodik Anfang Dezember in Moskau bei Wladimir Putin im Kreml war. Er hat sich dort günstige Gaslieferpreise gesichert bis zum Frühling des nächsten Jahres und vielleicht noch das eine oder andere mehr. Das wissen wir nicht, weil nicht alles öffentlich geworden ist. Spielt Wladimir Putin sein geopolitisches Spiel inzwischen auch auf dem Balkan?
Schmidt: Wir waren nicht dabei bei dem Gespräch, das wohl sehr kurz war - es gibt auch keine Bilder -, was aber doch darauf hindeutet, dass natürlich von der Seite der Republika Srpska ein hohes Interesse gegenüber Russland besteht. Russland ist auch das Land, die Russische Föderation, was, obwohl Unterzeichnerstaat des Dayton-Friedensabkommens, gegenwärtig die Srpska unterstützt.
Erfreulich zu sagen ist allerdings, dass in der ganzen Region – und da blickt man natürlich auch auf die Republik Serbien, auf den Staat Serbien und auf die anderen Nachbarländer – erkennbar keines von diesen Ländern ein Interesse an einer Eskalation der Lage und der Krise hat. Und Energie zu verkaufen, das wissen wir ja, das ist ein Bereich, den Russland nun mit allen macht.
Grieß: Die Europäische Union hat lange Zeit eine Beitrittsperspektive offengehalten für verschiedene Länder des Balkans, die noch nicht Mitglieder der EU sind, darunter auch Bosnien-Herzegowina. Dieses Licht am Ende des Tunnels vielleicht für manche, das ist nun sehr viel weniger sichtbar geworden. In den vergangenen Monaten ist das sehr deutlich geworden, dass es diese Beitrittsperspektive vielleicht theoretisch gibt, aber ganz sicher nicht praktisch in nächster Zeit. Hat Europa damit auch seinen Einfluss verspielt?
Schmidt: Ich arbeite in meiner Funktion als Vertreter der internationalen Gemeinschaft sehr, sehr eng mit der Europäischen Union zusammen. 14 Punkte hat die EU aufgestellt als Checkliste. Wenn die erfüllt sind, dann kann man an Beitrittsverhandlungen gehen. Kein einziger von den 14 Punkten ist bisher erfüllt. Das hat auch mit der Blockade der Regierungstätigkeit, mit der Disfunktionalität zu tun, weil manche einfach nicht hingehen, Politik des leeren Stuhls betreiben oder Politik der Destruktion.
Es bleibt die Perspektive der europäischen Integration. Meine persönliche Bewertung – ich habe der EU keine Ratschläge zu geben – ist aber als jemand, der nun lange genug im europäischen politischen Bereich tätig und verantwortlich war und ist, dass wir eine gewisse Form von Zwischenschritten machen. Das hat auch Frau von der Leyen ja bereits genannt. Für die jungen Leute hier muss eigentlich eine Perspektive da sein. Das ist eigentlich das Dramatische an dieser Krise. Jeder redet irgendwie über Formen von Sezession ja oder nein und Staatsveränderung; keiner davon, dass 70 Prozent der jungen Leute hier weg wollen, weil sie keine Perspektive, keine Sicherheit sehen. Es ist eigentlich unverständlich, dass all die vielen großen Wortführer, die hier sind, nicht einen Moment sich überlegen mit der Frage, was kann ich denn für meine eigenen Leute tun, wie können sie denn hier bleiben. Wir erleben hier einen Brain drain, einen Abzug der guten Leute. Die gehen übrigens nicht nach Russland, sondern die gehen in die EU, auch nach Deutschland, sind sehr qualifizierte Kräfte, aber die fehlen hier. Das heißt, das Land ist nicht nur politisch in einer schwierigen Lage, sondern auch ökonomisch in einem Generationenabzug, der dramatisch ist.
Grieß: Ganz kurz vielleicht noch. Was erhoffen Sie sich vom US-Präsidenten? Warum erwähne ich den? Joe Biden ist ein Kenner des Balkans. In den 90er-Jahren war er häufig dort, hat auch einen großen, langen Report, einen Bericht über die Konflikte, die Krisen, die Kriege geschrieben, und jetzt ist er US-Präsident. An Sie die Frage, Herr Schmidt.
Schmidt: Hohen Respekt vor der Kenntnis von Präsident Biden. Ich habe in der Tat mit ihm in den 90er-Jahren die Möglichkeit gehabt zusammenzuarbeiten, als er Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des US-Senats war. Der Präsident kennt sich aus. Er hat ein Team um sich herum, das sich dezidiert und intensiv jetzt mit dem Westbalkan und insbesondere Bosnien-Herzegowina kümmert. Derek Chollet zu nennen, auch Gap Escobar und andere. Ich will das gar nicht vertiefen. Ich denke, dass die Amerikaner dabei sind, auch eine Strategie gemeinsam mit der EU und übrigens gemeinsam mit den Briten zu entwickeln. Die Briten haben ein außerordentlich hohes Erscheinungsprofil zwischenzeitlich hier. Sie haben einen eigenen Sonderbeauftragten nominiert, den bisherigen Vorsitzenden des Militärausschusses der NATO, General Peach, der gerade dieser Tage hier herkommt, und ich habe aus meinem Gespräch mit dem Sicherheitsberater von Präsident Biden, mit Jake Sullivan, durchaus einen sehr, sehr großen und guten Eindruck darüber, dass sich dieses Land jetzt wieder kümmert. Wir haben einige Jahre versäumt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.