Extremismus
"Hohes Niveau von Bedrohungen": Die wichtigsten Inhalte des neuen Verfassungsschutzberichts

Der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Haldenwang, hat bei der Vorstellung des aktuellen Jahresberichts seiner Behörde erklärt, er habe zur Sicherheitslage in Deutschland nicht viel Positives zu berichten. Haldenwang sprach von einem aktuell "sehr hohen" Niveau der Bedrohungen und von "komplexen Herausforderungen".

19.06.2024
    Berlin: Nancy Faeser, Bundesministerin für Inneres und Heimat, und Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), stellen bei einer Pressekonferenz den Verfassungsschutzbericht 2023 vor.
    Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts. (Kay Nietfeld/dpa)

    Die Zahl der erfassten Straftaten mit extremistischem Hintergrund stieg 2023 auf einen neuen Höchststand von 39.433. Darunter waren 2.761 Gewalttaten. Mit 25.660 wurden mit Abstand die meisten der erfassten extremistischen Straftaten der Kategorie "Politisch motivierte Kriminalität – rechts" zugeordnet.

    Rechtsextremismus

    Dem Bericht zufolge wurden Ende vergangenen Jahres rund 40.600 Personen der rechtsextremen Szene zugerechnet, knapp 2.000 mehr als im Jahr zuvor. Die klassisch rechtsextreme Szene bleibt damit die größte verfassungsfeindliche Gruppe in Deutschland.
    Der Verfassungsschutz schätzt 14.500 der 40.600 Rechtsextremisten als gewaltbereit ein (2022: 14.000 bzw. 38.800). Wörtlich heißt es im Verfassungsschutzbericht: "Rechtsextremismus ist nach wie vor die größte Gefahr für unsere freiheitliche Demokratie und die Menschen, die in ihr leben." Rechtsextreme versuchen Haldenwang zufolge, Anschluss ins bürgerliche Spektrum zu finden. Ein Beispiel dafür sei das medial vielbeachtete Treffen in Potsdam im November 2023.
    Die AfD wird vom Verfassungsschutz aktuell als Verdachtsfall beobachtet. Aus den Reihen der AfD und ihrer Nachwuchsorganisation, Junge Alternative (JA), rechnet das Bundesamt inzwischen 11.300 Mitglieder (plus 1.100) dem rechtsextremistischen Personenpotenzial zu, wobei Doppelmitgliedschaften in AfD und JA abgezogen sind.
    Die rechtsextreme NPD hat sich vor gut einem Jahr in "Die Heimat" umbenannt. Programmatisch und ideologisch bleibe sie ihren Überzeugungen treu. Verwiesen wird zum einen auf die Aufnahme zahlreicher Neonazis aus der Partei "Die Rechte", deren Niedergang sich fortgesetzt habe, und zum anderen auf die Gründung eines neuen Kreisverbands "Heimat Dortmund". Dies belege, dass auch weiter enge Kontakte ins neonazistische Spektrum bestehen. In der Auflistung der Personen mit Rechtsextremismuspotenzial innerhalb von Parteien gibt der Bericht für "Die Heimat" die Zahl 2.800 und für "Die Rechte" 300 an, was jeweils einem Rückgang entspricht.

    Linksextremismus

    Die Zahl der Linksextremen ist laut Haldenwang im vergangenen Jahr "erneut deutlich gestiegen". Das Personenpotenzial schätzt der Verfassungsschutz dem Bericht zufolge auf 37.000, 500 mehr als im Vorjahr. Mehr als jeder vierte wird als gewaltbereit eingestuft.
    Die Klimaschutz-Bewegung "Ende Gelände" hat der Verfassungsschutz neu als linksextremistischen Verdachtsfall eingestuft. Damit kann der Inlandsgeheimdienst zur Beurteilung der Aktivitäten dieser Gruppe nun auch nachrichtendienstliche Mittel nutzen.
    Von linker Seite habe vor allem die Gewalt gegen Polizisten deutlich zugenommen, so der Verfassungsschutzchef. Mit Brandanschlägen, Sachbeschädigungen und Sabotage gegen Unternehmen und kritische Infrastruktur verursachten Linksextremisten zudem jährlich Schäden in mehrstelliger Millionenhöhe.

    Auslandsbezogener Extremismus

    Im Bereich des auslandsbezogenen Extremismus gab es einen Anstieg des Personenpotenzials auf 30.650 Personen. Dazu zählen etwa Anhänger der kurdischen Arbeiterpartei PKK, die in der EU als Terrororganisation eingestuft wird.
    Die gegen Israel gerichtete Bewegung "Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen" (BDS) wird vom Bundesverfassungsschutz erstmals als extremistischer Verdachtsfall geführt. Die internationale Bewegung weise Bezüge zum säkularen palästinensischen Extremismus auf, heißt es im neuen Verfassungsschutzbericht.
    Straftaten mit einem auslandsbezogenen extremistischen Hintergrund haben laut Verfassungsschutz im Jahr 2023 ebenfalls zugenommen. Der erneut deutliche Anstieg sei vor allem mit Reaktionen auf die Terrorangriffe der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und der Gegenreaktion des israelischen Militärs im Gazastreifen zu erklären. Bei mehr als der Hälfte der insgesamt in diesem Bereich verübten Straftaten sei eine israelfeindliche beziehungsweise propalästinensische Tatmotivation zu verzeichnen.

    Islamismus

    Das Risiko dschihadistischer Anschläge ist Haldenwang zufolge seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel weiter gestiegen. Deutschland stehe im Fokus islamistischer Terrorgruppen, aber auch radikalisierte Einzeltäter stellten eine große Gefahr dar. Der Nahostkonflikt habe zudem "wie ein Brandbeschleuniger für den Antisemitismus in Deutschland" gewirkt.
    Laut Bericht ergibt sich für das Jahr 2023 ein im Vergleich zum Vorjahr annähernd gleichbleibendes Islamismuspotenzial von 27.200 Personen (2022: 27.480). Die größte Bedrohung in diesem Spektrum geht laut Verfassungsschutz derzeit von der Gruppe "Islamischer Staat Provinz Khorasan" (ISPK) aus. Der ISPK hat seinen Ursprung in Afghanistan, seine Anhängerschaft stammt überwiegend aus Zentralasien. Der ISPK habe es geschafft, sehr viele Anhänger und Mitstreiter hinter sich zu scharen, sagte Haldenwang. Die Gruppe rufe dazu auf, "große Anschläge" zu begehen. 

    "Reichsbürger“- und "Selbstverwalter"-Szene

    Der Szene der "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" gehörten zum Jahresende 2023 rund 25.000 Personen an, ebenfalls rund 2.000 mehr als im Jahr zuvor. Zehn Prozent von ihnen werden als gewaltbereit eingestuft. Insgesamt sei die Szene durch eine hohe Waffenaffinität gekennzeichnet.
    Der Verfassungsschutzbericht geht auch auf die Gruppierung um Prinz Reuß ein. Dass die Demokratie tatsächlich wehrhaft sei, zeige sich "nicht zuletzt darin, dass die Pläne von unseren Sicherheitsbehörden erfolgreich aufgedeckt wurden und sich die mutmaßlichen Drahtzieher nun gerichtlich verantworten müssen".

    Außerhalb des klassischen Extremismusspektrums

    Zur Gruppe derer, die nicht dem klassischen Extremismusspektrum zuzurechnen sind, aber dennoch in verfassungsschutzrelevanter Art und Weise gegen den Staat und seine Institutionen agieren, zählte der Verfassungsschutz rund 1.600 Personen, 200 mehr als im Jahr zuvor. Die Rede ist hier vom "Delegitimierungsspektrum".
    250 von ihnen gelten als gewaltbereit. Das sind etwas weniger als im Vorjahresbericht, was laut Inlandsgeheimdienst vor allem damit zusammenhängt, dass mit dem Ende der mit der Corona-Pandemie verbundenen Schutzmaßnahmen das zentrale Emotionalisierungs- und Mobilisierungsthema dieser Szene weggefallen ist.

    Spionage und Cyberangriffe

    "Fremde Mächte setzen ihre Nachrichtendienste umfassend ein, um so in und gegen Deutschland zu spionieren", warnen die Verfassungsschützer. Deutschland sei auch aufgrund seiner Rolle in EU, NATO und weiteren internationalen Organisationen für andere Staaten von besonderem Interesse und weiter ein zentrales Ziel politischer Spionage.
    Weiter heißt es, neben Spionage und Cyberangriffen hätten unter anderem auch Desinformation sowie unzulässige ausländische Einflussnahme und Staatsterrorismus erhebliche negative Auswirkungen für Deutschland.
    Hier können Sie den neuen Verfassungsschutzbericht lesen.
    Diese Nachricht wurde am 18.06.2024 im Programm Deutschlandfunk gesendet.